Solch eine aufklärerische Lesart der musikalischen Textur ist in Hannover der Anknüpfungspunkt für das Dirigat von Stefan Klingele, der die „imaginäre Gestalt eines musikalischen Jugendstils“, wie sie Henze vorschwebte, aus analytisch-epischer Distanz angeht. Die Zuhörer werden durch den schwelgerisch-kulinarischen Schönklang nicht überwältigt, sondern studieren als musikalisch Mitdenkende ein Lehrstück über den Niedergang der Polis. Doch kommt man damit nur an einen Teilaspekt der komplexen dialektischen Werkstruktur heran. Die ungeheuerlichen Abgründe, die seelischen Verwicklungen und Versuchungen dieser Musik, ihre geheime Sympathie für den alle Barrieren niederreißenden dionysischen Taumel bleiben eher angedeutet als ausgedeutet. Klingele dämpft die Wucht und Monumentalität der dynamisch gesteigerten Strecken der Partitur spürbar, was den auch sprachlich gut vernehmbaren Solisten andererseits zusätzlichen Raum für ihre sublimen vokalen Charakterstudien eröffnet. Robert Künzli verleiht dem Dionysos eine freizügige, laszive Sanftheit, die sich allmählich in harte, unbeugsame Bestimmtheit verwandelt. Mit reichen psychischen Schattierungen modellieren Brian Davis (Pentheus) und Okka von der Damerau (Beroe) die elegischen Kantilenen ihrer erschütternden Klagelieder. Unbestrittener Protagonist ist aber der von Dan Ratiu exzellent präparierte Chor der Staatsoper Hannover, der in dieser Produktion erneut eindrucksvoll seine Zugehörigkeit zur Leistungsspitze der deutschen Opernchöre demonstriert. Technische Souveränität, Luzidität und Noblesse in Tongebung und Klangmischung vereinen sich mit einem hochdifferenzierten Ausdrucksspektrum, das von suggestiver Piano-Empfindsamkeit bis zur vital-aggressiven, doch stets kontrollierten Attacke reicht. Das alles ist umso bewunderungswürdiger, wenn man sieht, wie Regisseur Tilman Knabe dem Chor eine wahre Tour de Force abverlangt, die bis an die Grenzen des für die Sänger Annehmbaren geht. Doch mögen die Bassariden sich noch so ungestümen Sexorgien hingeben, mögen die bis auf die Unterwäsche entblößten Mänaden noch so ungehemmt mit Maschinengewehren ihre Liebespartner niedermähen: Der Betrachter bleibt davon eigenartig unberührt. Knabe bedient sich hier einer als Hypernaturalismus daherkommenden, in Wahrheit jedoch medial vorproduzierten Gewaltästhetik, die sich unter den ganz anderen Sehvoraussetzungen der Opernbühne schier lächerlich ausnimmt. Aus diesem Material lassen sich keine triftigen musiktheatralen Bilder formen, um zu den Ursachen, zu dem emotionalen Kern all der grausamen Exzesse vorzudringen. Mit einem auf permanente Überrumpelung zielenden Aktionismus versucht Knabe vergessen zu machen, wie begrenzt sein szenisches Vokabular für die Musik Henzes tatsächlich ist. Allein in den Duetten und Ensembles gewinnt die Aufführung ein wenig an Intensität, blitzt etwas von dem Potential auf, das Knabe andernorts schon an den Tag gelegt hat. Das gilt besonders für die ungemein spannungsvollen und ergreifenden Augenblicke, wenn Agaue (Arantxa Armentia) allmählich wieder aus den dionysischen Verzückungen zu Bewusstsein kommt und erkennen muss, dass es der abgerissene Kopf ihres eigenen, im kollektiven Blutrausch der Mänaden von ihr selbst getöteten Sohnes Pentheus ist, den sie da triumphierend in ihren Händen hält. In solchen Momenten behauptet sich natürlich auch einfach die Stärke des Stückes. „Die Musik streut Bilderfunken um sich“, bemerkte Nietzsche einmal. In Hannovers „Bassariden“ blieb sie mit dieser Gabe letztlich doch für sich allein. Christian Tepe |
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