An einem frühen Samstag Nachmittag im späten Herbst kam der Kritiker Peter Iden auf diesem Bahnhof an und beschloss, sich die Stadt ein wenig wandernd anzuschauen. Viel zu erleben gab es nicht. Kaum Leute auf den Straßen. Tot, fast wie im anderen Deutschland hinter dem Eisernen Vorhang. Nur vor einem kleinen Kino in einer der Innenstadtstraßen lungerte eine kleinere Gruppe junger Leute vor dem Entrée. Der Kritiker – Zeit genug hatte er – beschloss sich den Film anzusehen. Irgend so ein B-Picture amerikanischer Provenienz. Doch erhielt das Lichtspiel eine unerwartete Nähe und Gegenwärtigkeit. Ein junges Paar wandert auf der Reise durch ein kleines Städtchen an der französischen Atlantikküste. Die Häuser scheinen bewohnt, Türen und Fenster stehen offen, nur ist niemand zu erblicken – bis plötzlich eine größere Schar Jugendlicher auftaucht. Wo aber sind die Erwachsenen, die Eltern und Großeltern der jungen Leute? Das Geheimnis lüftet sich nur allmählich und ist für unseren Fall denn auch nicht mehr so wichtig: Die Jungen haben alle Erwachsenen umgebracht. Die unheimliche Geschichte aus der fiktiven Stadt, den ewigen Generationenkonflikt auf grausliche Art variierend, und das fast ebenso verlassen erscheinende Braunschweig: Wer würde in der parallelen Konstellation nicht geheimnisvolle Koinzidenzen erkennen? Aus dem leisen Albtraum erwachte Kritiker Iden erst beim Betreten des Theaters. Plötzlich waren viele Menschen unterschiedlichen Alters versammelt, helles Licht brannte, Gespräche erfüllten als brummelnder Klang das Foyer: Man war gespannt auf das Kommende. Mit dem Abend schien auch der Ort gerettet: Es lebten also doch noch Menschen in der „Toten Stadt“, die das Bedürfnis verspürten, sich im Theater zu treffen, ein neues Stück kennenzulernen, mit Freunden und Bekannten danach vielleicht noch bei einem Glas Wein über das Gesehene zu sprechen. Die Lebendigkeit einer Gemeinde dokumentiert sich nicht allein in Autoverkehr oder Geschäftsumsätzen, viel mehr in den Gesprächen, die Bürger unter sich führen. Heute nennt man das gern Kommunikation, bei der man jedoch häufig feststellt, dass ihr mitunter das wichtigste für jedes Gespräch fehlt, nämlich die Sprache. Wer will bestreiten, dass das Theater eine der letzten Bastionen ist, an denen sich Sprache noch behauptet? Wobei gleich hinzugefügt sei, dass die Erkenntnis in gleich hohem Maße auch die Sprache der Musik umschließt wie die des Tanzes: Sprache sowohl zur Ausbildung rationaler Fähigkeiten wie zur Erweckung emotionaler Kräfte. Auch leichte MuseDem Theater fällt in dieser Erziehung des Menschen zu einem bewussteren, sinnhaften Leben eine wichtige, ja entscheidende Rolle zu, und wenn wir Theater sagen, dann meinen wir damit, wie oben schon kurz erwähnt, alle Sparten, die das Theater begrifflich umschließt: Schauspiel, Oper und Musik, Ballett, Operette – ja auch diese, denn eine qualitätvolle Unterhaltungskultur zählt ebenfalls zur Kultur, die heute am ehesten an den kleineren und mittleren Bühnen gepflegt wird, während die „Großen“ sich dem heiteren Genre meist nur zuwenden, wenn ein Großregisseur „Fledermaus“, „Lustige Witwe“ oder „Csárdásfürstin“ für sich entdeckt – es sind vorwiegend nur diese drei Werke, die deren Interesse erregen, weil sich aus ihnen Leichtsinn, Verlogenheit und Zusammenbruch einer Gesellschaftsschicht im Ersten Weltkrieg am simpelsten herausdestillieren lassen. Einer fängt immer mit der Dekonstruktion an und dann klappern die anderen nach: Ein öde gewordener phantasieloser Reigen. Das kleine Stadttheater wirkt dagegen ehrlicher, weil es die mitunter schlichten, gleichwohl liebenswürdigen Produkte der Leichten Muse nicht wichtigtuerisch überfordert. ProvinztheaterDas Theater in unseren kleineren und mittleren Städten begegnet oft Unverständnis: Wer möchte eigentlich noch „Don Giovanni“, „Lohengrin“, „Faust“, „Hamlet“ und vieles andere in bescheidenerem Rahmen „live“ sehen, wenn das Fernsehen einem die internationalen Großereignisse sogar ganz billig in die Wohnstube liefert? Denn nicht jeder kann nach Salzburg, Bayreuth, Berlin und Paris jetten und sich die teuren Karten leisten. Man hört diese Argumente gegen das Stadttheater immer wieder und schon seit langem, sogar eine Elisabeth Schwarzkopf bezweifelte einmal eifernd den künstlerischen Sinn einer „Rosenkavalier“-Aufführung an einer „Provinzbühne“.
Noch eine andere „Geschichte“ aus der Wirklichkeit könnte skeptischen Nützlichkeitsdenkern helfen, das Thema „Wozu uns das Deutsche Stadttheater dient“ aus einer erweiterten Perspektive zu betrachten. Der österreichische Schriftsteller Christoph Ransmayr, als Festredner für die Eröffnung der Salzburger Festspiele 1997 bestellt, überraschte das auf allgemeine Lobpreisungen und den Tonfall des Rühmens eingestellte Festpublikum mit dem Vorlesen einer scheinbar einfachen Erzählung aus eigener Feder, in der er dem hochgestimmten Auditorium Bericht aus dem fernen Irland gab. Dort hatte Ransmayr – er lebt in Irland – eine Naturbühne entdeckt, ein offenes, leicht muldenförmiges Plateau, unmittelbar an den Meeresklippen gelegen. Früher trafen sich an dieser Stätte die Bewohner des nahen Dorfes und der Umgebung zu Gesang, Tanz, Gespräch: ein Ort der Gemeinschaft, des lebendigen Zusammenseins, wo man nicht nur über schöne Dinge, sondern auch über Katastrophen und Scheußlichkeiten etwas erfuhr. Ransmayrs Rede, die zum Verdruss der elitären Festspielversammlung so gar nicht den üblichen Erwartungen entsprach, war in Wahrheit die einzig richtige Festspielrede: weil diese über die poetische Reflexion hinaus auf einen höchst aktuellen Zustand verwies. Nicht nur die Salzburger Festspiele, alle Stätten der Kultur, der Musik, des Theaters, des Wortes und des Bildes dienen nicht allein einer Vorführung, wo man sich etwas anschaut, anhört, zur Kenntnis nimmt, sie sind mehr noch Orte der Versammlung, in der ein Mensch über das Ereignis hinaus zu sich selbst zu finden vermag, indem er die Notwendigkeit und Verantwortung seiner sozialen Existenz begreift. Die Kunst, die Dichter, Komponisten und alle ihre Helfer unterstützen den einzelnen bei diesem Durchschreiten des Weges zu einer höheren Einsicht. Ransmayrs Text, der schon im Titel mit der „Dritten Luft“ auf diese existenznotwendige „Beatmung“ des menschlichen Lebens hinweist, ist nicht nur poetisch, sondern vor allem auch hochpolitisch. Er fordert Nachdenken und Handeln über und für „unsere Kultur“ und ihren Anspruch ein. Man sollte die schmale Erzählung jedem Kulturpolitiker, überhaupt jedem Politiker zwecks Nachdenkens auf den Schreibtisch legen. Beide Geschichten, die aus Braunschweig und die aus Irland, könnten als Mahnung und Aufforderung zum Nachdenken dienen, wenn sich wieder einmal in den kleineren und größeren Städten unseres Landes in den politischen Gremien fatale Überlegungen ausbreiten, wie man sich am besten der kulturellen Verpflichtungen entledigt. Doch soll die Polemik wider die Kulturpolitik ausnahmsweise einmal unterbleiben. In Köln konstituierten sich gerade Arbeitskreise aus Bürgertum, Institutsleitern und Kulturschaffenden, um einer desolaten städtischen Kulturpolitik mit einem ignoranten Oberbürgermeister an der Spitze und einer hilflosen Kulturdezernentin mit konstruktiven Vorschlägen zur Hilfe zu eilen. Das wäre vielleicht der richtige Weg: Das Gespräch aller Beteiligten über alles, was Kultur für eine Stadtgemeinschaft unabdingbar macht. Wer nicht nur zu Festspielen fährt, sondern sich nicht scheut, die so genannte Provinz, das kleine oder größere Stadttheater (auch Staatstheater) zur Kenntnis zu nehmen, wird immer wieder überrascht von deren Vitalität, Einsatzbereitschaft, Wagemut und hohem künstlerischen Anspruch. Positive BeispieleNur einige Beispiele aus jüngster Zeit: Ausgerechnet im zweiten Haus am Platz, dem Gärtnerplatztheater in München, erlebte man mit der grandiosen Uraufführung von Awet Terterjans „Das Beben“ eines der zwingendsten Werke neueren Opernschaffens. In Münster setzte sich die Oper mit bemerkenswertem Erfolg für Azio Corghis „Senja“ ein, in Mainz erfuhr Peter Ruzickas „Celan“ eine eindringliche Darstellung, die das engagierte Werk dunkler, stilisierter, fast zwingender zeigte als die Dresdner Uraufführung, zumal die orchestrale und vokale Leistung des Mainzer Hauses über jede Kritik erhaben war. Wie professionell und perfekt die Orchester kleinerer Musikbühnen inzwischen zu agieren vermögen, konnte man in Darmstadt bei der deutschen Erstaufführung von Kajia Saariahos „L`amour de loin“ hören: Unter Stefan Blunier vernahm man vieles klangschärfer, plastischer, auch klangschöner und farbreicher als bei der Salzburger Festspielpremiere unter Kent Nagano. Und in bester Erinnerung ist uns noch ein Tag im Gießener Stadttheater, wo Menottis „Globolinks“ in Anwesenheit des Komponisten eine brillante, optisch süffige und pointiert gespielte Aufführung vor vielen Kindern und Jugendlichen erfuhr. Anschließend waren alle noch manche Stunden mit dem Komponisten im Hause zusammen: Das Stadttheater als ein Ort, wo man etwas lernt, sieht, hört und wo man gern beisammen ist. Dass die vielen kleinen Musikbühnen und auch die anderen Sprech- und Tanztheater, auch notwendige Stätten für die Ausbildung des künstlerischen Nachwuchses sind, wo sie erste Erfahrungen und Sicherheit gewinnen können, ist zu bekannt, als dass es hier noch besonders erwähnt zu werden bräuchte. Von vielen Stadttheatern gehen darüber hinaus heute auch unendlich viele Impulse in die jeweiligen Städte aus, zu den Schulen, zu theatralischen Arbeitsgemeinschaften und anderen Initiativen. Die Dramaturgien der Häuser leisten hierbei Bewundernswertes, weit über die normale Arbeitsverpflichtung hinaus. Auch das sollten Politiker einmal bedenken, bevor sie sich die eigenen Diäten erhöhen. Doch wir wollten ja diesmal nicht polemisieren. Sorgen wir uns lieber gemeinsam um die kleinen Theater, vor allem im Osten der Republik, die oft einen verzweifelten Kampf gegen die Geldnot führen, wo sie doch alles versuchen, Christoph Ransmayrs Mahnungen in gesellschaftliche Realität umzusetzen. Die Aufgaben und die Ziele sind für alle Theater diesselben.
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