Indes zielen all diese systematischen Normverletzungen dem ersten Eindruck zum Trotz keineswegs auf einen Frevel an der Kunstgattung Oper; eher partizipieren sie an ihrem Hang zur Grenzüberschreitung, wie er historisch bereits in den irrationalen Handlungskurven etwa der chaotischen varietà-Dramaturgie des „Troubadours“ oder in den fiebernden Koloraturen der Wahnsinnsarien immanent angelegt ist. Der Untertitel „Große Oper“ für „iOPAL“ bedeutet also weit mehr als nur eine ironische Reminiszenz an die Tradition. Das wird besonders deutlich, sobald man die Doppelgestalt der vokalen Schmerzartikulation durch den Belcantogesang als Leidensausdruck des unterdrückten, verstümmelten und entrechteten Lebens und zugleich als einen diese misslungene Einrichtung des Daseins utopisch transzendierenden Lustschmerz betrachtet. Darin der Belcanto-Oper verwandt, geht es in „iOPAL“ um die großen verstörenden Augenblicke, in denen das Subjekt mit der Leiblichkeit seiner Stimme die harte Ich-Identität zivilisatorischer Selbstdisziplinierung aufbricht und sich zum reinen Selbstausdruck seiner Gefühle befreit. Die artistische Technik des verzierten Gesangs verschmilzt mit der Stimmakrobatik der Hespos’schen Sprachkompositionen. Hermeneutisches Sinnverstehen oder musikologisches Räsonnement erweisen sich da als schlechte Ratgeber. Was bleibt und in das Zentrum der Rezeption rückt, ist der weltfühlende Körper. Er wird zum Resonanzboden der szenisch-vokalen Energieabstrahlungen, wenn Yuko Kakuta mit weitgespannten Kantilenen aus dem hochgefahrenen Orchestergraben wie eine Venus aus dem Meer auftaucht oder wenn Michaela Schneider in einer bestürzenden Aktionssequenz alle Vergewaltigungen der Menschen auf sich genommen zu haben scheint und geradezu die emotionale Summe der finalen weiblichen Verzweiflungsarien in einen krampfartig zuckenden Leib, der anklagende Stimme ist, entäußert. Anna Viebrock als Regisseurin sowie Bühnen- und Kostümbildnerin hat solche dynamischen Ereigniskulminationen mit statischen Phasen kombiniert. Der leicht muffige Charme des Saals setzt sich in der Ästhetik des Bühnenraums fort, der von einem illusorischen Vexierspiegel unterteilt wird; in ihm zeigt sich gerade die Nichtidentität der Menschen mit sich selbst, ihr jeweils eigenes Anderes und Fremdes, was der Damenchor im und vor dem „Spiegel“ mit subtilen Gesten und Posen der Irritation eindringlich demonstriert. Am Ende steht mit einer ausgedehnten Jammerarie Graham F. Valentines so etwas wie die Menschwerdung des Mannes in den Armen einer Frau, die Andeutung eines möglichen Erbarmens des Menschen mit seiner Naturhaftigkeit. Hätte es nach dem überragenden Erfolg mit Luigi Nonos „Al gran sole carico d’amore“ noch eines Beweises für die enorme Leistungs- und Hingabefähigkeit des Chores der Staatsoper bedurft, so wäre er mit der ebenso feinnervigen wie elektrisierenden Interpretation der hochartifiziellen, ins Extrem physischer Grenzbereiche vorstoßenden „còrogrammi“ erbracht. Johannes Harneit und das Staatsorchester Hannover tragen engagiert ihren Anteil zu diesem faszinierenden und aufwühlenden Abenteuer zeitgenössischen Musiktheaters bei; das exponierte Material der Affektkerne wispert, keucht, schwirrt, entlädt sich blitzartig in rasenden Bläserstafetten. Christian Tepe
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