Knapp 14.000 Schüler besuchen pro Saison das Theater Osnabrück, seitdem Intendant Holger Schultze die Schulen der Stadt für sein ehrgeiziges Projekt gewinnen konnte, von der fünften bis zur elften Klasse alle Pennäler jährlich einmal ins Theater zu holen. Insgesamt liegt die Platzausnutzung bei knapp 80 Prozent. Das Repertoire mit Werken von Purcell, Mozart, Puccini, Janácek, Lehár und Poulenc vereint die verschiedensten Regiehandschriften zu einer gut ausbalancierten Gesamtschau auf die Vielfalt zeitgenössischer Inszenierungsstile. „Ich freue mich über jede Produktion, die anders ist. In einer Stadt, wo es nur ein Theater gibt, ist es unsere Aufgabe, unterschiedliche Ästhetiken und Stile an so einem Haus zuzulassen“, erläutert Schultze. Auch dank seiner geradezu mephistophelisch anmutenden Umtriebigkeit ist ihm in Osnabrück auf beispielgebende Weise gelungen, worauf es in der deutschen Bühnenlandschaft künftig besonders ankommen wird: auf die Identifikation aller Einwohner mit ihrem Theater, auf die Klarstellung, dass das Theater den objektiven Interessen der Bevölkerung dient. Das heißt für Schultze nun keineswegs, sich einem vermeintlichen Publikumsgeschmack anzubiedern. Wohl aber kommt es ihm darauf an, die Fülle der menschlichen Ausdrucksformen, die das Theater bündelt, allen Altersstufen zugänglich zu machen. Deshalb finden sich im Programm des unter Schultze neu gegründeten Kinder- und Jugendtheaters „OSKAR“ auch Kammeropern wie die schon mehrfach ausgezeichnete Produktion „Das Tagebuch der Anne Frank“ von Grigori Frid oder das von vier namhaften zeitgenössischen Komponisten eigens für junge Menschen in den musikalischen Sprachen der Avantgarde verfasste Musiktheater „Rotkäppchen, lauf!“. Lavinia A.Seinen Anspruch, „das Theater zum kulturellen Zentrum der Region auszubauen“, hat das Team um Holger Schultze rundherum eingelöst, ja sogar übertroffen, indem das Haus zu einem weithin beachteten Schauplatz des zeitgenössischen Musiktheaters erblüht ist. Die jährlichen Opernuraufführungen versteckt man nicht auf einer Experimentierbühne, sondern präsentiert sie im „Großen Haus“ der neugierig gewordenen Stadtöffentlichkeit. Die zuletzt herausgebrachte „Lavinia A.“ von Komponist André Werner ist ein Parabelstück über die allumfassende Gewaltakkumulation als letzter Kitt der modernen Weltgesellschaft. An den Erfolg der „Bestmannoper“ vom vergangenen Jahr (siehe „Oper&Tanz“ 3/2006) reicht die Produktion nicht ganz heran. Die komplexe Klanganatomie Werners zeugt zwar von einer bemerkenswerten technischen Kreativität, doch fehlen der Oper – trotz aller Stichhaltigkeit bei der musikalischen Vergegenwärtigung der unaufhaltsamen „Mechanik des Grauens“ – das emphatische Moment und der unbedingte Anklagegestus vergleichbarer Werke von Zimmermann oder Nono. Immerhin beeindruckt die Aufführung durch den profunden Sachverstand, den sich Ensemble, Chor und Orchester unter der sorgsamen Anleitung von GMD Hermann Bäumer bei der Interpretation Neuer Musik zu eigen gemacht haben. Nicht nur im zeitgenössischen Metier zahlt es sich reichlich aus, dass in Osnabrück mit Bäumer einer der selten gewordenen Chefdirigenten tätig ist, die ihren Wirkungsmittelpunkt in der vorausschauenden, verantwortungsbewusst gestaltenden Präsenz vor Ort statt nur in auswärtigen Gastspielen sehen. Die Oper ist also bestens gerüstet für die nächsten von Intendant Schultze anvisierten Uraufführungscoups: „Wir halten es für ungeheuer wichtig im Musiktheater auch das Zeitgenössische zu fördern und werden weitere Kompositionsaufträge erteilen.“ Chor und Ballettcompagnie
Zum unverzichtbaren Leistungsträger für solche Vorhaben hat sich der aus aktuell 23 festangestellten Sängern bestehende Chor entwickelt, der bei großen Partien der klassischen Literatur oft von den 22 musikbegeisterten Damen und Herren des Extrachors unterstützt wird. Chordirigent Peter Sommerer konnte die Klangqualität des Vokalensembles in den letzten Jahren durch ein beharrliches Feilen an Phrasierung, Dynamik und Artikulation nochmals steigern. Zu seiner Methode verrät er, „dass man mit dem Chor am einfachsten arbeitet, indem man die Sänger individualisiert. Für mich sind die Sänger im Bewusstsein und in der Wahrnehmung 23 Künstler“. Dem kann der VdO-Ortsdelegierte Franz-Josef Mertens nur beipflichten: „Man kennt die Fähigkeiten der einzelnen Leute und die werden respektiert, geachtet und gefördert.“ Voraussetzung für das erfolgreiche Bestehen des Wagnisses „Neue Musik“ ist außerdem das gute Zusammenspiel von Chordirektion, Regie und Dramaturgie, die stets gemeinsam darauf achten, dass die Sänger mit ihren Kräften haushalten können, erläutert Chorvorstand Stefan Kreimer mit Blick auf die „Lavinia A.“. Bei dieser Oper mit ihrer zehnstimmig geteilten, rhythmisch höchst vertrackten Chorpartitur agieren die Sänger fast unentwegt auf der Bühne. Der Chor nimmt solche Herausforderungen mit „Leidenschaft und Engagement“ an, berichtet Kreimer. Da wird schon mal der Bus nach Hause vergessen, wenn nach der Probe oder Vorstellung unter Kollegen das Stück weiterdiskutiert wird. Ebenfalls durch ihre stark ausgeprägte künstlerische Eigenart erregen die zehn Tänzer der Compagnie um Choreograf Marco Santi Aufmerksamkeit, wobei allerdings bisweilen auch individuelle Unterschiede bei der technischen Raffinesse beobachtbar sind. Das mag zum Teil einer Auffassung von Tanztheater geschuldet sein, bei der die Betonung weniger auf dem Tänzerischen als auf dem Theatralischen liegt: Ein Bewegungstheater, das vom Misstrauen am Althergebrachten, am sogenannten „guten Handwerk“ geprägt ist. Santi hat erkannt, dass es um des authentischen Ausdrucks willen notwendig ist, auch mit manchen Konventionen und lieb gewordenen Sehgewohnheiten des inzwischen in die Jahre gekommenen Tanztheaters zu brechen. Ob daraus ein kreativer Erneuerungsschub resultiert, bleibt abzuwarten. Zuzutrauen wäre das Santi, der seine Potentiale bisher eher zögernd genutzt hat. Am überzeugendsten vielleicht bei der Studioproduktion „Silber“, einer Tanz-Hommage an Andy Warhol und seine esoterische „factory“. Santis Choreografie beschenkt das Publikum mit der entgrenzenden und entängstigenden Fantasie dieser Freistätte produktiver Selbsterkundung. Die Tänzer verwickeln die Zuschauer in körpernahe Interaktionen, scheuen dabei nicht das Laute, Alberne und Vulgäre. Ein für Santi sehr charakteristisches unterschwelliges Pathos verhindert jedoch den Absturz des Ganzen in modische Trash-Akrobatik. Wem das zu aufregend ist, der wird sich zumindest gerne von den regelmäßigen Beiträgen der Compagnie für das Musiktheater wie unlängst bei Purcells „The Fairy Queen“ verzaubern lassen. In den Verbindungen der Künste sieht Holger Schultze ein eindeutiges Statement, „um überhaupt nicht in die Situation einer Spartendiskussion zu kommen“. Mit Arbeiten aller Sparten wird das im Spätsommer zum zweiten Mal ausgerichtete Festival für zeitgenössisches Theater „Spieltriebe“ aufwarten: ein urbanes Gesamtkunstwerk, bei dem die ganze Stadt in einen ästhetischen Ausnahmezustand versetzt wird. Das zeigt abermals: Wer sich für innovatives Theater im deutschsprachigen Raum interessiert, der muss Osnabrück auf seiner Rechnung haben. Christian Tepe |
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