Zur Startseite


 

 
Zur Startseite von Oper & Tanz
Aktuelles Heft
Archiv & Suche
Stellenmarkt
Oper & Tanz abonnieren
Ihr Kontakt zu Oper und Tanz
Kontakt aufnehmen
Impressum
Datenschutzerklärung

Website der VdO


Berichte

Weltmarkt des Tanzes

Ein Abend bei „Movimentos“ in Wolfsburg · Von Alexandra Karabelas

Hautfarbene, schwingende Kleider und dazu ein originell gebundener Dutt. Auch darüber sinniert man irgendwann, während man beeindruckt der Choreografie von Rodrigo Pederneiras für die erst seit fünf Jahren bestehende, fulminante Sao Paolo Companhia de Danza im Heizkraftwerk des VW-Standortes Wolfsburg folgt. Das monumentale Industriebauwerk mit seinen Mauerwänden und Stahlträgern beherbergt seit 2003 „Movimentos“. Die Festwochen der Autostadt bilden ein finanzstarkes, ehrgeiziges Festival, das für die Menschen in der Region auf dem Weltmarkt der Tanzcompagnien abgreift, was zu den Spitzenprodukten gehört. Seit 2006 agiert „Movimentos“ als Kulturfestival, das auch Jazz, Schauspiel oder die Klassik bedient. Auch hier sind es die anerkannt Besten des Kulturbetriebs, die als Zugpferde und Qualitätssiegel für das Programm dienen – in diesem Jahr unter anderem Klaus Maria Brandauer, Marco Goecke, Sophie Rois oder Elfriede Jelinek. Für Bodenhaftung sorgt die Movimentos Akademie, ein jährlich mehrere Monate dauerndes Schülerprojekt, bei dem Jugendliche in diesem Jahr unter dem Stichwort „Toleranz“ ein abendfüllendes Tanzstück erarbeiteten und aufführten. Wertvoll für die Tanzliebhaber unter den rund 30.000 Besuchern des Festivals: Man kann in kürzester Zeit unterschiedliche Ensembles mit ihrem Repertoire und ihrem Esprit erleben, die Internationalität von Tanz genießen, ohne für viel Geld um die Welt reisen zu müssen. Das erweitert den Blickwinkel und macht vor allem bei der Sao Paolo Companhia de Danza Freude. Erstmals ist das 2012 uraufgeführte „Bachiana No. 1“ zur Musik des brasilianischen Komponisten Heitor Villa-Lobos in Europa zu sehen. Pederneiras verlangt viel: eine präzise ausgeführte, schnelle Beinarbeit, mehrere gleichzeitig stattfindende Pas de deux, die virtuos synchron und asynchron geführt werden. Insgesamt wirkt die Körper- und Bewegungschoreografie durch Ausgewogenheit und raffinierte Schlichtheit. Nicht Emotionalität treibt hier die Bewegungsführung an, sondern Musikalität und das Interesse an einem harmonischen Aufbau von Bewegungen. Lockere Eleganz und authentische Sinnlichkeit entfalten sich.

Marco Goeckes „Peekaboo“. Foto: Thomas Ammerpohl

Marco Goeckes „Peekaboo“. Foto: Thomas Ammerpohl

Das hohe Niveau halten die Tänzer auch in den anderen Stücken des Abends: „Inquieto“ von Henrique Rodovalho, eine Deutschlandpremiere zu coolem Electrosound von Andre Abujama mit sukzessive über die Bühne gezogenen Schnüren, und „Peekaboo“, die einzige Weltpremiere in diesem Jahr von Marco Goecke. Lustig: Was „Inquieto“ zum Ausdruck bringen soll, kann als Inhalt für Goeckes Stück gelten: existenzielle Lebensunruhe. Benjamin Brittens „Simple Symphony“, ein finnischer Chor und das Thema Kindheit bilden den Bezugsrahmen für Goeckes signifikante und brillante Choreografie – vom Format her im Grunde ein Fragment mit episodischen Zuständen, so offen, abstrakt und abgeschlossen, aber stark wie ein Felsstück wirkt diese Schöpfung. So präzise wie vielleicht noch nie geht Goecke dabei in Korrespondenz mit der Musik. Weiterhin folgt er dabei seinen Grundinteressen: die Erforschung der Bewegungsmöglichkeiten des Körpers und damit dessen Formulierung: Rudern mit den Ellenbogen, Wedeln der Hände und der Fäuste, ruckelnde Richtungswechsel um jeweils 45 Grad, flinke, schnell geleistete Fußarbeit. Seine Körper faszinieren seit jeher, weil sie die Geworfenheit des Menschen in sein körperliches Dasein, seelische Verformungen, schließlich das Ungebärdete, das, was am Ende niemand in einem Menschen beherrschen kann, seine innere Freiheit, zum Ausdruck bringen. Erneut erlebt man frontal dem Zuschauer in die Augen sehende, atmende, schnaufende, durchhaltende, zappelnde, wie schreiende, weil verformte, aber kraftvolle Körper mit einer widerständigen, sich behauptenden Seele. Kindheit als Spielzeit und als Angstzeit – davon zeichnet Goecke in „Peekaboo“ ein eindrucksvolles Bild.

Im Vergleich dazu wirkt „Inquieto“ kühl. Die schnörkellose Bewegungssprache folgt zwar einem Mainstream, setzt aber die Idee der gleichmäßigen Folgerichtigkeit einer Bewegung um: Immer geht es hier darum zu schauen, wo die Bewegung noch hinführt. Dadurch bleibt die Bewegungsfindung durchgehend lebendig. Tiefe erhält das Stück durch den Kniff, dass durch die identischen Anfangs- und Endbilder das Kaleidoskop unzähliger Soli zwischen permanent über die Bühne gezogenen Schnüren vielseitig interpretiert werden kann. Spielt sich alles Getanzte in der Erinnerung des einen ab, der das ganze Stück hindurch regunslos am Bühnenrand steht? War das Geschehene ein Abbild einer Welt um ihn herum, der man einfach nur noch begegnen kann, indem man still stehen bleibt? War es seine Innenwelt? Ein Blick in seine Nervenbahnen? Man weiß es nicht.

Alexandra Karabelas

startseite aktuelle ausgabe archiv/suche abo-service kontakt zurück top

© by Oper & Tanz 2000 ff. webgestaltung: ConBrio Verlagsgesellschaft & Martin Hufner