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Stabil auf Sand gebaut

Die Geschichte der Berliner Opernhäuser (Teil 1) · Von Susanne Geißler

Seit Anfang des Jahres haben sich die drei Berliner Opernhäuser zur „Stiftung Oper in Berlin“ zusammengeschlossen. Ein neuer Meilenstein in der wechselvollen Geschichte des Berliner Opernlebens, das 1742 mit der Eröffnung der Berliner Oper (heute: Staatsoper) begann. Geschichte und Geschichten der verschiedenen Häuser wollen wir in den kommenden Ausgaben von „Oper & Tanz“ beleuchten.

Das erste Haus

Mit ihrer Eröffnung im Jahre 1742 ist die Berliner Oper eine Spätgeburt. Während schon über l00 Jahre zuvor die venezianische Oper ihre Pforten gegen Eintrittsgeld für die Bewohner der Stadt öffnete und Hamburg 1678 bereits eine von bürgerlichen Schichten getragene Oper vorweisen konnte, kümmerte sich zu gleicher Zeit der Große Kurfürst vordringlich um die „stinkenden Berliner Rinnen“ (Abfallbeseitigung), die Gassen- und Feuerordnung, die Huren, die Gründung der Berliner Börse und den Ausbau der Stadt.

Sein Sohn, der erste Preußenkönig Friedrich I., war der höfischen Selbstdarstellung mittels prachtvoller Zurschaustellung durchaus zugetan. Zum Bau eines Opernhauses fehlte ihm jedoch das Geld. Sophie Charlotte, seine zweite Gattin, machte notgedrungen ihr Schloss Lietzenburg (nach ihrem Tod in Charlottenburg umbenannt) weit draußen vor den Toren Berlins zum Musenhof. Am 12. Juli 1701 ließ die Königin in ihrer kleinen Opernbaracke in Lietzenburg zu Ehren des Königsgeburtstages die Oper „La fede ne Tradimenti“ von Attilio Ariosti aufführen. Erstmals stand in Berlin kein süßliches Schäferspiel und auch kein Huldigungsballett auf dem Programm, sondern ein Drama. Mit dem Tod des Königs 1713 fand das gerade erwachende Berliner Opernleben ein jähes Ende.

Kein Musensohn

Als Friedrich Wilhelm I. den Thron bestieg, übernahm er als Erbe nicht nur die Königswürde, sondern auch eine Million Taler Staatsschulden. Angetrieben von einem eisernen Sanierungswillen und jeder Art Musik bis auf die Trommelwirbel der Militärkapelle abhold, entließ er als eine der ersten Amtshandlungen alle Mitglieder der Hofkapelle und zog damit einen Schlussstrich unter jegliche Musikförderung. Lediglich Musikus Johann Christoph Pepusch durfte bleiben und die Stelle eines Kapellmeisters beim ersten Bläserkorps des königlichen Leibregiments einnehmen. Angewidert von dem brutalen Regierungsstil seines Brotherren floh er bald nach London und wurde ein Mitbegründer der Academy of Ancient Music zur Pflege der englischen Vokalmusik. Friedrich Wilhelm ging sogar die musikalische Begleitung der Gottesdienste, die er als frommer Monarch regelmäßig besuchte, oft gegen den Strich. Dauerte ein Musikstück für seinen Geschmack zu lange, drohte er kräftig mit dem Knotenstock. Aus Furcht vor Prügeln flohen die Musikanten mitunter Hals über Kopf aus der Kirche.

Reputation durch Musik

Ein höhnisches Schicksal bescherte diesem ausschließlich an Kriegshandwerk, biederer Frömmigkeit und spartanischer Staatsführung ausgerichteten Monarchen einen überaus schöngeistigen Kronsohn und Erben, der erst in späteren Jahren in die militärischen Fußstapfen seines Vaters treten sollte. Mit brachialer Gewalt, letztlich aber erfolglos, bekämpfte der Vater die kulturellen Ambitionen seines Sohnes. Friedrich litt unter der gewalttätigen und demütigenden Erziehung, aber er erlernte das Flötespielen bei Johann Joachim Quantz und die Grundsätze des Komponierens bei Carl Heinrich Graun.

Schon als Kronprinz begriff Friedrich, dass außer militärischer Macht auch musikalisches Klima dem Preußenhof europäische Reputation verschaffen konnte. Ein Besuch am Dresdner Hof August des Starken 1728 mag diese Erkenntnis bei dem jungen Prinzen gefördert haben. Im Gegensatz zum spartanischen Berlin galt Dresden mit seiner Hofoper bereits als ein Mittelpunkt des europäischen Musiklebens.

In seiner Kronprinzenresidenz Rheinsberg scharte Friedrich eine 15-köpfige Hofkapelle um sich und holte sich 1735 Carl Heinrich Graun als Kapellmeister. Und noch eine entscheidende Künstlerpersönlichkeit zählte zu dem Rheinsberger Kreis: Georg Wenzeslaus von Knobelsdorff, zunächst Offizier, dann Maler und Architekt. Er baute für Friedrich das unansehnliche Landschloss Rheinsberg zu einem Rokokojuwel um.

Er, Graun und der Thronfolger schmiedeten bereits in Rheinsberg die Pläne für den Bau eines großen Opernhauses in Berlin. Berlin sollte zum „deutschen Athen“ werden, so schwärmte der künftige Preußenkönig und gab in seinem „Antimachiavell“ zugleich unter der Überschrift „Wie ein Fürst sich Ruhm erwirbt“ die sehr prägnante Begründung dazu: „Nichts gibt einem Reich mehr Glanz, als wenn die Künste unter seinem Schutz stehen.“ Was der Vater als überflüssige Geldverschwendung vernachlässigt, ja völlig aufgegeben hatte, wollte der Sohn als zukünftiger König mit Nachdruck in das Zentrum seiner Regentschaft stellen: Kunstförderung als Ansehenspflege, als fürstliche Selbstdarstellung, als Erhöhung der eigenen Reputation im In- und Ausland.

Eröffnung im Provisorium

Als Bauplatz für das Berliner Opernhaus war ein erst wenige Jahre zuvor zugeschütteter Festungsgraben vor dem Kronprinzenpalais gewählt worden. Der sandfeuchte Baugrund musste durch einen ganzen Wald von Eichenstämmen befestigt werden, so dass sich nach dem ersten Spatenstich am 22. Juli 1741 und der Grundsteinlegung vom 5. September rasch herausstellte, dass der Bau in der von Friedrich geforderten Zeit von zwei Monaten keineswegs zu realisieren war. Der Bau wollte nicht vorankommen. Mal mangelte es an Baumaterial, mal machte der sumpfige Baugrund Schwierigkeiten. Der Schlesische Krieg kostete viel Geld und Knobelsdorff geriet in Geldnot. Da verfügte Friedrich, den Etat von jährlich 23.000 Reichstalern, eigentlich bestimmt zur baulichen Verbesserung der neumärkischen und pommerschen Städte, einmalig dem Opernbau zuzusprechen.

Die Eröffnung des Hauses legte der König für den Dezember 1742 fest, ohne sich um den Bauzustand zu scheren. Als er sich dann am 7. Dezember mit seiner Familie, dem Hofstaat, der Generalität, ausländischen Diplomaten und eigens geladenen Gästen aus dem Bürgertum, die nur im dritten Rang Platz nehmen durften, bei lebhaftem Schneetreiben zur Einweihung in das neue Opernhaus an der Lindenallee begab, war das Theater ringsum noch eingerüstet und der vordere Teil mit Porticus und doppelläufiger Treppe noch nicht einmal im Rohbau fertig. Rings um das Haus lagerte der Bauschutt. Eine opulente Kerzenbeleuchtung und Grauns neue Oper „Cleopatra e Cesare“ mussten über die gröbsten Mängel des Provisoriums hinwegtäuschen.

Der junge König griff an diesem Tag und auch später gern in das Geschehen auf der Bühne ein. Ganz absolutistischer Herrscher bestimmte er das Repertoire, „verbesserte“ die Graun’sche Musik, indem er selbst Arien hinzukomponierte oder schrieb in den Libretti herum. Besetzungen bedurften stets seiner Billigung. Bei nicht wenigen Aufführungen saß der König hinter dem Dirigenten und schaute scharf in die Partitur.

Geniale Architektur

Das eigentliche Ereignis dieses Eröffnungsabends blieb den Zuschauern noch weitgehend verborgen und wurde erst ein Jahr später sichtbar, als am 10. Oktober 1743 nach der Vorstellung von Hasses „La Clemenza di Tito“ im nunmehr vollendeten Theater die erste Redoute stattfand: Knobelsdorffs geniale Architektur.

Im Inneren entpuppte sich das Theater als einer der ersten „Mehrzweckbauten“ der Geschichte. Hinter dem Porticus lag der Apollo-Saal, gedacht als Bankett- und Empfangssaal für König und Adel. Das Zentrum bildete der Zuschauerraum mit seinen drei Logenrängen. Der ihm angeschlossene Korinthische Saal diente während der Aufführungen als Bühne, bei den Redouten aber als Ballsaal mit Säulen und Wasserspielen. Mit einer Hebemechanik, die von Soldaten im Erdgeschoss bewegt wurde, konnte das gesamte Parkett bei gesellschaftlichen Anlässen auf die Höhe des Korinthischen Saals gehoben werden.

Opernbesuche gehörten zum höfischen Pflichtprogramm und waren ausschließlich dem Adel, seinen Gästen und Favoriten, dem gehobenen Militär und bedeutenden Reisenden vorbehalten. Sie alle waren vom König eingeladen und brauchten nichts zu bezahlen – ein gigantischer Subventionsbetrieb. Wer wo im Zuschauerraum saß, war von der Etikette genau festgelegt. Friedrich II. nahm nicht in der später so berühmten Königsloge, der Mittelloge des ersten Ranges Platz, sondern saß immer im Parkett auf den Sesseln der ersten Reihe, um das Geschehen auf der Bühne und im Orchester hautnah verfolgen zu können. Friedrich allein entschied über alle künstlerischen Belange und veranlasste mitunter despotische Entlassungen und Neuengagements. Waren die französischen Balletttänzerinnen und -tänzer nach kurzer Zeit wegen „Subordination“ kurzerhand entlassen worden, kam der Fall „Barbarina“ zu unrühmlicher Bekanntheit.

Der Fall „Barbarina“

Der Preußenkönig hatte ein Auge auf den italienischen Tanzstar Barbarina Campanini geworfen und bemühte sich um ein Engagement. Die Diva sagte erst zu, dann wegen einer Liebschaft ab. Erzürnt verlangte Friedrich von der Republik Venedig die Auslieferung der widerspenstigen Künstlerin, was die Venezianer verweigerten. Kurzerhand setzte er den zufällig durch Preußen reisenden venezianischen Gesandten am englischen Hof fest, bis Venedig die Barbarina tatsächlich auslieferte. Zwar vergoldete der Monarch die Beine der schönen Italienerin jährlich mit 12.000 Talern, verbannte sie aber 1749 nach Glogau, weil sie heimlich und gegen seinen erklärten Willen den Sohn des Großkanzlers Cocceji geheiratet hatte.

Der König als Librettist

Gespielt wurde im Dezember und Januar zweimal die Woche, außerdem am 27. März, dem Geburtstag der Mutter des Königs, sowie zu besonderen Anlässen wie Hochzeiten oder hohen Staatsbesuchen. Im Februar gehörte das Haus den Maskenbällen. Den Sommer über blieben die Tore geschlossen, denn Friedrich weilte in seiner Sommerresidenz Sanssouci in Potsdam.

Was für uns unvorstellbar ist, war damals selbstverständlich: Alljährlich fanden mehrere Ur- und Erstaufführungen statt. Wie Kinofilme waren Opern damals kurzlebige Verbrauchsware. Die wenigsten Werke überstanden eine Spielzeit. Das Publikum erwartete und erhielt ständig Novitäten, die sich inhaltlich und musikalisch jedoch nur unwesentlich von Vorangegangenem unterschieden. So ist die immense Zahl mittelmäßiger, längst vergessener Opernwerke zu erklären. Eine glanzvolle Premiere fand am 6. Januar 1755 statt. Das Trauerspiel „Montezuma“ mit der Musik des königlichen Kapellmeisters Graun und einem Text des Berliner Hofdichters Tagliazucchi stand auf dem Programm. Der besondere Reiz dieser Uraufführung war nur wenigen Eingeweihten bekannt. Der wahre Librettist war der König höchstpersönlich. Er hatte den Text in französischer Sprache verfasst und seinen Hofdichter aufgefordert, selbigen in singbare italienische Verse zu übertragen. So gewannen die Aussagen des Trauerspiels eine besondere Bedeutung, wenn etwa die Rede von der Mehrung des Wohlstands, von Pflichterfüllung und Friedfertigkeit war. Einem Freund hatte der Autor anvertraut, er wolle mit dem Stück die “Barbarei der christlichen Religion” und ihrer fanatischen Eiferer geißeln.

Mit dem Erfolg seines Stückes war der König ebenso zufrieden wie mit dem europäischen Echo auf das musikalische Leben Berlins. Lange durfte er sich der Lorbeeren nicht erfreuen, denn es ging damals wie heute: Kaum hat sich Ruhm und guter Ruf etabliert, wird er schon wieder von allerlei Neuerungen in Frage gestellt. Graun und Hasse, Hasse und Graun, das war nicht eben ein Weltrepertoire. Friedrich II. hatte sich nun mal musikalisch dem galanten, elegisch-empfindsamen Stil verschrieben und sich gänzlich auf den Typ der neapolitanischen Opera seria mit ihrer strikten Folge von Rezitativ und affektgeladenen Da capo-Arien eingeschworen. In diesem Sinne komponierte Graun sozusagen in Serie. Allein in der Zeit von 1741 bis 1756 flossen dem armen Mann 29 Opern im italienischen Stil aus der Feder. Keines der musikalisch flachen und handlungsarmen Werke überlebte den Meister.

Kein neuer Schwung

Während des Siebenjährigen Krieges (1756-63) fanden keine Opernvorstellungen mehr statt. Friedrich hatte das Haus schließen lassen, das Ensemble zerfiel, Carl Heinrich Graun starb 1759. Mit dem Kriegsende hatten sich nicht nur die politischen Konstellationen verändert. Aus dem Musensohn auf Preußens Thron war der „alte Fritz“ geworden, der resignierend feststellte: „Sieben Jahre haben die Österreicher, Russen und Franzosen mich so viel tanzen lassen, dass ich den Geschmack am Tanze auf dem Theater etwas verloren habe oder wenigstens, dass ich den Kostenaufwand dafür einschränken muss.“

Zwar war das im Krieg beschädigte Opernhaus repariert worden, es kam jedoch kein neuer Schwung in den veralteten Betrieb, da der König keinerlei Zugeständnisse an den sich verändernden Musikgeschmack mehr machen wollte. Trotz der Neuverpflichtung des Star-Kastraten Giovanni Carlo Concialini und trotz des ersten, aufsehenerregenden Engagements einer deutschen Sängerin, Elisabeth Schmehling, dümpelte die Berliner Oper kraftlos in antiquierten musikalischen Mustern vor sich hin und taugte nur noch in Klatschgeschichten als Stadtgespräch. Die in London ausgebildete und in Leipzig bereits begeistert gefeierte Schmehling war nicht nur eine hervorragende Sängerin, sondern wurde über Jahre die ungekrönte Königin der Berliner Musikszene.

Selbstbewusst und im Vertrauen auf ihre stimmlichen Qualitäten kam sie mit der festen Absicht nach Berlin, die erste deutsche Sängerin an Preußens Hofoper zu werden. Ein wahrhaft kühnes Unterfangen. Längst hatte man ihr Friedrichs Ausspruch über deutsche Sängerinnen zugetragen: „Das sollte mir noch fehlen. Lieber möchte ich mir ja von einem Pferde eine Arie vorwiehern lassen als eine Deutsche in meiner Oper als Primadonna zu haben.“ Mit Beziehungen und Geschick gelang es ihr, dem störrischen, seinen Vorurteilen ausgelieferten Herrscher einen Vorsingtermin abzuringen. Pünktlich harrte die junge Sängerin im königlichen Vorzimmer auf ihren großen Augenblick. Der König ließ endlos auf sich warten. Als er endlich erschien, richtete er nicht etwa das Wort an sie, sondern vielmehr seine Schritte zum Flügel und begann ein Spiel ohne Ende. Fräulein Schmehling focht das nicht an. Ungerührt nutzte sie die Wartezeit, um sich die Gemälde an den Wänden ausgiebig zu betrachten. Dabei „unterstand sie sich sogar, dem König den Rücken zuzukehren“, wie die „Spenersche Zeitung“ rüffelte. Friedrich entging die Unbotmäßigkeit nicht. Er unterbrach sein Spiel, und endlich durfte sie ihren Arien freien Lauf lassen. Sie sang mit Bravour und wurde vom Fleck weg engagiert, wenn auch zu einer geringeren Gage als ihre italienischen Kolleginnen und nicht in einen lebenslangen, sondern nur in einen Zweijahresvertrag.

Sinkendes Niveau

Ab 1775 übte der begabte und sensible Johann Friedrich Reichardt als Kapellmeister der Hofkapelle das höchste musikalische Amt in Preußen aus. In seinen „Briefen eines aufmerksamen Reisenden, die Musik betreffend“, seinem „Schreiben über die Berlinische Musik“, seiner Betrachtung „Über die Deutsche comische Oper“ hatte er scharfsinnige Analysen über die musikalische Situation verfasst und sich naturgemäß nicht nur Freunde gemacht. Dennoch hatte König Friedrich nichts gegen seine Bestallung einzuwenden. Er gab ihm lediglich den Rat, seinen Namen zu italienisieren. „Ricciardini“ oder „Picciadetto“ klängen doch besser.

Reichardt hatte es schwer, weil er Neues wollte, aber Altes und Verstaubtes aufführen musste. Zu den wenigen Neuerungen, die er durchsetzen konnte, gehörte es, dass er nicht mehr vom Cembalo aus, sondern mit dem Geigenbogen dirigierte. Seine vielfältigen Bemühungen, erstklassige Sänger an die Berliner Oper zu holen, scheiterten meistens an dem schlechten Ruf des Königs, dem man nachsagte, Künstler wie Soldaten zu behandeln.

Trotz Reichardts unermüdlicher Anstrengungen sank das Niveau der Bühne unaufhaltsam und mit ihm das Interesse des Königs an seinem Jugendtraum. Er besuchte 1781 das Haus zum letzten Mal. Bei seinem Tod am 17. August 1786 war das künstlerische Tief bodenlos. Das Interesse bei Adel und Hof wandte sich mehr und mehr einer bürgerlichen Theaterform zu, die sich inzwischen auch in Berlin etabliert hatte: dem Schauspiel, aus dem schließlich das Nationaltheater hervorgehen sollte.

Susanne Geißler

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