In der Nachfolge Henzes, der sich dabei nicht selten missverstanden fühlte, ist es üblich geworden, vor allem auf Adorno einzuschlagen. Denn der habe schließlich als theoretischer Wortführer der Zweiten Wiener Schule den Darmstädter Dogmatismus ideologisch verklärt, kompositorischen Technokratismus gefordert und befördert, Materialfetischismus und Prozedurengläubigkeit gepredigt. Dabei ist das genaue Gegenteil der Fall, was wieder einmal traurig bestätigt, dass Adorno sehr oft gar nicht wirklich gelesen worden war. Nimmt man indes seinen epochalen Vortrag „Vom Altern der Neuen Musik“ von 1954, so frappiert der Text stets aufs Neue, weil er eine überaus präzise, ja fast ätzend dringliche Kritik an genau den Machtverhältnissen und Tendenzen artikuliert, die ausgerechnet er – wie allzu gern behauptet wird – gepriesen haben soll: an der Verfahrensgläubigkeit, am Vertrauen in die selbstläuferhafte Wirksamkeit purer Kompositionstechniken und Strukturprinzipien, an der Institutionalisierung und Etablierung von „Schulen“ und Apparaten, am selbstzufrieden genießerischen Sichzurücklehnen in der Gewissheit, nun habe man endlich den Fortschritt „durchgesetzt“. Dialektik des DurchsetzensAdornos Dialektik des „Durchsetzens“ tangierte schon damals die Figur Pierre Boulez, der in den fünfziger und sechziger Jahren freilich noch stärker für rigorose kompositorische Autonomie stand. Bildeten Adorno und Boulez zunächst eine Art Duo, so hat sich der französische Komponist und Dirigent immer weiter von Adornos Extremposition der „Flaschenpost“-Funktion von Kunst entfernt, stattdessen als Vermittler, Macher und Manager in ganz anderer Weise radikal weitergewirkt. In vielfältiger Weise ist er zur Instanz geworden, ein Begriff, dem Adorno mit nicht unbegründetem Misstrauen begegnete. Gleichwohl gehört es zu Boulez’ Größe, dass er bei aller Integration in den internationalen Musikbetrieb der ästhetischen Reaktion genügend Absagen erteilte, sich keineswegs in postmodern gemütliche „anything goes“-Strategien einspannen ließ. Selbst wenn er eine Platte mit Werken von Frank Zappa aufnahm, hatte dies etwas Aufsässiges; zumindest entsprach dies seiner Geringschätzung etwa für Henze, dessen Opern er für weit weniger wichtig hielt im Vergleich mit dezidierter Rockmusik. Pierre Boulez, der am 26. März achtzig wurde, hat ein halbes Jahrhundert die Musik umgetrieben, in dieser oder jener Funktion und Intensität, und eines kann man ihm ganz gewiss nicht nachsagen: dass er eng und bequem sich auf nur einen Strang seines Wirkens verlegt, auf seinen Erfolgen ausgeruht habe. Weit offen nämlich ist der Fächer vom schier asketisch rigiden Konstrukteur bis zum einflussreichen Kulturmanager, ja Politiker – meist eher hinter den Kulissen. Nannte man ihn einst bewundernd-polemisch seines Radikalismus wegen „Robespierre“ Boulez, so gibt es schon lange – und beides schließt sich ja keineswegs gegenseitig aus – altlinke Kritiker, die dem Granden eher zu viel Sinn für und Nähe zur Macht attestieren. Auch dies freilich gehört zur Dialektik: Wer Ideales bewirken will, muss sich auf die Realität einlassen. Wem es dabei gelingt, ohne übermäßige Kompromisse, gar Korruption seine Ziele wie Integrität zu wahren, dem gebührt bewundernde Anerkennung. Boulez ist sie zu Recht immer wieder zuteil geworden. Fachmann und MenschWer Boulez kennt, seine Entwicklung verfolgt hat, wird stets der Janusköpfigkeit von analytischer Einsicht und élan vital gewahr werden, wie er sie, durchaus im Charakter auch einer Selbstbeschreibung im Nachruf auf den Dirigenten Hans Rosbaud, der den jungen Boulez in Donaueschingen wie Baden-Baden als Komponisten gefördert und zum Dirigieren animiert hat, formulierte: „So war die Persönlichkeit Rosbauds eingeteilt in den Habitus eines Fachmanns und den eines Menschen, dessen Bestrebungen über sein Metier hinausgreifen. Dieses flexible Gleichgewicht zwischen dem Gesicherten und dem Unwahrscheinlichen war der Grundzug seines Charakters.“ Etwas von diesem Doppelgesicht war stets bei ihm zu beobachten. Man tut Boulez kaum unrecht, ja wird sogar seinem überragenden historischen Rang gerecht, nennt man die Zeit bis in die frühen 80er-Jahre seine kompositorisch fruchtbarste. Gerade in den 50er-Jahren ist es ihm oft erregend gelungen, die Strenge der seriellen Parameter-Determination systematisch zuzuspitzen. Boulez, homme de lettres, hat immer wieder Literatur vertont, René Char wie Stéphane Mallarmé, doch kaum je danach gestrebt, Texte quasi eins zu eins kompositorisch abzubilden. Weder an deren Wortwörtlichkeit ist ihm gelegen noch an semantischen espressivo-Wirkungen. Der Rätsel-Lyriker Mallarmé wurde zum Programm, „pli selon pli“ mehr als nur Titel: Falte auf Falte sollte das Werk sich entfalten, eben nicht schematisch, sondern mobil schillernd, mit Worten weder als Bedeutungs- noch als Ausdrucksträgern. Wenn am Schluss von „Tombeau“ schaurig „La mort“ herausgehaucht wird, dann hat dies rabiaten espressivo-Charakter, doch nur gleichsam punktuell. Ähnlich wie Berlioz oder Debussy verfolgt auch Boulez eine Doppelstrategie als radikaler bisweilen sogar hybrid-utopischer Konstrukteur wahrhaft unerhörter Welten – und als Klangzauberer. Der Musikerwortspielwitz über „pli selon pli“. „L’après midi d’un vibraphone“ traf auch den genuin französischen Klangsensualismus von Boulez’ Musik. MeisterwerkeHatte Boulez im Pariser Ircam wieder zur Elektronik zurückgefunden, so bediente er sich in „Répons“ (1981) dezidiert der Live-Elektronik des Freiburger Experimentalstudios im Sinne geistfunkelnder, fast technizistisch virtuoser Scherzando-Agilität. Im übrigen liegt Boulez der Gestus des umwölkten Demiurgen ganz und gar nicht; selbst dem Begriff des autonom-integralen Werkes begegnet er mit Skepsis. Ja das Prinzip des „pli selon pli“ hat bei ihm mannigfache Weiterungen erfahren im Hinblick auf eine operationalistische Ästhetik, die „work in progress“-Idee. Ob „…explosant fixe…“, „Dérive“, „Incises“ – schon die Titel verweisen auf die Tendenz zur gleichsam fort und fort wuchernden, sich immer wieder neu materialisierenden Werk-Konzeption. Das ein für allemal abgeschlossene „Meisterwerk“ ist Boulez in den 50er- und 60er-Jahren oft genug imponierend gelungen; als alleiniges oberstes Ziel gilt es ihm schon lange nicht mehr. Um ein Genre freilich hat Boulez bislang einen Bogen gemacht: das Musiktheater. In seinem berühmt-berüchtigten Spiegel-Interview (1967) hatte er sarkastisch pointiert, der eleganteste Ausweg aus den Misslichkeiten des Opernbetriebes wäre letztlich, die Opernhäuser in die Luft zu sprengen – was nicht als ironische Pointe, sondern nur allzu bereitwillig als terroristische Aufforderung interpretiert wurde und ihm 2001 sogar noch die nächtliche Festnahme durch die Basler Polizei eintrug. An eine „Literaturoper“ hat Boulez natürlich nie gedacht, wohl aber an ein ästhetisch multiples Totaltheater. Sowohl mit Jean Genet als auch Heiner Müller hatte er Kontakte aufgenommen. In beiden Fällen hat der Tod der Autoren die Projekte zunichte werden lassen, schwerlich ganz zufällig. Ganz aufgegeben hat er die Idee nicht, auf deren Realisierung wagt er indes wohl selbst nicht mehr zu hoffen. Auf jeden Fall hat der Komponist Boulez fast vier Jahrzehnte aufregend innovativ, für die Musik der Nachkriegszeit prägend gewirkt. Virtuoses Hand-SpielIn einer Rolle allerdings gefiel er sich nie: in der des quasi messianischen Künders oder Fanatikers, zumindest Egozentrikers. Von Stockhausens Welt-beglückungs-Monomanie hat er sich schon lange distanziert, ebenso von Nonos einstigem politischen Engagement wie späterer Innenschau. Stets hat er sich lebhaft für andere Komponisten interessiert, tote wie lebende. Darin äußerte sich nicht nur die Neugier des Komponisten, der wissen will, was früher und um ihn herum komponiert wurde und wird, sondern auch Ziel wie Folge einer immer umfassenderen Dirigententätigkeit. Auch da steht Boulez für maximale Distanz zu den Typen des Hohepriesters, gar selbstberauschten Schamanen oder Pultvirtuosen. Wie nicht wenige überragende Dirigenten hatte ausgerechnet der extrem professionelle Boulez autodidaktisch begonnen. Die komplizierten Partituren der Moderne waren ihm zunächst wichtig, deren interpretatorische Vermittlung sein Streben. Dafür, ausgehend von schier vivisektorischer Analytik, hat er sich die eigenen dirigiertechnischen Mittel und Möglichkeiten geschaffen: grundsätzlich ohne Taktstock, mit staunenweckender Unabhängigkeit der Hände, mal fast roboterhaft eckig, dann wieder fließend flexibel übertrug er minutiös seine kompositorischen Einsichten und Absichten auf die Orchester. Lehnten sich die Musiker gegen ihn auf, so nicht selten aus Trotz und Frust wegen seiner unvorstellbar detaillierten Partiturkenntnis, seinem rasiermesserscharfen Gehör und der irritierenden Perfektion, mit der er gleichzeitig rechts einen Fünfer- und links einen Dreiertakt schlagen konnte. Die Aversion, ja Aggression galt der Sache, aber auch der neiderweckenden, dabei gänzlich unzirzensischen Dirigier-Souveränität. Das Standardrepertoire des achtzehnten und neunzehnten Jahrhunderts hat ihn wenig gereizt, mit Ausnahme von Berlioz und Wagner. Als Operndirigent hat er in Paris mit „Wozzeck“ debütiert, den er, gemeinsam mit Wieland Wagner, auch in Frankfurt leitete, die dreiaktige „Lulu“ folgte in Paris, „Pelléas“ dirigierte er in London und Cardiff. Dreimal hat er in Bayreuth Sensationen produziert: mit „Parsifal“, 1976 mit dem Jubiläums-„Ring“, 2004 erneut mit „Parsifal.“. Mancher hat ihm das als Zukreuzekriechen angekreidet, dabei aber übersehen, dass es ihm nie ums Renommierereignis ging, sondern ums musiktheatralische Gesamtkonzept. Regisseure wie Jean-Louis Barrault, Wieland Wagner, Patrice Chéreau, Peter Stein, beim zweiten „Parsifal“ sogar Christoph Schlingensief zeugten von seinem Interesse gerade an gemeinsamer Theaterarbeit: Schon lange stehen ihm die Spitzenorchester in Berlin, Wien, London, Amsterdam, Chicago und Cleveland zur Verfügung. Das BBC-Orchestra und die New Yorker Philharmoniker hat er sogar länger geleitet. Seine Schallplatten sind Legion. Graue EminenzVergessen darf man über den eminenten Praktiker keineswegs den Theoretiker, scharfsinnigen ästhetischen Essayisten, dem nicht nur an der Musik liegt: Seit langem feilt er an seinem Buch über Paul Klee. Darüberhinaus ist er vielfältig als Lehrer, nicht zuletzt in Basel, tätig gewesen. Seine Beziehung zu Frankreich, speziell zum Pariser Establishment ist, gelinde gesagt, gespalten. Lange lebte er im Baden-Badener Exil, wo er immer noch sein Domizil hat, nahm ausgerechnet französische Musik vornehmlich in England und Amerika auf. Erst Mitte der 70er-Jahre griff der mittlerweile weltweit Gefeierte die Pariser Avancen auf. Seine Vorstellungen gingen ins Ircam ein, an der Konzeption der Bastille-Oper hatte er Anteil, und auch an den Planungen für die Cité de la Musique wirkte er stimulierend mit. Da hat er auch kulturpolitisch viel bewirkt, galt freilich auch ein wenig als graue Eminenz innerhalb des französischen, speziell Pariser Musikbetriebes, ohne deren Einflussnahme wenig geschah. Boulez hatte bald den Ruf, souverän hinter den Kulissen die Fäden zu spinnen, die Strippen zu ziehen. Es kommt eben auch darauf an, für welche Zwecke man die einem zugewachsene Macht benützt. Doch Boulez’ Pragmatismus und Versöhnlichkeit haben ihre Grenzen. Noch 2001 geriet er in Rage über die schnöde Abservierung des Festivals von Metz. So ganz wird er seinen Frieden mit der Pariser Kulturbürokratie wohl doch nicht machen. Sein Lebenswerk ist erstaunlich, seine Vitalität, physisch wie vor allem mental, ungebrochen. Boulez achtzig: na und! Gerhard R. Koch
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