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Oper, Chor und Tanz: Neues vom DVD-Markt

Alain Platel: „C(h)œurs“ – Musik von Verdi und Wagner. Chor des Teatro Real Madrid, Orchester des Teatro Real Madrid, ML: Marc Piollet, Les Ballets C de la B, (2012), DVD Teatro Real / Naxos TR 97011

Vielleicht die Aufzeichnung des Jahres – auch auf DVD bewegend: Spätestens wenn der Chor die leise Volksklage „Patria oppressa“ aus Verdis „Macbeth“ anstimmt, dabei zwei steife Kinderkörper mit gestreckten Armen über den Köpfen weiterreicht und jeder wache Zeitgenosse sofort die realen Begräbnis-Bilder von Ex-Jugoslawien über ganz Nordafrika bis Afghanistan unweigerlich assoziieren muss, spätestens da werden einem die Augen feucht.

Alain Platel: „C(h)œurs“ – Musik von Verdi und Wagner.

Alain Platel: „C(h)œurs“ – Musik von Verdi und Wagner.

Mitten in der tiefen Krise Spaniens hat der kunstpolitisch ungebrochene Intendant Gérard Mortier eine künstlerische Herausforderung produzieren lassen, jenseits allen kassenfüllenden Kultur-Konsums. Alain Platel, seine hoch expressiven fünf weiblichen und fünf männlichen Performer, der von Andrés Máspero nicht nur musikalisch, sondern auch als aktionsreicher Mitspieler und reagierender „Volkskörper“ geformte Chor und das Orchester des Teatro Real unter Marc Piollet haben zusammengewirkt. Herausgekommen ist inmitten des menschenverach-tenden Finanzhorrors unserer Tage hochkünstlerisch anklagendes, entlarvendes, anrührendes und erschütterndes Musik-Tanz-Theater – letztlich mit der Zielrichtung auf das allenthalben verlorene oder gar getötete „Cœur“, unser menschliches Herz. Pina-Bausch-Verehrer werden sofort angesprochen sein, Tanztheaterfreunde werden staunen und Opernliebhaber erleben ganz neue Innenwelten scheinbar allzubekannter (live gesungener) Chöre und (gewollt scheppernd eingespiel-ter) Opernszenen. Platel hat mit mal hermetisch wirkenden, mal durchsichtig ausgeleuchteten Plastikstreifen ein leeres Bühnengeviert abgehängt. Auf der rohen Holzbretter-Struktur des Bodens und den sechs Stufen im Hintergrund formen Platels zehn Solisten der „Ballets C de la B“ in einer komplexen Mischung aus Tanzfigur-Resten, Akrobatik, Ausdruckstanz und spastischer Körpersprache psychisch Kranker kleine Szenerien, Handlungsfetzen, Leidens- und Schreckensfiguren, zärtliche Annäherungen und Hoffnungsgesten. Eine Tänzerin richtet wiederholt gesellschaftspolitische Fragen an die Zuschauer. Nackte Tänzerkörper formen humane Skulpturen im leeren Raum. Verdis „Dies irae“ zeigt kaputte Menschen, Wagners „Wacht auf“-Chor wird zur Herausforderung ans Publikum. Aus dem „Va pensiero“-Chor wächst ein aggressives „Haka“ heraus, das an Attac- und Occupy-Demonstrationen erinnert. Verdis klagendes Vorspiel zum dritten „Traviata“-Akt mündet in Bischof Tutus „You dream, you dream dreams…“-Rede, die ein farbiger Tänzer inmitten des verstreut sitzenden Chors körperlich kommentiert, ehe plötzlich eine Chorsolistin aufsteht und mit dem „Libera me“ samt Schlusschor des Verdi-Requiems ein zentraler Gedanke Klang wird. Nachdem mehrfach offene Münder den Schrei symbolisieren, der von dieser unserer Erde aufsteigt, endet alles mit den zarten Klängen des „Traviata“-Vorspiels, zu dem der am Boden sitzende Chor seine rot eingefärbten Handflächen wie Herzen im Takt schlagen lässt – abermals Klage und auffordernde Hoffnung, dass aus den vielen Individuen doch Solidarität erwachsen kann. Eine DVD zeigt Kunst im globalen Kontext – singulär.

Erkki-Sven Tüür: „Wallenberg“. Taube, Turi, Agar, Volmer, Asszonyi, Airenne, Madiste u.a., Chor und Orchester der Estnischen Nationaloper, ML: Arvo Volmer, R: Dmitri Bertman (2007), Erpmusic/Note 1 DVD ERP 1808

So sehr sich der Musiktheaterfreund angesichts so vieler verstiegener Hirn-Musik-Uraufführungen wünscht, dass das musikalische Theater ins volle Menschenleben greift: Der Este Tüür und leider vor allem sein Librettist Lutz Hübner haben die dramatische und bewegende Lebensgeschichte Raoul Wallenbergs, der 1944/1945 etwa 120.000 Juden vor Eichmann rettete und dann im stalinistischen Terror umkam, theatralisch nicht in den Griff bekommen. Das gelingt auch der Neuinszenierung in Tallin nicht. Dennoch eine DVD für Raritätensammler.

Richard Wagner: „Rienzi, der letzte der Tribunen“. Kerl, Nylund, Jerkunica, Aldrich, Szumanski u.a., ML: Sebastian Lang-Lessing, R: Philipp Stölzl (2010), Arthaus DVD 101 521

Richard Wagner: „Rienzi, der letzte der Tribunen“.

Richard Wagner: „Rienzi, der letzte der Tribunen“.

Umjubelt und umbuht: Das Berliner Team hat Wagners Revolutionsoper ins Kostüm einer zeitgenössischen Diktatur gesteckt und auch Anspielungen auf die „Riefenstahl-Ästhetik“ nicht gescheut. Leider nicht so konsequent, dass daraus ein „Wurf“ entstanden ist. Das Werk harrt also noch über etliche gelungene Szenen hinaus einer konsequenten Neuinterpretation.

Giacomo Puccini: „La Bohème“. Torre, Solberg, Rowley, Ladjuk, Sagbråten u.a., Chor und Orches-ter der Nationaloper Oslo, ML: Eivind Gullberg Jensen, R: Stefan Herheim (2012), Electric Picture/Naxos DVD EPC 01

Puccinis Pariser „Bohème“-Clique ist fast zu bekannt und Mimis Tod ein geradezu süffig konsumierbarer Schock. Interpretierende Köpfe wie das „Herheim-Team“ lässt so etwas nicht ruhen – und so fordert es alle „Puccinisten“ heraus: Dirigentenauftritt, Beifall, Stille – und im Dunkel plötzlich der Herzton eines EKG, der auch als grüne Leuchtspur durchs Dunkel läuft. Dann wird es hell – auf der Intensivstation eines Krankenhauses, in dem Mimi wenig später stirbt. Rodolfo erlebt dies und die Re-animationsversuche mit allen hysterischen Reaktionen eines Bohèmien auf das irreversible Faktum „Tod“. Dieser Schock löst in ihm Verdrängung und künstlerische Verarbeitung als „Drama“ aus: Ausstatterin Heike Scheele zaubert wieder einmal, und das Sterbezimmer verwandelt sich ins Dachatelier der Clique. Doch Mimi ist ja schon krank zum Tode – und das große Liebesduett führt wie eines jener Erinnerungsgespräche mit Kranken zurück ins Sterbezimmer… und wenn die von der Chemotherapie kahlköpfige Mimi noch einmal die Strahlen der Sonne beschwört, dann treibt das selbst „konservativen“ Puccini-Kennern Tränen in die Augen – es wird ja auch noch vokal glänzend und emotional aufgeladen gesungen. Diese herausfordernde Neudeutung, deren Bilderwelt aus Rodolfos poetischer Imagination beschworen, aber immer wieder von Krankenbett und Tod (auch als Benoit, Alcindoro, Torwächter) durchzogen wird, fasziniert dramaturgisch: Bravo Herheim und Alexander Meier-Dörzenbach! So sehr die historisierend genauen Deutungen eines Zeffirelli oder Schenk ihre Berechtigung haben: Dies ist eine „Bohème“ für Musiktheaterfreunde des 21. Jahrhunderts.

Wolf-Dieter Peter

 

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