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Ausgabe 2000/05

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Kein kulinarisches Vergnügen

„Jakob von Gunten“ in Meißen uraufgeführt · Von Peter Zacher

Auch ohne prophetische Gabe kann man voraussagen, dass Benjamin Schweitzers Kammeroper „Jakob von Gunten“ in den nächsten Jahren kaum die großen Bühnen erobern wird. Das liegt nur zum Teil an der Trägheit des Opernbetriebs oder der Verweigerung des konventionell orientierten Publikums. Zum anderen Teil ist es dem Werk geschuldet, das nur ein Minimum an theatraler Aktion aufweist. Das ist kein Werturteil. Werke wie Bartóks „Herzog Blaubarts Burg“ oder Udo Zimmermanns „Weiße Rose“ sind Ausweis dafür, dass sich auch Opern mit geringem Bühnengeschehen ihren Platz im Spielplan erobern können. Sie haben aber stets nur eine Aktionsebene, sind gewissermaßen eindimensional. Schweitzer, der wohl möglichst viel von Robert Walsers Romantext einbringen wollte, lässt das Geschehen oft auf mehreren Ebenen gleichzeitig ablaufen.

   

„Jakob von Gunten“. Foto: M. Creutziger

 

Er schichtet diese Abläufe übereinander, lässt die Titelfigur singen, deren anderes Ich sprechen und dazu die anderen Zöglinge der Dienerschule ihren Part abarbeiten. Dadurch geht die Verstehbarkeit der Texte verloren, die im Übrigen dank sauberer Artikulation und der meist sparsamen Instrumentierung ausgezeichnet zu verfolgen sind. Die Überlagerungen machen zum Glück nicht den Hauptteil des Werks aus, irritieren aber doch. Die großen Textmengen des Sprechers stellen einen Handlungsersatz dar; Schweitzer sollte den Mut haben, diesen Part zu kürzen oder kürzen zu lassen.

Hinzu kommt, dass sich wesentliche Handlungsabläufe nicht im sichtbaren Bereich, sondern in der Psyche Jakobs abspielen. Die Textvorlage Walsers ist ein Entwicklungsroman, wenngleich nicht im Stil dieses Genres im 19. Jahrhundert. Die inneren Veränderungen einer Figur werden verdeutlicht, aber es ist keine Veränderung von der Art eines Wachstums zu einem bestimmten Ziel hin. Eher vervielfachen sich Jakobs Fragen, ohne dass er eine schlüssige Antwort findet. Auch der Zuschauer bleibt ohne Antwort, aber er kann den Gewinn an neuen, auch für ihn ungewohnten Fragen auf der Habenseite buchen.

Die Oper ist geradezu eine Herausforderung zur Selbstreflexion, auch zur quälerischen. Schweitzer geht da nicht über Walser hinaus, stellt sich vielmehr unter dessen Diktion, wird zum Interpreten des Romanciers. Die Musik ist von reizvoller und provokanter Sprödigkeit. Die Passagen sind ungewöhnlich kurz, wirken aber seltsamerweise nicht kurzatmig. Man hatte oft den Eindruck, Stenogramme größerer musikalischer Komplexe zu hören, die man sich in der Fantasie auf ihre Langform hin „zurecht hören“ musste. Das ist ein anstrengender Vorgang, zumal Schweitzer das Orchester nicht begleiten lässt. Man kann den Orchesterpart als einen beständigen psychischen Erregungszustand deuten, als das Unterschwellige als Pendant zum Sichtbaren und zum Gesagten.

Nur einmal wird dieses Prinzip kurz durchbrochen, wenn es zur einzigen Umarmung von Jakob und Lisa kommt. Sonst laufen auf der Bühne und im Graben Vorgänge ab, die nicht miteinander zur Deckung zu bringen sind. Der Schichtung der Handlung entspricht die musikalische Schichtung nach dem Prinzip der Gleichzeitigkeit von Vorgängen. Musikalisch vollzieht sich das aber weit stärker verknappt als im Text, so dass sich Musik und Text in ihrer gestischen Haltung stark voneinander unterscheiden.
Die Partien der Sänger sind anspruchsvoll, technisch aber konventionell. Die singenden Figuren der Handlung brauchen kein Spezialstudium für ungewöhnliche Artikulationstypen zu absolvieren, aber sie müssen über die Kraft zur Gestaltung kurzer rezitativischer Floskeln und über fließendes Parlando verfügen. Ob alle Passagen notengetreu gesungen wurden, darf gehofft werden. Sicher bin ich dessen jedoch nicht. Und wenn das eine oder andere von der Notierung abwich, ist das in diesem Fall verzeihlich.

Andreas Baumanns Inszenierung wertet die Bühne auf. Dargestellt wird, was überhaupt darstellbar ist. Das ist manchmal ein bisschen zu viel, weil zu den mehreren Ebenen Schweitzers noch die zusätzlichen der Handlung kommen. Die geringe Größe der Meißner Bühne sorgt ohnehin schon für eine Intensivierung der konzentrativen Spannung. Sicher sind die Hauptpersonen geführt, die darstellerisch und sängerisch keinen Makel erkennen ließen: Herman Wallén (Jakob), Annekatrin Laabs (Lisa), Peter Lobert (Benjamenta), Thorsten Coers (Johann), Florian Hartfiel (Kraus). Titus Engel hat das Orchester sicher durch alle Fährnisse geleitet. Und darüber hinaus muss allen Beteiligten, nicht nur denen auf der Bühne, das Lob ausgesprochen werden, das beinahe Unmögliche in höchst achtbarer Qualität abgeliefert zu haben.

Ob Oper vom Kopf allein leben kann und nicht auch den Bauch braucht, ist mehr denn je eine entscheidende Frage. „Jakob von Gunten“ ist, so anstrengend es auch für die Hörer sein mag, ein intellektuell genussvolles Ereignis. Ein kulinarisches Vergnügen ist es sicherlich nicht. Es wäre aber verwunderlich, wenn Benjamin Schweitzer es anders gewollt hätte.

Peter Zacher

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