Wie schon die früheren Opern des Dirigenten und Komponisten Hans Zender – „Stephen Climax“ (Frankfurt 1986) und „Don Quijote“ (Stuttgart 1993) – erscheint auch sein drittes großes Bühnenwerk als komplexistische Arbeit. Generell ist Zender wohl damit befasst, sich ein eigenes harmonisches System zu schaffen, bei dem er die Oktave in 72 Teiltöne aufsplittet. Diese Differenzierung geht einher mit Besinnung auf strikt metrische Formen des Musizierens, wie sie von der Minimal Music her bekannt sind,die Kombination soll zu einer neuen „Polymetrik“ führen. Bei „Chief Joseph“ setzte Zender einige Kostproben dieser Schreibweise als Ausstattung der Indianersphäre ein – an Stelle von folkloristischen Zitaten. Wie in den früheren Bühnenwerken erscheint Zenders neue Partitur klar in Abschnitte gegliedert, in denen jeweils verschiedenartige Schreibweisen dominieren (die Kapellmeister-Erfahrungen sind kaum zu überhören). Ein „geschlossenes Kunstwerk“ sollte und konnte sich nicht konstituieren: Von der nicht sonderlich musikalischen Sprache des Schlagstocks bis zu ruhig ausladender Sopran-Kantilene, die nach unten und oben oszilliert, stattet ein jeweils spezifischer Ton die einzelnen Szenen aus. Die Bandbreite reicht vom bloßen Sprechen bis zum allzu harmonisch wirkenden Indianer-Männerquartett mit feinen Schlagzeugimpulsen oder zum O-Ton des Funkkontakts mit dem Piloten vor dem Abwurf der Bombe, vom Tierhornruf bis zum verbeulten Big-Band-Sound. Johannes Kalitzke animierte die Staatskapelle nach besten Kräften, um dem teilweise spröden musikalischen Material einen Zug zum großen Ganzen zu vermitteln. Auffällig tritt das Ajeng, ein traditionelles koreanisches Saiteninstrument, von der Proszeniumsloge aus in Klangaktion. Zu den eher neckischen Begleiterscheinungen der Uraufführung gehörte der Ausstattungsentwurf eines von Indianern abstammenden Künstlers: Jimmie Durham ließ die Bühne mit Baugerüsten füllen und einige Gebäudefassaden durch Plastikplanen verhängen. Riesige Werbeflächen zogen auf – für Bier, Kino, überhaupt für den American Way of Life. Ihn beschreitet ein junger Tourist auf der Suche nach Chief Josephs Grab, zeigt sich engagiert für die Rechte der Indianer und übt jene Art von Selbstkritik, die nichts kostet: „Wir haben die Natur und eine große Kultur vernichtet.“ Peter Mussbach führte Regie, ohne Distanz zu schaffen zu den Unsäglichkeiten des Librettos, insbesondere zum Hiroshima-Exkurs oder zu den Klischees von den „guten Indianern“. Jenseits der Mythen, aus denen auch diese Indianer-Oper sich nährt: Etliche Stämme in Nordamerika gehörten zu den großen Naturzerstörern. Ihre Bisons brauchten weite Flächen; also holzten sie ab (mit einer Entschuldigung vor jedem Baum, wie man sich erzählt). Die nackte Prärie war das Resultat. Der Komponist mit seinem Willen zur Menschheitsbesserung wäre gut beraten gewesen, ein anderes Sujet für seine Explikationen zu den richtigen Lebensformen zu wählen (und gäbe es noch Dramaturgie für ein solches Projekt, hätte diese frühzeitig beratend eingreifen mögen...). Wenn es in einer kleineren Spiralbewegung lediglich um kritische Blicke auf Kolonialgeschichte gegangen wäre, hätte sich vor dem Hintergrund einer geschichtslos sich ausprägenden Neuberliner Lebensform zum Beispiel ein Stück über die Massaker an den Hereros in Deutsch-Südwestafrika angeboten. Empfohlener Arbeitstitel: „Generalleutnant von Trotha“. Frieder Reininghaus
|
|||||||||||||||||||||||||||||||||||
|
|