Zur Startseite


 

 
Zur Startseite von Oper & Tanz
Aktuelles Heft
Archiv & Suche
Stellenmarkt
Oper & Tanz abonnieren
Ihr Kontakt zu Oper und Tanz
Kontakt aufnehmen
Impressum
Datenschutzerklärung

Website der VdO


 

Aktuelle Ausgabe

Editorial

Kulturpolitik
Brennpunkte
Zur Situation deutscher Theater und Orchester
Unersetzbare Ensemblepflege
Rückblick auf die Ära Klaus Pierwoß in Bremen
Diese Braut muss geschmückt werden
Das Musikmagazin „taktlos“: Katastrophe Hauptstadtoper

Portrait
Das Wunder von Neukölln
35 Jahre Neuköllner Oper
Kunstmaximierung im Nordwesten
Ein Porträt des Oldenburgischen Staatstheaters

Berichte
Die Abgründe schwedischer Provinz
Chorfilm „Wie im Himmel“ in Konstanz
Inszenieren ohne zu interpretieren
„Tristan und Isolde“ in Essen
Karnevaleske Intrigen
Cavallis „Giasone“ an der Oper Frankfurt
Theatralische Sexualkunde
„Hänsel und Gretel“ beim Tollwood-Festival
Der Dorn im Herz der Nachtigall
Juliane Kleins Musiktheater „Glück“

VdO-Nachrichten
Nachrichten
Berlin und Hessen benachteiligt – Satzungsänderung – Wir gratulieren
Alles, was Recht ist
Bühnen- und tarifrechtliche UrteileNeue Steuergesetze / Neue Sozialgesetze

Service
Schlagzeilen
Namen und Fakten
Oper und Tanz im TV
Stellenmarkt
Spielpläne 2006/2007
Festspielvorschau

 

Kulturpolitik

Das Wunder von Neukölln

35 Jahre Neuköllner Oper · Von Albrecht Dümling

Der Berliner Bezirk Neukölln gilt wegen seiner sozialen Probleme, wegen hoher Arbeitslosigkeit und Jugendkriminalität als ein Bezirk, den Touristen meiden. Hier, wo es oft am Nötigsten fehlt, erscheint Oper als Luxus. Eine Neuköllner Oper ist auf den ersten Blick eine Absurdität, ein Widerspruch in sich. Gerade dies empfand der Komponist und Kirchenmusiker Winfried Radeke als Herausforderung: Haben Kiez-Bewohner nicht den gleichen Anspruch auf Hochkultur wie die Bürger von Charlottenburg und Wilmersdorf? So gründete er im Jahre 1972 mutig einen Verein namens „Neuköllner Oper“. Als arme Wanderbühne begann sie programmatisch mit der „Bettleroper“, bis sie 1988 einen alten Ballsaal an der Karl-Marx-Allee bezog und seitdem zu den produktivsten Bühnen der Stadt gehört. Mit immer neuen Ideen erbringt sie den Beweis, dass Musiktheater keine weltfremde Angelegenheit ist, sondern ein Magnet sogar für Kiez-Bewohner.

Dem Volk aufs Maul geschaut

 
Kulturelles Zentrum in Neukölln – Außenansicht des Opernhauses. Foto: Matthias Heyde
 

Kulturelles Zentrum in Neukölln – Außenansicht des Opernhauses. Foto: Matthias Heyde

 

Wie für das drei Jahre zuvor gegründete Jugendtheater GRIPS gehört auch für die Neuköllner Oper Bertolt Brecht zu den geistigen Vätern. „Oper“ meint hier nicht Eitelkeiten von Primadonnen und Tenören, sondern Musiktheater für ein breites Publikum, in vielfältigen Formen vom Singspiel über Operette, Revue und Kindertheater bis zum Musical. Man bemüht sich bei der Auswahl der Stücke um Aktualität und Verständlichkeit und schaut dem Volk aufs Maul, ohne ihm nach dem Mund zu reden. Wie Brecht und Weill die „Bettleroper“ zur „Dreigroschenoper“ transformierten, so erlebt man in der Neuköllner Oper bekannte und unbekannte Werke in oft überraschend neuer Perspektive. Wenn etwa ein türkischer Regisseur (Yüksel Yoku) Leo Falls Operette „Die Rose von Stambul“ inszenierte, verwandelte sich der Exotismus von anno dazumal in eine aktuelle Aussage zum Multikulturalismus.

Bekanntes und Unbekanntes

Immer wieder kommt es zu spannenden Ausgrabungen. Wer kennt schon Gretrys „Blaubart“-Oper von 1789, die als verkapptes Revolutionsstück zu erleben war? Auch Franz Schuberts „Die Freunde von Salamanka“, das Mozart-Fragment „Die Gans von Kairo“, E.T.A. Hoffmanns Oper „Aurora“ oder Rachmaninoffs Einakter „Aleko“ gehören nicht zum gängigen Repertoire. Ein Höhepunkt der letzten Monate war die Insektenoperette „Maja & Co“ nach einem fragmentarisch überlieferten und erst 2003 entdeckten Werk von Jacques Offenbach. Von diesem Einakter, von dem man nur den Titel „Maya L’Abeille“ kannte, tauchten zwölf Musiknummern auf. Da das Libretto fehlte, kreuzte Peter Lund das Offenbach-Werk mit dem berühmten „Biene Maja“-Roman von Waldemar Bonsels. Wolfgang Böhmer arrangierte Offenbachs Musik für die sechsköpfige Käferkapelle und steuerte auch einige Neukompositionen bei. Das Ergebnis dieser kreativen Kreuzung war eine unterhaltsame Farce über menschlich-allzumenschliche Eitelkeiten – dargestellt durch Tierfiguren, singende, tanzende und springende Bienen, Libellen, Eintagsfliegen, Glühwürmchen und Grashüpfer.

Überhaupt ist die Neuköllner Oper ein Mekka für die sonst vernachlässigte Operette, die hier von Plüsch und Staub befreit wird. Als man direkt nach dem Mauerfall Paul Linckes „Frau Luna“ brachte, stand hinter oder vor der damaligen Sehnsucht nach dem Mond die Suche nach der „goldenen“ Warenwelt des Westens – beides unrealistische Träume. Wünsche und Illusionen werden in der Neuköllner Oper nicht nur abgebildet und wiederholt, sondern zur Diskussion gestellt. Die Operette ist hier nicht, wie an anderen Orten, nur glamouröse Traumfabrik.

Neue Wege

 
„Held Müller - ein deutsches Musical“ in Neukölln. Foto: Matthias Heyde
 

„Held Müller - ein deutsches Musical“ in Neukölln. Foto: Matthias Heyde

 

Um zur Neuköllner Oper zu gelangen, muss man zur Karl-Marx-Straße fahren und dann viele Treppen hochsteigen. Dennoch ist dieses Haus nicht „abgehoben“, nicht getrennt von seiner Umgebung. Das Leitungsteam berücksichtigt vielmehr, dass Neuköllner in der Regel die Fernsehprogramme und die Pop-Charts besser kennen als Opern. Die Sozialkomödie „Das Wunder von Neukölln“ (frei nach dem Film „Das Wunder von Mailand“) war mit vielen lokalen Bezügen eine hinreißende Neuköllner Antwort auf „Linie 1“, das Erfolgsstück am GRIPS-Theater. Einen Ausflug in den benachbarten Bezirk Treptow unternahmen die „Geschichten aus dem Plänterwald“ (sehr frei nach dem Horváth-Stück „Geschichten aus dem Wiener Wald“). DDR-Vergangenheit arbeitete das Musical „Messeschlager Gisela“ von Gert Natschinski unterhaltsam auf. Auch das Musical „Angela – eine Nationaloper“, ein musikalisches Porträt der gegenwärtigen Bundeskanzlerin, und die Oper „Friendly Fire“ von Klaus Arp (Musik) und Andreas Bisowski (Libretto) über posttraumatische Stress-Syndrome heimgekehrter US-Soldaten brachten aktuelle Stoffe auf die Bühne. Neue Wege beschritten der Komponist Thomas Zaufke und der Regisseur und Textautor Peter Lund mit den erfolgreichen Musicals „Erwin Kannes – Trost der Frauen“ und „Held Müller“, dem tragikomischen Porträt eines Arbeitslosen.

Da es in diesem Haus keine feste Bühne und keinen Orchestergraben gibt, wird der Raum für jede Inszenierung verändert. Die Bühnenbildner begreifen die Offenheit als Chance und werden auch zu Architekten. Jede Inszenierung bringt so das Publikum in eine neue Situation, reißt es aus der Konsumentenhaltung heraus und beteiligt es aktiv. Bizets „Perlenfischer“ waren in einer Schmugglerbar zu erleben, in der die Akteure die Bartheke umkreisten. Bei Paul Abrahams Revue-Operette „Blume von Hawaii“ betraten die Besucher einen eleganten Luxusliner auf Südseefahrt.

Teamarbeit statt Ego-Trips

Zur Neuköllner Dramaturgie gehört die Teamarbeit, keine künstlerischen Egotrips. Konzepte werden vielmehr gemeinsam besprochen, entwickelt und umgesetzt. Auch Kinder werden hier ernst genommen. Großer Beliebtheit erfreut sich das mit einfachsten Mitteln gestaltete Märchenspiel „Pechvogel und Glückskind“, das fragt, warum manchen alles gelingt, anderen nur wenig. Winfried Radeke, der die Musik komponierte, hat für „sein“ Haus viele Bearbeitungen betreut und auch größere Musiktheaterstücke geschaffen, so die Oper „Bracke“ nach Klabund. Sein neuestes Projekt ist die Kammeroper „Niemandsland“ nach einem Textbuch von Michael Frowin und Ulrike Gondorf, die am 1. März uraufgeführt wird. Es geht um Alzheimer und damit um das rätselhafte Verhältnis von Erinnern, Vergessen und Verdrängen.
Mit acht bis zehn Neuproduktionen pro Spielzeit, davon mehr als die Hälfte Uraufführungen, ist die Neuköllner Oper das produktivste Musiktheater Berlins. Details über die 35-jährige Geschichte der Oper, über das Geheimnis der „Neuköllner Dramaturgie“ und das bisherige Repertoire finden sich auf der Website www.neukoellneroper.de. Angesichts des fehlenden Ensembles ist die Bühne auf die Zusammenarbeit mit jungen Sängern und Darstellern angewiesen. Seitdem Peter Lund als Professor an die Universität der Künste wechselte, ist die Zusammenarbeit mit dem dortigen Studiengang Musical/Show besonders eng. Manch junger Künstler hat sich von Neukölln aus größere Häuser in Hamburg, Stuttgart oder Basel erobert, ebenso junge Librettisten und Komponisten, die ihre neuen Werke bei einem von der GASAG Berlin unterstützten Opernwettbewerb eingereicht haben.

Obwohl nicht alle Experimente gelingen, lohnt sich der Weg nach Neukölln fast immer. Das Publikum, das zu neun Prozent aus Neukölln kommt und zu gut vierzig Prozent aus den westlichen Stadtbezirken, bleibt diesem Hause trotz der vielen Neuheiten treu. Im Jahr 2001 betrug die durchschnittliche Auslastung etwa achtzig Prozent. Angesichts der Sorgen der drei großen Opernhäuser Berlins und der besonderen Probleme des Bezirks Neukölln grenzt dies an ein Wunder.

Albrecht Dümling

startseite aktuelle ausgabe archiv/suche abo-service kontakt zurück top

© by Oper & Tanz 2000 ff. webgestaltung: ConBrio Verlagsgesellschaft & Martin Hufner