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Kein kulinarisches Vergnügen
Jakob von Gunten in Meißen uraufgeführt
· Von Peter Zacher
Auch ohne prophetische Gabe kann man voraussagen, dass Benjamin
Schweitzers Kammeroper Jakob von Gunten in den nächsten
Jahren kaum die großen Bühnen erobern wird. Das liegt
nur zum Teil an der Trägheit des Opernbetriebs oder der Verweigerung
des konventionell orientierten Publikums. Zum anderen Teil ist es
dem Werk geschuldet, das nur ein Minimum an theatraler Aktion aufweist.
Das ist kein Werturteil. Werke wie Bartóks Herzog Blaubarts
Burg oder Udo Zimmermanns Weiße Rose sind
Ausweis dafür, dass sich auch Opern mit geringem Bühnengeschehen
ihren Platz im Spielplan erobern können. Sie haben aber stets
nur eine Aktionsebene, sind gewissermaßen eindimensional.
Schweitzer, der wohl möglichst viel von Robert Walsers Romantext
einbringen wollte, lässt das Geschehen oft auf mehreren Ebenen
gleichzeitig ablaufen.
Er schichtet diese Abläufe übereinander, lässt die
Titelfigur singen, deren anderes Ich sprechen und dazu die anderen
Zöglinge der Dienerschule ihren Part abarbeiten. Dadurch geht
die Verstehbarkeit der Texte verloren, die im Übrigen dank
sauberer Artikulation und der meist sparsamen Instrumentierung ausgezeichnet
zu verfolgen sind. Die Überlagerungen machen zum Glück
nicht den Hauptteil des Werks aus, irritieren aber doch. Die großen
Textmengen des Sprechers stellen einen Handlungsersatz dar; Schweitzer
sollte den Mut haben, diesen Part zu kürzen oder kürzen
zu lassen.
Hinzu kommt, dass sich wesentliche Handlungsabläufe nicht
im sichtbaren Bereich, sondern in der Psyche Jakobs abspielen. Die
Textvorlage Walsers ist ein Entwicklungsroman, wenngleich nicht
im Stil dieses Genres im 19. Jahrhundert. Die inneren Veränderungen
einer Figur werden verdeutlicht, aber es ist keine Veränderung
von der Art eines Wachstums zu einem bestimmten Ziel hin. Eher vervielfachen
sich Jakobs Fragen, ohne dass er eine schlüssige Antwort findet.
Auch der Zuschauer bleibt ohne Antwort, aber er kann den Gewinn
an neuen, auch für ihn ungewohnten Fragen auf der Habenseite
buchen.
Die Oper ist geradezu eine Herausforderung zur Selbstreflexion,
auch zur quälerischen. Schweitzer geht da nicht über Walser
hinaus, stellt sich vielmehr unter dessen Diktion, wird zum Interpreten
des Romanciers. Die Musik ist von reizvoller und provokanter Sprödigkeit.
Die Passagen sind ungewöhnlich kurz, wirken aber seltsamerweise
nicht kurzatmig. Man hatte oft den Eindruck, Stenogramme größerer
musikalischer Komplexe zu hören, die man sich in der Fantasie
auf ihre Langform hin zurecht hören musste. Das
ist ein anstrengender Vorgang, zumal Schweitzer das Orchester nicht
begleiten lässt. Man kann den Orchesterpart als einen beständigen
psychischen Erregungszustand deuten, als das Unterschwellige als
Pendant zum Sichtbaren und zum Gesagten.
Nur einmal wird dieses Prinzip kurz durchbrochen, wenn es zur einzigen
Umarmung von Jakob und Lisa kommt. Sonst laufen auf der Bühne
und im Graben Vorgänge ab, die nicht miteinander zur Deckung
zu bringen sind. Der Schichtung der Handlung entspricht die musikalische
Schichtung nach dem Prinzip der Gleichzeitigkeit von Vorgängen.
Musikalisch vollzieht sich das aber weit stärker verknappt
als im Text, so dass sich Musik und Text in ihrer gestischen Haltung
stark voneinander unterscheiden.
Die Partien der Sänger sind anspruchsvoll, technisch aber konventionell.
Die singenden Figuren der Handlung brauchen kein Spezialstudium
für ungewöhnliche Artikulationstypen zu absolvieren, aber
sie müssen über die Kraft zur Gestaltung kurzer rezitativischer
Floskeln und über fließendes Parlando verfügen.
Ob alle Passagen notengetreu gesungen wurden, darf gehofft werden.
Sicher bin ich dessen jedoch nicht. Und wenn das eine oder andere
von der Notierung abwich, ist das in diesem Fall verzeihlich.
Andreas Baumanns Inszenierung wertet die Bühne auf. Dargestellt
wird, was überhaupt darstellbar ist. Das ist manchmal ein bisschen
zu viel, weil zu den mehreren Ebenen Schweitzers noch die zusätzlichen
der Handlung kommen. Die geringe Größe der Meißner
Bühne sorgt ohnehin schon für eine Intensivierung der
konzentrativen Spannung. Sicher sind die Hauptpersonen geführt,
die darstellerisch und sängerisch keinen Makel erkennen ließen:
Herman Wallén (Jakob), Annekatrin Laabs (Lisa), Peter Lobert
(Benjamenta), Thorsten Coers (Johann), Florian Hartfiel (Kraus).
Titus Engel hat das Orchester sicher durch alle Fährnisse geleitet.
Und darüber hinaus muss allen Beteiligten, nicht nur denen
auf der Bühne, das Lob ausgesprochen werden, das beinahe Unmögliche
in höchst achtbarer Qualität abgeliefert zu haben.
Ob Oper vom Kopf allein leben kann und nicht auch den Bauch braucht,
ist mehr denn je eine entscheidende Frage. Jakob von Gunten
ist, so anstrengend es auch für die Hörer sein mag, ein
intellektuell genussvolles Ereignis. Ein kulinarisches Vergnügen
ist es sicherlich nicht. Es wäre aber verwunderlich, wenn Benjamin
Schweitzer es anders gewollt hätte.
Peter
Zacher
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