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Berichte

Sire, geben Sie Gedankenfreiheit

Ein Theater-Projekt von Landesjugendorchester NRW und Zukunft Kultur

Nottuln/Westfalen, im August. – Alle nennen ihn hier Mo. Klarname Mohammed. Wie Mohammad, den es hier auch noch gibt, kommt Mo aus Syrien, wo er eigentlich gut und gerne gelebt hat. So lange, bis es nicht mehr ging. Dann mussten die Alfayads weg. Drei Jahre ist das jetzt her. Mo ist 14, als er einen Bus besteigt, der ihn in den Libanon bringt. Von dort geht es auf ein Schlauchboot. Ziel: die türkische Küste. Ticketpreis: 3.000 Euro. Ja, sagt der sympathische, erstaunlich erwachsen wirkende Junge, er wisse, dass das kriminelle Fluchthelfer gewesen seien. Nur, was hätte er machen sollen? „Wäre ich geblieben, wäre ich heute tot.“ Wie die Familie die horrende Summe aufgebracht hat? – „Wir waren reich.“

Erfolgsgeschichte

Zum Interview kommt Mo im Auftrittskostüm mit fertiger Maske. Nur die Steppschuhe fehlen noch. Gleich wird er mit fünf anderen Syrern übers Parkett einer Nottulner Schulturnhalle klackern, die man mit zwei, drei Kunstgriffen in eine Opernbühne verwandelt hat. Rechts ein Holz-Panzer in Lauer-Position, dahinter, überlebensgroß, ein Holz-Bambi mit Rehaugen, die uns ab und an zublinzeln. Zwei ziemlich konträre Requisiten, die für Bühnenbildnerin Birgit Angele ein „Bild unserer Zeit“ liefern. Gut und Böse ganz nah beieinander. So ähnlich jedenfalls.

Mohammed Alfayad (2.v.li.) in „Don Carlos – corridors of power“. Foto: Michael Zerban

Mohammed Alfayad (2.v.li.) in „Don Carlos – corridors of power“. Foto: Michael Zerban

Gleich soll’s losgehen. Alles fiebert an diesem Samstagabend der Generalprobe eines Theaterprojekts entgegen, das sich einer Kooperation verdankt, wie es sie nicht alle Tage gibt. Hier das 60 Mitglieder starke Landesjugendorchester NRW unter seinem künstlerischen Leiter Sebastian Tewinkel, dort die Mitglieder eines Vereins, dessen Vereinsziele nur auf den ersten Blick mit viel Luft unter den Flügeln daherkommen: Völkerverständigung, Integration durch Kunst und Kultur. Sagen das nicht alle? Kann schon sein, nur dass Cornelia Lanz, Gründungsvorsitzende vom Verein Zukunft/Kultur, den schönen Worten hat Taten folgen lassen. Noch bevor die Einwanderung aus den Bürgerkriegsländern Nordafrikas ihren bis heute viel diskutierten Höhepunkt erreicht, reagiert die ausgebildete Sängerin im Mai 2014 mit einer Vereinsgründung, an dessen kometenhafter Erfolgsgeschichte vor allem eines ablesbar ist: Genau so musste man es machen!

Authentizität

Mittlerweile kann ihre Initiative auf eine stattliche Reihe von Musiktheaterprojekten zurückblicken. „Cosí fan tutte“, „Zaide“, „Idomeneo“ hat man gemacht, danach eine „Carmen“, einen „Orfeo“, hat Württemberg rauf und runter bespielt, hat Abstecher ins Umland gemacht, nach Bayern, nach Berlin. Stets unter Beteiligung von Bürgerkriegsflüchtlingen, unter Beteiligung – das ist entschieden der Clou – der Mohammeds und Mohammads. Letztere nicht als Bittsteller, als Klientel, das wahlweise zu versorgen ist oder Sorgen macht, vielmehr als Akteure, Mitspieler.

Raymond Sepe als Don Carlos. Foto: Lars Heidrich

Raymond Sepe als Don Carlos. Foto: Lars Heidrich

Als Theatergewächs, als Bühnenprofi weiß Cornelia Lanz, worauf es ankommt, wenn man auf ein Podium tritt. Bis heute, bis zum aktuellen Don-Carlos-Projekt ist sie beeindruckt von Körperpräsenz und Körperspannung, von der Art, wie sich Mo & Co bewegen, wenn sie sich in und auf der Szene zeigen. „So was kommt uns allen zu Gute!“, sagt sie. Und obendrauf, wie das Sahne-Häubchen auf dem Kaffee, kommt ein Moment von Authentizität, wofür das moderne Regietheater oft gehörige Verrenkungen anstellen muss. Hier steht es auf zwei Beinen und wartet nur darauf, von Verdi-Regisseur Bernd Schmitt choreografiert zu werden. Im Handumdrehen wandelt sich eine Nottulner Turnhalle so in einen Bühnenraum für ein Stück um Macht und Big Data. Den Großinquisitor („Ich wusste von Anfang an alles!“) lässt Schmitt zwölffach geklont auftreten: sechs Sänger, sechs Tänzer. Letztere eben die jungen Syrer vom Verein Zukunft Kultur. Ihre Premiere hat die Inszenierung im Lüdenscheider Kulturhaus absolviert und – den Reaktionen von Kritikern und Publikum zufolge – ihre Feuertaufe bestanden.

Bretter

Damit ist die Kooperation endlich auch in Nordrhein-Westfalen angekommen, unter Mitwirkung eines nordrhein-westfälischen Klangkörpers. Dafür die Weichen richtig gestellt zu haben, ist Verdienst einer geglückten Vereinbarung zwischen Cornelia Lanz und LJO-Geschäftsführerin Agnes Rottland. Irgendwann hat man sich zusammen­gesetzt: Was kann jeder einbringen? Wovon kann jeder profitieren? Herausgekommen ist die klassische Win-Win-Situation. Was das Landesjugendorchester NRW angeht, so hat dieses nun seine allererste Opernerfahrung machen dürfen; für angehende Berufsmusiker natürlich Pflichtprogramm. Dirigent Sebastian Tewinkel strahlt. So sehr der Verdi Neuland gewesen sei – Begeisterung und Stehvermögen seiner Eleven seien phänomenal, betont er. Immerhin: Trotz entschlossener Striche der Regie kommt man immer noch locker auf zwei Stunden Spielzeit.

„Sire, geben Sie Gedankenfreiheit!“, heißt der berühmteste Satz des Schiller-Dramas um Unterdrückung, um Emanzipation. In freier Anwendung auf eine Orchester-Theater-Kooperation der Extraklasse: Lieber nicht warten, bis sie gewährt wird; lieber versuchen, sich seine Freiheit schon mal zu nehmen! Wie Mo, der mit seinen siebzehn Lenzen in einer Klasse dasteht, für die die Svens, die Jessicas aus Wuppertal und Wattenscheid, aus Köln und Krefeld noch mächtig ackern müssen. Andererseits ist das Geheimnis so geheim nun auch wieder nicht: Wer auf Brettern stehen will, muss bereit sein, sie zu bohren. Egal, wie dick sie sind.

Georg Beck

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