So wurde auch der „Dreigroschenoper“ letztlich der an den „Verhältnissen“ nagende Zahn gezogen – mit einer Inszenierung, die ihrerseits subtile Aktualität hervorlockte. Für die Regie und gleich auch noch Bühne und Puppenentwürfe sowie das Casting der Sänger und Puppenspieler stand der Pantomime Milan Sladek ein, schuf damit ebenso eine seltene Stimmigkeit wie sich wechselseitig durchdringende, sich brechende Verfremdungsebenen. Mackie Messer, die Seeräuber-Jenny, Polizeichef Tiger Brown et cetera werden als etwa kindergroße Marionetten von je drei Spielern nach Art des altjapanischen Bunraki-Theaters an Kopf, Händen und Füßen geführt. Die schwarze Kleidung der Puppenführer verschmilzt mit dem Bühnenhintergrund und lässt die weiß leuchtenden, karikaturistisch gestalteten Figuren umso deutlicher hervortreten. Auf einer dritten Ebene hoch über dem Bühnengeschehen thronend, leiht ein Schauspielerteam den Puppen seine Sprech- und Gesangsstimmen, eine Klangfolie von farbenreicher Plastizität. Die Präzision, mit der sich hier Sprachmelodie in differenzierte, schlagkräftige Gesten umsetzt, ist atemberaubend, der bizarre Realismus der Beziehungsgefechte des Ehepaars Peachum, der traurigen Huren mit den schaukelnden Riesenbrüsten im „Zuhälter-Tango“ bisweilen zwerchfellerschütternd. Ein doppelter, poetisch-ironischer Boden ist dem Werk so eingezogen, treibt ihm den moralischen Zeigefinger endgültig aus und zeigt es als getreues Abbild unserer Gegenwart, in der man sich über die Raffinesse und Unangreifbarkeit ganz legaler Schurkereien am besten zu Tode amüsiert. Einen wie ausrasierten Klang peitscht Golo Berg aus der Anhaltischen Philharmonie heraus, gibt der Musik damit ebenso die dem unterhaltsamen Bild fehlende engagierte Schärfe wie er die Aufmerksamkeit auf Parodieelemente „großer Oper“ lenkt – mit dem Höhepunkt eines Finales voller „Fidelio“-Anklänge, zu denen der „reitende Bote“ auf einem winzigen Pferdchen vom Bühnenhimmel schwebt. Sladek, der unlängst bei den Schwetzinger Festspielen mit einer Mozart-Inszenierung Furore machte, war als erster „Artist in Residence“ des Weill-Festes nach Dessau eingeladen worden. Eine glückliche Wahl, denn Pantomime war das Element, mit dem der junge Weill der Krise des traditionellen Musiktheaters zu begegnen versuchte: Die Unglaubwürdigkeit des singenden Menschen auf der Bühne sei spätestens mit dem Desaster des ersten Weltkriegs offenbar geworden, Oper nur noch als irreales, surreales Geschehen denkbar und ihr erzählerischer Verlauf ganz der Musik anvertraut, führte Prof. Dr. Michael Heinemann im musikwissenschaftlichen Seminar „Das Musiktheater der Zwanziger Jahre“ aus. Welch unglaubliches Bühnentalent Weill hatte und wieviel uns davon durch die Zeitläufte und vielleicht auch die Anpassung des Komponisten an reduzierte Möglichkeiten verloren gegangen ist, zeigte bezaubernd und bewegend das allererste Musiktheaterwerk des Zwanzigjährigen: von der Ballettpantomime „Die Zaubernacht“ existiert nur noch ein handschriftlicher Klavierauszug mit wenigen Hinweisen auf Handlung und Instrumentation, nach denen Meirion Bowen das solistisch transparente Arrangement für das Kölner Ensemble Contrasts erstellte. Gesungen wird hier nur ein einziges Mal. Ansonsten lässt Weill die Instrumentalmusik erzählen. In seiner Inszenierung liest Milan Sládek aus ihr den Zukunftstraum des Jungen, das Erwachen von Sexualität und erster Liebe, bebildert dies liebevoll-ironisch mit bunt herumgaukelnden Blumen, Bienen und Schmetterlingen, erzeugt mit den Mitteln des alten tschechischen Schwarzen Theaters, und vor allem mit einer lebendigen, punktgenau und differenziert Verläufe nachzeichnenden Musikalität.
Mozart gehörte zu Weills Vorbildern, was gerade dem Erstling deutlich anzumerken ist. Wenn Birnbaum in einem seiner zahlreichen „Crossover“-Events eine deutsche Erstaufführung von Peter Greenaways völlig unbekanntem Film „M is for Man, Music, Mozart“ zur Live-Musik von Louis Andriessen präsentiert, so tätigt er damit einen mindestens dreifachen dramaturgischen Schachzug: Auch Weill liebte Grenzüberschreitungen, wandte filmschnittartige Techniken an, und zum „Dreigroschen“-Drive passen Andriessens poppig-parodistische Repetitionen ebenso gut wie zum barocken Gestus der ebenfalls in Dessau konzertant zu erlebenden „Beggar’s Opera“. So zeigte sich das Festival lehrreicher und zugleich weiter gefächert auf seinen „Protagonisten“ Weill konzentriert als in früheren Jahren, während sein Thema „von der belebenden Wirkung des Geldes“ durch die Vorjahresproduktion „Die Bürgschaft“ gleichwohl genauer und ernsthafter vermittelt wurde als durch die eher fantasiereich verspielten Einblicke in zweifellos spannendes Musiktheater.
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