Nach achtjähriger Quellenforschung (Jooss-Archiv, Amsterdam), durch Gespräche unter anderem mit Tänzern von Jooss’ Folkwang Ballett der 50er- und 60er-Jahre wie Reinhild Hoffmann, Jean Cébron, Günter Pick (langjähriger Ballettchef am Münchner Gärtnerplatztheater), aber auch solchen der ersten Stunde wie Noelle de Mosa, Ulla Söderbaum, Hans Züllig (der später prägender Folkwangschul-Pädagoge war), durch Schilderungen der Tochter Anna Markard, Assistentin ihres Vaters, wie auch ihrer Schwester und ihres Bruders, ergeben die über 400 Seiten eine wohltuend klare, durch uneitlen Stil flüssig aufnehmbare, in Teilen regelrecht spannende Lektüre. Joossens Arbeit ist ja nicht nur wichtige Tanzgeschichte, sondern zugleich, speziell durch seinen Antifaschismus, auch brisante Zeitgeschichte. Ausführlich behandelt denn auch Stöckemann die rasanten politischen Veränderungen nach Hitlers Machtübernahme im Januar 1933, mit Essen als eifrigstem antisemitischem Gefolgsterritorium („Als erste Großstadt des Reiches benennt Essen einen Platz nach Hitler“) und Joossens Exil von 1934 bis 1939 in der englischen Reformsiedlung Dartington. Wegen seines Pianisten Fritz Cohen, der jüdischen Tänzer Ruth Harris und Heinz Rosen (unter anderem von1959-69 Ballettdirektor an der Bayerischen Staatstoper) hatte Jooss sich entschlossen, die Einladung der Dartington-Gründer, des Ehepaares Elmhirst anzunehmen. Wenn es einerseits auch bitter für ihn war, seine Tanzabteilung an der Essener Folkwang-Schule – die mit den schnell bestallten Jooss-Nachfolgern (ab 1934 Albrecht Knust als Leiter der „Fachschule für Tanz“ mit Rudolf von Laban an der Spitze der Tanzabteilung, ab 1935 die Jooss-Schülerin Trude Pohl) dann anpasserisch („die Bewegungschöre“!) „auf NS-Kurs“ geht – zurückzulassen, erfüllt sich für Jooss mit Dartington im Grunde ein Traum. Denn der Sohn von musisch interessierten Eltern hatte schon immer mit dem Gedanken gespielt, auf dem väterlichen Gut im württembergischen Wasseralfingen eine Kunstschule zu etablieren. Von der frühen kindlichen Inspiration zu tanzen – mit zehn Jahren führt Jooss seinen ersten selbst entworfenen Tanz „Indisches Gebet“ im selbst kreierten Exotik-Kostüm Verwandten und Freunden vor – bis zu seinem Tod verfolgt Stöckemann dieses künstlerisch reiche, erfüllte, aber auch mit vielen Hindernissen gepflasterte Leben. Alle Stationen kommen eindringlich zu Wort: das Studium bei dem Bewegungsphilosophen Rudolf von Laban, die Begegnung mit Sigurd Leeder, Tanz- und jahrelang auch Lebenspartner von Jooss. Die Gründung der Neuen Tanzbühne in Münster mit Leeder, mit der estländischen Tänzerin Aino Siimola – die 1929 seine Frau wird, dann Mutter seiner drei Kinder, obendrein beruflich stets rechte Hand –, mit Fritz Cohen und dem Bühnenbildner Hein Heckroth. Und durchgehend, im kulturpolitischen Umfeld gesehen, die Klassik-Modern-Antagonismen und Konfrontationen inclusive: von der Leitung der Tanzabteilung an der Essener Folkwangschule ab 1927, der Gründung des Folkwang-Tanz-Theaters schon 1928 bis zu den weltweiten Tourneen, der Arbeit in Dartington, der Rückkehr nach Deutschland 1949 mit Neuaufbau der Folkwang-Schule und seiner Compagnie und den Erfolgen bei den Schwetzinger Festspielen mit Inszenierungen von Barockopern ab 1959. Überhaupt würdigt Stöckemann das geradezu leidenschaftliche Interesse des Choreografen am Musiktheater. Es mögen zum Teil diese damals von Jooss schon bewusst aus Handlungsverlauf und musikalischer Gesamtregie heraus erarbeiteten Tanzeinlagen in Opern und Operetten (für Jooss keine „lästige Pflichtübung“) Lernprozesse gewesen sein, die den Tanz für das Theater, für das Schauspielerische öffneten. Und eingehend wird in seiner Biografie dokumentiert – per Werkanalysen und reicher Bebilderung seiner vier, dank Anna Markwards Einstudierungen noch weltweit getanzten Ballette „Der Grüne Tisch“, „Pavane“ (1929), „Ball in Alt-Wien“ und „Großstadt“, aber auch nicht mehr erhaltener Werke –, dass Jooss, anders als die Ausdruckstänzer, immer beides kombinieren wollte: den klassischen Tanz als immer wieder fruchtbaren Formgeber und den freien Tanz als Forschungsfeld, als Schatzgrube für neue Bewegungs- und Ausdrucksmöglichkeiten.
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