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Ausgabe 2000/05

Editorial

Stölzls Reformpläne für die Berliner Opernhäuser

Die Thomaner von der Bach-Zeit bis ins 19. Jahrhundert

Theaterkultur hat lange Tradition in Koblenz

Namen & Fakten

Nachrichten

„Jakob von Gunten“ in Meißen uraufgeführt

12. Tanzfest „Tanz im August“ in Berlin

„Levins Mühle“ in Leipzig

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Eine Jugend für die Musik?

Die Thomaner von der Bach-Zeit bis ins 19. Jahrhundert · Von Stefan Altner

In den Leipziger „Nützlichen Nachrichten“ von 1750 lesen wir: „Den 28. Juli nach Mittag um acht Uhr ging aus der Zeitlichkeit Herr Johann Sebastian Bach. Seiner Königlichen Majestät in Polen und Kurfürstlichen Durchlaucht zu Sachsen hochbestallter Hofcompositeur, hochfürstlich Anhaltischer, Cöthischer und hochfürstlich Sächsisch-Weißenfelsischer wirklicher Kapellmeister, wie auch Direktor der Musik und Kantor an der Thomasschule zu Leipzig. Eine übel ausgeschlagene Augenkur raubte diesen Mann der Welt, welcher sich durch seine ungemeine Kunst in der Musik einen unsterblichen Ruhm erworben hat und welcher solche Söhne hinterlässt, die gleichergestalt in der Musik berühmt sind.“ Bach „der Thomaskantor“ – diesen Beinamen hat er erst im 19. Jahrhundert im Zuge einer Vereinnahmung erhalten, die mystifizierend darin gipfelte, ihn als fünften Evangelisten zu bezeichnen. Bachs niedere Alltagsposition eines Lehrers an der Thomasschule machte es zu seiner Zeit notwendig, sich darüber hinaus zu definieren.

Vielseitiger Musiker

Neben den Pflichten als Kantor, dem Schreiben der Kirchen- und Festmusiken hatte Bach als Vater Sorge dafür zu tragen, seine Söhne, die in Leipzig zur Schule gingen (Wilhelm Friedemann, Carl Philipp Emanuel, Johann Christoph Friederich), musikalisch zu unterrichten. Viele wissen, dass Bach ein glänzender Tasten-Virtuose war, nur wenige, dass er ein herausragender Geiger war. Carl Philipp Emanuel berichtet dem Göttinger Musikhistoriker Johann Nikolaus Forkel 1775, am liebsten spiele der Vater die Bratsche. Und: „In seiner Jugend bis zum ziemlich herannahenden Alter spielte er die Violine rein und durchdringend und hielt dadurch das Orchester in einer größeren Ordnung als er mit dem Flügel (Cembalo) hätte ausrichten können.“ Eine bildhafte Beschreibung des Musikers Bach gibt sein Freund Johannes Matthias Gesner, Rektor der Thomasschule von 1730 bis 1734: „Wenn Du diesen sähest, wie er (...) nicht etwa eine Stimme nur singt (...), sondern auf alle zugleich gerichtet ist, und von 30 oder 40 Musizierenden den einen durch einen Wink, den anderen durch Aufstampfen des Fußes, den dritten mit drohendem Finger wieder in Rhythmus und Takt bringt...“ Wie heute musste ein Präfekt dem Thomaskantor bei der Probenarbeit helfen, den Orchesterpart am Flügel spielen. Der letzte Schüler Bachs, Johann Christian Kittel, berichtet: „Wenn Seb. Bach eine Kirchenmusik aufführte, so musste allemal einer von seinen fähigsten Schülern auf dem Flügel accompagnieren. (...) Man musste sich immer darauf gefasst halten, dass sich oft plötzlich Bachs Hände und Finger unter die Hände und Finger des Spielers mischten.“

     

Thomaskirchhof um 1800, Aquarell von Geißler jun.

 

Thomaskantor Johann Adam Hiller beschreibt 1793 die musikalischen Aufgaben der Thomaner, die nicht nur das Singen einschlossen: „Unter meinen 56 jungen Leuten zwischen 13 und 21 darf höchstens einer amusis sein; es befinden sich darunter mehrere Talente für das Klavier- und Orgelspiel, der eine der Schüler kann Pauke, ein anderer Baßposaune spielen; auch sind fünf gute Violinspieler da und weitere fünf bis sechs eifern ihnen nach. (...) Die Violinen sind wenigstens mit 30 Spielern besetzt, die Bratschen dreifach, die Bässe mit zwei Contreviolones, zwei Violoncellen, zwei Fagotten. Dazu kommen zwei Flöten und zwei Waldhörner, so daß sich das Personale der Instrumente wenigstens auf 23 beläuft und für den Gesang der Chöre noch immer 32 übrigbleiben.“

Fünfzig Jahre später, 1844, hat Thomaskantor Moritz Hauptmann Nöte, die von Bach vorgesehenen Instrumente zu besetzen, und ersetzte sie durch die im romantischen Orchester üblichen. „Wir haben die Passion nach dem Johannes gegeben: die ist doch auch sehr respectabel: der erste Chor, die Judenchöre, zum Beispiel‚ ‘Wäre dieser nicht ein Übeltäter‘ das ‚Kreuzige‘, dann auch mehrere Arien – einige mußte ich weglassen; die Baßarie mit der Laute macht sich sehr schön, die Lautenfigur für die Violen und Clarinette (tiefe Lage), die Viole d’amour in den Geigen – die Altarien sang Susette sehr schön; die zweite die blos mit Viola da Gamba und Baß ist, ließ ich auf dem corno inglese blasen, den bezifferten Baß für Violoncello und Violen [an Stelle der Orgel oder des Cembalos; Instrumente, die Hauptmann ablehnte]; es klang sehr schön und hat sehr gefallen, auch die Baßarie mit dem ‚Wohin‘ des Chores. Es ging alles ganz glatt weg.“ Die Musik Bachs wurde mit der Zeit zu einem Steinbruch, man nahm sich daraus, was passte, und führte sie nur bruchstückhaft auf. Heute erscheint uns dieser Instrumentenaustausch abstrus.

Unzufriedene Kantoren

Dass die sattsam bekannte Unzufriedenheit des Thomaskantors Bach mit den Leistungen der Thomaner auch bei Hauptmann anzutreffen war, zeigt seine Äußerung von 1848. Hauptmann hätte den Berliner Domchor wohl „lieber als den Thomanerchor, dort gibt es die ausgesuchtesten Stimmen, immer frische für Sopran und Alt – hier haben wir auch die verlornen durch alle vier Register durchzuschleppen, vom 12. bis ins 20. Jahr.“

Präfektenstreit

Der Kompetenzstreit zwischen Rektor und Kantor – der Rektor wollte die Schulausbildung, der Kantor seine Musik so adäquat wie möglich ausgeführt wissen – ist im berühmten „Präfektenstreit“ zwischen Johann August Ernesti und Johann Sebastian Bach nachvollziehbar. Der Präfekt Krauß bestrafte einige Choristen mit Schlägen und hatte härter als gewollt zugeschlagen. Im Ergebnis einer Beschwerde eines der Beteiligten ordnete der Rektor eine öffentlich zu vollziehende Prügelstrafe für den Präfekten an, der sich dem Vollzug der ehrenrührigen Bestrafung durch Flucht entzog. Gegen Bachs Willen besetzte der Rektor die Position mit einem Protegé, den Bach mit dem Vorwurf musikalischer Untüchtigkeit vergeblich wieder absetzen lassen wollte. Die Schulhierarchie, die dem Rektor mehr Machtbefugnis einräumte, gab hier den Ausschlag zu Ungunsten des Kantors. Bach bewohnte gemeinsam mit dem Rektor und den 54 beziehungsweise 56 Alumnen sowie den Wocheninspektoren das Thomasschulhaus, das zu Bachs Amtszeit, zwischen 1730 und 1732, erweitert wurde. Die hygienischen Bedingungen müssen zum Teil grausig gewesen sein. Von Rattenplagen und sonstigem Ungeziefer wird noch bis in das 19. Jahrhundert berichtet, so 1862: „Wirthschaftliches. Die Zahl der Ratten und Mäuse wurde in dieser Woche vermindert so weit, daß der Inspector wenigstens ruhig schlafen kann, durch Aussetzen von vergiftden Fleischstückchen während der Nacht.“ Bereits im Zuge der Errichtung eines Getränkekellers 1702 hieß es: „Weil nun Durst auszustehen (...) und unerträglich war, sich auch viele arme Kinder darunter befanden, welche keinen Zugang von Hause hatten, so musten solche offtmahls über den in denen Kammern stehenden Wasser-Krug gehen, und mit denen Ratten (welches Ungezifer damahls in entsetzlicher Menge da anzutreffen war) einerley Tranck trincken: woher es denn kam, daß offt viel und grosse Kranckheiten dadurch caussiret wurden.“

Keine Engel

Dass Thomaner nicht nur Engel waren, findet sich häufig in den städtischen Protokollbüchern der Schule, so 1723: Ihnen wurde „ihr ungebührlicher Lebenswandel und übles Bezeigen ernstlich vorgehalten, insonderheit, daß sie sich unterstanden, auf ihre Praeceptores [Lehrer] Pasquille [Schmähschriften] zu machen und dadurch gar gröblich gegen das vierte Gebot zu versündigen.“ Aus einem Inspektorenprotokoll von 1862 erfahren wir: „Der Primaner Kothe gab einem Quintaner Schmidt wegen einer geringfügigen Veranlassung am 18/5. einige Ohrfeigen, wesswegen sich letzterer bei mir beklagte, derselbe Kothe (...) erschien am Abend desselben Tages des Abends beim Gebet in einem weissen Rocke, u. zeigte eine so schlechte Haltung beim Gebete, daß er sich auch desswegen eine Rüge zuzog. (...) Den 23. Mai. Abends 8 Uhr brannte der Quartaner auf einem Blocke vor dem Fenster der 5. Etage ein dem Schiesspulver ähnliche Mischung aus Kohle, Schwefel u. Salpeter ab, sobald ich, am Fenster stehend, den Rauch gewahrte, eilte ich hinauf u. traf Gehre u. einige andere Alumnen um ihn herum stehend, er schien sich seines unvorsichtigen Gebahrens gar nicht bewusst. Ich brauche wohl nicht hinzuzufügen, daß ich seinen Pulvervorrath confiscirte.“
Über den Eintritt in den Chor im 18. Jahrhundert erfahren wir von Friedrich Rochlitz 1785: „Doles [Thomaskantor J.F. Doles] bedurfte eben eines guten Sopranisten, der ich war: da drang er auf meine Annahme, und der gelehrte, rauhe Rector, Johann Friedrich Fischer, sonst in Allem sein erklärter Gegner, gab diesmal nach, weniger ihm, als jenen Umständen. Ich aber – der noch nicht dreizehnjährige, von Natur und mehr noch von immerwährendem Stubenleben keineswegs robuste, an sorgsame, sittige, liebreiche Behandlung gewöhnte Knabe – bekam auf einem Institute, wo damals noch der crasseste Pennalismus [Drangsalierung von Neuankömmlingen] herrschte, wo die Untern den Obern ausser den Schulstunden wahrhaft als Sclaven und zu den niedrigsten Diensten, zu ganz unbedingtem Gehorsam, willkürlichen Demüthigungen und selbst Züchtigungen hingegeben waren: ich bekam das Schwierige und Lastende jenes Ungewöhnlichen und Vorzeitigen meiner Aufnahme schmerzlich genug zu empfinden.“

Starke Belastungen

Rektor Rost beschreibt 1810 den Kräfteverschleiß der Thomaner: „Nicht wenige treffliche Schüler sind durch allzu große Anstrengung (...) an Schwindsucht oder anderen Krankheiten elend zugrundegegangen (...), durch fortwährende Beschäftigung mit der Musik von wissenschaftlichen Studien abgehalten (...). Wenn junge Leute, meistenteils noch Knaben, zuweilen in der strengsten Winterkälte, ohne etwas im Leibe und nicht viel auf dem Leibe zu haben, oft an ein und demselben Tage in aller Frühe auf den entfernten Begräbnisplatz laufen und an den Gräbern singen, dann zu dem Frühgottesdienst in die kalten Stadtkirchen zurückeilen, von da in die Universitätskirche, schließlich zum Mittagsgottesdienste, dann zur Vesper sich einfinden, nach deren Beendigung zur Kurrende und aufs neue zu den Leichen und endlich wieder ins Konzert bis auf den späten Abend gehen müssen –, so frage ich, ob ihnen das nicht schaden soll. (...) Die Eltern übergeben ihre Kinder nicht unserer Willkür, sondern unserer väterlichen und vernünftigen Fürsorge. (...) Unsere Schüler werden dereinst unsere Richter sein.“

Den Thomanern wurden zahlreiche Aufgaben als Dienstleister im Stadtleben übertragen, um den Gelderwerb für die Thomasschule zu sichern: so sangen sie beispielsweise zu Begräbnissen. In der Schulordnung von 1723 steht: „Die Schüler haben in ehrbarem schwarzem Rock und Mantel zu gehen. Bei Leichenbegängnissen ist diese Tracht unerläßlich. (...) und beim Gesang eine richtige ‚Consonanz beobachten‘.“ Damals trugen die Alumnen schwarze Mäntel, eine Perücke, Dreispitz und eine schwarze Halsbinde. Die Perücke wurde 1793 verboten, die Mäntel durften nur noch im Dienst getragen werden. Erst 1837 fielen die dreihundert Jahre lang üblich gewesenen Singumgänge – die Kurrende – und das Büchsentragen weg. Der Ausfall an Einkünften sollte durch zwei jährliche Konzerte wettgemacht werden. Zehn Jahre später, am 1. März 1847, wurden die Mäntel feierlich zu Grabe getragen und verbrannt; die Asche ist in einer Flasche sorgfältig gesammelt und noch viele Jahre lang als kostbare Reliquie aufbewahrt worden. Kaum war das erreicht, erhoben die Alumnen die neue Forderung, auch den Frack und den hohen Hut abzuschaffen. Sie träumten von hellfarbigen Röcken und bunten Mützen. Das Singen bei Beerdigungen und Hochzeiten blieb noch bis 1876 bestehen. Ein Amt, das stets ein Thomaner innehatte, das Amt des Leichenfamulus, wurde nicht mehr benötigt und abgeschafft.
Damit soll die kleine Zeitreise beendet sein. Wenn sich das Vorgestellte wie eine „Chronique scandaleuse“ liest, darf nicht vergessen werden, dass die Thomaner und ihre Kantoren trotz aller Widrigkeiten eine in der Musik begründete Lebensgemeinschaft führten, die sie durch den Alltag trug und von der viel Großartiges und Bewundernswertes ausging. Mehr als ein Anriss konnte nicht gegeben werden, eher eine Anregung, sich mit der sozialen, historischen Umwelt, in der Musik entsteht, näher zu beschäftigen.
Aus den „Leipziger Blättern“ (Nr. 36)

Stefan Altner

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