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Tendenz zum Konkreten
12. Tanzfest Tanz im August in Berlin · Von
Frank Kämpfer
Körper, einander ähnlich und fremd. Mann und Frau, Tänzer
und Tänzerin. Gesperrt ins enge Bühnengeviert, das Käfig,
Welt oder Dasein darstellt, kommen sie einander unweigerlich nah.
Gustavo Lesgart und Inés Sanguinetti aus Buenos Aires rühren
in ihrem selbstchoreografierten Duo Hondo an Existenzielles.
Vier Szenen skizzieren die Begegnung der Geschlechter als Kampf,
Berührung, Resignation und schließlich Mord. Junge Künstler
reflektieren die Erfahrung politischer Diktatur. Unvermittelt verschiebt
sich der Blickwinkel, kippt die Spielebene um neunzig Grad. Die
utopische Szene des Stücks, die der Liebesbegegnung der Körper,
tanzen die zwei Argentinier die Vertikale hinauf. Die Wand wird
dem Betrachter zum Boden, und aus so verfremdeter Sicht erwächst
die provozierende Botschaft des Stücks: dass zwischen Menschen
nicht nur Gewalt, sondern auch Nähe möglich sein kann.
Wie viele der jungen, unbekannten Tänzer und Choreografen,
die Tanz im August in diesem Jahr präsentierte,
fügen sich auch Lesgart und Sanguinetti in eine Tendenz, die
artifizielle, rein formbetonte Konzepte im zeitgenössischen
Tanz revidiert. Mitveranstalterin Nele Hertling vom Berliner Hebbeltheater
konstatiert beim choreografischen Nachwuchs ein neues Bedürfnis
nach dem Konkreten, nach verständlicher Sprache und sozialer
Funktion. Bei Boris Charmatz beispielsweise entdecken gezügelte
Körper das Sprechen; im Stück der Compagnie Maguy
Marin aus Lyon referieren fünf Akteure die Geschichten
ihrer Emigration. Die künstlerischen Resultate freilich sind
diskutierbar und gehorchen verschiedenen Gesetzmäßigkeiten.
Nicht alle der insgesamt sechzehn Projekte, die die Veranstalter
Hebbeltheater und Tanzwerkstatt Berlin auf sechs verschiedenen Bühnen
im August präsentierten, folgten aktuellen Tendenzen des Interdisziplinären
und des sozialen Bezugs. Nederlands Dans beispielsweise
gab sich mit Arcimboldo 2000 tänzerisch-unterhaltsam
und lockte so ein traditionelleres Publikum in die Deutsche Oper
Berlin. Lynda Gaudreau aus Montreal andererseits bestand auf Positionen
artifizieller Moderne. In ihrem Fünf-Jahres-Projekt Enzyklopädia
dokumentiert sie die Körperarbeit der Abstrakten. Im gezeigten
Document 1 zitierte sie unter anderem aus Studien und
Stücken von Meg Stuart, Benoit Lachambre und Jérome
Bel.
Zwölf Jahre nunmehr präsentiert sich an der Spree des
Sommers die Tanz-Avantgarde aus aller Welt und bereichert dabei
mittelbar auch die Szene der Stadt. Die Anfänge führen
ins Jahr 1987 zurück, als Berlin/West als Kulturhauptstadt
Europas von umfassenderer Kulturförderung profitierte. Projektleiterin
Nele Hertling lud damals in Sachen Tanz die radikalsten Vertreter
und zwar nicht zur Festival-üblichen Schau, sondern
zu wechselseitiger Kenntnisnahme und Diskussion. Daher resultiert
jene Zweigleisigkeit von Gastspiel und Workshop, die das Festival
bis heute nachhaltig prägt. Workshops und offene Trainingskurse
boten in diesem Jahr Lynda Gaudreau, Julyen Hamilton, Akram Khan,
Emio Greco und David Zambrano. Gerald Siegmund lud erstmals zu einem
Kurs in Sachen Tanzkritik.
Die stadteigene Szene hielt sich in diesem Jahr unübersehbar
zurück. Sie erhoffte sich vom Festival neue, dringend gebrauchte
Impulse. Die Ballett-Diskussion und die Sparpolitik des Senats bezüglich
der Freien Gruppen haben die Euphorien der letzten Jahre gebremst
und nötige Kontinuitäten in Frage gestellt. Nicht zuletzt
deshalb sind Ulrike Becker und André Thériault (Tanz-Werkstatt
Berlin) und Nele Hertling derzeit um eine Konzentration ihrer Kräfte
bemüht. Nach dem Beispiel der Initiative Neue Musik
wünschen sie sich für den Tanz in Berlin eine Koordination
und ein zentrales Büro, um Mittel und Räume nach Bedarf
sinnvoll zu verteilen.
Begonnen hatte das 12. Festival Tanz im August beinahe
paradigmatisch und zwar mit einem Projekt, das anfangs Unfertigkeiten
und tänzerische Missgriffe ironisiert. Das Gastspiel von Philippe
Decouflé aus Paris war nach einer orientalischen Zauberformel
Shazram benannt, und führte schnell in eine Welt,
in der das Unmögliche gilt, in der sich Artistik und Zirkus,
Pantomime und Tanz überlagern. Auf nicht immer geschmackvolle
Art verband Paris sich dabei mit Fernost und Orient. Spiegel und
Live-Projektionen aus Videokameras thematisierten eine verdoppelte
Realität, die sich (nicht frei von Banalitäten) zugleich
als manipulierte erwies. Kunstvoll verschmolzen virtuoseste Tänzer
mit vorgefertigten Bildern; in Comic-Manier wurde das Unwahrscheinlichste
möglich. Reale und gescannte Akteure überwanden in fantastischer
Art Gesetze von Statik und Gravitation.
Frank
Kämpfer
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