Wie für das drei Jahre zuvor gegründete Jugendtheater GRIPS gehört auch für die Neuköllner Oper Bertolt Brecht zu den geistigen Vätern. „Oper“ meint hier nicht Eitelkeiten von Primadonnen und Tenören, sondern Musiktheater für ein breites Publikum, in vielfältigen Formen vom Singspiel über Operette, Revue und Kindertheater bis zum Musical. Man bemüht sich bei der Auswahl der Stücke um Aktualität und Verständlichkeit und schaut dem Volk aufs Maul, ohne ihm nach dem Mund zu reden. Wie Brecht und Weill die „Bettleroper“ zur „Dreigroschenoper“ transformierten, so erlebt man in der Neuköllner Oper bekannte und unbekannte Werke in oft überraschend neuer Perspektive. Wenn etwa ein türkischer Regisseur (Yüksel Yoku) Leo Falls Operette „Die Rose von Stambul“ inszenierte, verwandelte sich der Exotismus von anno dazumal in eine aktuelle Aussage zum Multikulturalismus. Bekanntes und UnbekanntesImmer wieder kommt es zu spannenden Ausgrabungen. Wer kennt schon Gretrys „Blaubart“-Oper von 1789, die als verkapptes Revolutionsstück zu erleben war? Auch Franz Schuberts „Die Freunde von Salamanka“, das Mozart-Fragment „Die Gans von Kairo“, E.T.A. Hoffmanns Oper „Aurora“ oder Rachmaninoffs Einakter „Aleko“ gehören nicht zum gängigen Repertoire. Ein Höhepunkt der letzten Monate war die Insektenoperette „Maja & Co“ nach einem fragmentarisch überlieferten und erst 2003 entdeckten Werk von Jacques Offenbach. Von diesem Einakter, von dem man nur den Titel „Maya L’Abeille“ kannte, tauchten zwölf Musiknummern auf. Da das Libretto fehlte, kreuzte Peter Lund das Offenbach-Werk mit dem berühmten „Biene Maja“-Roman von Waldemar Bonsels. Wolfgang Böhmer arrangierte Offenbachs Musik für die sechsköpfige Käferkapelle und steuerte auch einige Neukompositionen bei. Das Ergebnis dieser kreativen Kreuzung war eine unterhaltsame Farce über menschlich-allzumenschliche Eitelkeiten – dargestellt durch Tierfiguren, singende, tanzende und springende Bienen, Libellen, Eintagsfliegen, Glühwürmchen und Grashüpfer. Überhaupt ist die Neuköllner Oper ein Mekka für die sonst vernachlässigte Operette, die hier von Plüsch und Staub befreit wird. Als man direkt nach dem Mauerfall Paul Linckes „Frau Luna“ brachte, stand hinter oder vor der damaligen Sehnsucht nach dem Mond die Suche nach der „goldenen“ Warenwelt des Westens – beides unrealistische Träume. Wünsche und Illusionen werden in der Neuköllner Oper nicht nur abgebildet und wiederholt, sondern zur Diskussion gestellt. Die Operette ist hier nicht, wie an anderen Orten, nur glamouröse Traumfabrik. Neue Wege
Um zur Neuköllner Oper zu gelangen, muss man zur Karl-Marx-Straße fahren und dann viele Treppen hochsteigen. Dennoch ist dieses Haus nicht „abgehoben“, nicht getrennt von seiner Umgebung. Das Leitungsteam berücksichtigt vielmehr, dass Neuköllner in der Regel die Fernsehprogramme und die Pop-Charts besser kennen als Opern. Die Sozialkomödie „Das Wunder von Neukölln“ (frei nach dem Film „Das Wunder von Mailand“) war mit vielen lokalen Bezügen eine hinreißende Neuköllner Antwort auf „Linie 1“, das Erfolgsstück am GRIPS-Theater. Einen Ausflug in den benachbarten Bezirk Treptow unternahmen die „Geschichten aus dem Plänterwald“ (sehr frei nach dem Horváth-Stück „Geschichten aus dem Wiener Wald“). DDR-Vergangenheit arbeitete das Musical „Messeschlager Gisela“ von Gert Natschinski unterhaltsam auf. Auch das Musical „Angela – eine Nationaloper“, ein musikalisches Porträt der gegenwärtigen Bundeskanzlerin, und die Oper „Friendly Fire“ von Klaus Arp (Musik) und Andreas Bisowski (Libretto) über posttraumatische Stress-Syndrome heimgekehrter US-Soldaten brachten aktuelle Stoffe auf die Bühne. Neue Wege beschritten der Komponist Thomas Zaufke und der Regisseur und Textautor Peter Lund mit den erfolgreichen Musicals „Erwin Kannes – Trost der Frauen“ und „Held Müller“, dem tragikomischen Porträt eines Arbeitslosen. Da es in diesem Haus keine feste Bühne und keinen Orchestergraben gibt, wird der Raum für jede Inszenierung verändert. Die Bühnenbildner begreifen die Offenheit als Chance und werden auch zu Architekten. Jede Inszenierung bringt so das Publikum in eine neue Situation, reißt es aus der Konsumentenhaltung heraus und beteiligt es aktiv. Bizets „Perlenfischer“ waren in einer Schmugglerbar zu erleben, in der die Akteure die Bartheke umkreisten. Bei Paul Abrahams Revue-Operette „Blume von Hawaii“ betraten die Besucher einen eleganten Luxusliner auf Südseefahrt. Teamarbeit statt Ego-Trips Zur Neuköllner Dramaturgie gehört die Teamarbeit, keine
künstlerischen Egotrips. Konzepte werden vielmehr gemeinsam
besprochen, entwickelt und umgesetzt. Auch Kinder werden hier ernst
genommen. Großer Beliebtheit erfreut sich das mit einfachsten
Mitteln gestaltete Märchenspiel „Pechvogel und Glückskind“,
das fragt, warum manchen alles gelingt, anderen nur wenig. Winfried
Radeke, der die Musik komponierte, hat für „sein“ Haus
viele Bearbeitungen betreut und auch größere Musiktheaterstücke
geschaffen, so die Oper „Bracke“ nach Klabund. Sein
neuestes Projekt ist die Kammeroper „Niemandsland“ nach
einem Textbuch von Michael Frowin und Ulrike Gondorf, die am 1.
März uraufgeführt wird. Es geht um Alzheimer und damit
um das rätselhafte Verhältnis von Erinnern, Vergessen
und Verdrängen. Obwohl nicht alle Experimente gelingen, lohnt sich der Weg nach Neukölln fast immer. Das Publikum, das zu neun Prozent aus Neukölln kommt und zu gut vierzig Prozent aus den westlichen Stadtbezirken, bleibt diesem Hause trotz der vielen Neuheiten treu. Im Jahr 2001 betrug die durchschnittliche Auslastung etwa achtzig Prozent. Angesichts der Sorgen der drei großen Opernhäuser Berlins und der besonderen Probleme des Bezirks Neukölln grenzt dies an ein Wunder. Albrecht Dümling |
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