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Die Religion der Frauen
„Neda – der Ruf“ in Osnabrück uraufgeführt · Von
Christian Tepe Spätestens mit „La Traviata“ hat der Mythos Frau
in die Oper Einzug gehalten. Von Verdis Meisterwerk bis hin zu
Reimanns „Medea“ sind es vornehmlich Frauenfiguren,
an deren Schicksal Komponisten und Librettisten die Kollisionen
von Individuum und Gesellschaft, von Freiheit und rigider Moral
verdeutlichen. Mit ihrer Parteinahme zugunsten der Frauen haben
sie eine spezifisch weibliche Ästhetik von Subjektivität,
Individualität und Liebe geschaffen. Aber das alles sind Opern über
Frauen und nicht von Frauen. Echtes utopisches Denken vermischt
sich in ihnen oft mit ideologischen Schimären über das
weibliche Geschlecht. In der ästhetischen Erhöhung der
Frauen durch Männerfantasien steckt die Gefahr einer sublimen
Form ihrer erneuten Erniedrigung.
Auch Nader Mashayekhis „Neda – der Ruf“ steht
dem Sujet der Frauenoper nahe. Jedoch haben die Librettistinnen
Nadja Kayali und Angelika Messner findig eine zusätzliche
Reflexionsebene eingearbeitet, indem sie die Frauenfiguren dieser
Oper zu Beginn ganz explizit der Fantasie des großen persischen
Dichters Nizami (1141-1209) entspringen lassen und erst dann – gleichsam
im ständigen Dialog mit ihrem Erfinder – zu einem Eigenleben
erwecken. Die kämpferische Nuschabe, die liebende Fitna, die
rebellische Turandot erscheinen als die Imaginationen eines von
den Zeitläufen bedrängten Dichtergemüts. Und doch
wohnt ihnen jeweils ein Wahrheitskern weiblichen Widerstands und
Andersseins inne, den Regisseurin Carin Marquardt unter wohltuendem
Verzicht auf die Pseudoauthentizität eines psychologisierenden
Realismus in klar typisierender Zuspitzung herausschält.
Allein die Protagonistin der Oper, die Sklavin Apak, soll tatsächlich
gelebt haben. Vom patriarchalischen Fürsten zum Geschenk für
Nizami bestimmt, wird sie zu einer gleichberechtigten Geistesgefährtin
des Dichters und zu einem seelischen Inbild seiner Frauengestalten.
Apak ist eine selbstbewusste, freiheitsliebende und zugleich tiefreligiöse
Frau. Zynischerweise wird ihr gerade ihre Spiritualität zum
Verhängnis. In der stärksten Szene des Abends rufen die
Frauen, angeleitet von Apak, zum Gebet, bis sie durch das Gebrüll
der darob außer Fassung
geratenen Männer niedergeschrien werden. In diesen Augenblicken
verwandelt sich die quasireligiöse Entrückung der Frau
durch die überkommene Operndramaturgie zu einer erneuerten,
von den Frauen selbst praktizierten Religion. Für das westliche
Publikum gibt es hier viel zu lernen; zum Beispiel, dass die einfache
Antithese von Tradition versus Emanzipation und Aufklärung,
mit der man unsererseits oft die ganze Weltgeschichte zu erklären
beliebt, nicht hinreicht, um die Frauen und auch die Männer,
die sich heute im Nahen Osten im Aufbruch befinden, wirklich zu
verstehen.
Dass die Probleme aus der Welt Nizamis weiterhin aktuell sind,
gleichviel ob in der Heimat des Dichters oder anderswo, unterstreicht
der Epilog. Streng bewacht von einer Phalanx waffenstarrender Uniformierter
fragen modern gekleidete Frauen nach den Fortschritten ihres Freiheitskampfes.
Unter ihnen entdeckt man erneut Apak, jetzt in der Gestalt Nedas,
jener iranischen Studentin, die im Sommer 2009 bei einer Demonstration
in Teheran auf offener Straße erschossen wurde. Dem Philosophen
Charles Fourier wird der Satz nachgerühmt, der Kulturgrad
einer Gesellschaft sei nach der Stellung zu beurteilen, welche
die Frauen in derselben einnehmen. „Neda“ ist die desillusionierende
Probe auf Fouriers Einsicht für die Vergangenheit und die
Gegenwart.
Eine dringliche Thematik also, der Mashayekhi nur eine viel zu
blasse Musik unterlegt hat. Ein zäher Mahlstrom im Orchester,
der mit viel gutem Willen als der in Musik übersetzte gesellschaftliche
Stillstand gedeutet werden könnte, wird von nur wenigen illustrativen
Effekten aufgelockert, die sich in ihrer Wirkung rasch abstumpfen.
Einige unkonventionelle spiel- und gesangstechnische Episoden bleiben
für die Erweiterung des Ausdrucksspektrums folgenlos. Überaus
sängerfreundlich sind die Vokalpartien ausgefallen, deren
emotionale Höhepunkte durch eine Art Bergsches Espressivo
akzentuiert werden; reichlich Gelegenheit für das Osnabrücker
Sängerensemble, sich von seiner vorteilhaftesten Seite zu
präsentieren. Neben Marco Vassalli (Nizami) überzeugt
besonders Anja Meyer durch die ausstrahlungsstarke Präsenz
ihrer Darstellung der Apak. Der im zeitgenössischen Metier
hervorragend bewährte Chor (präzise und sicher einstudiert
von Peter Sommerer) fasziniert erneut durch die virtuose Meisterung
kniffliger Effekte und sein impulsives Spiel. Am Pult des Osnabrücker
Symphonieorchesters steht mit Daniel Inbal ein hochintelligenter
Musiker, der aus einem Minimum an musikalischer Substanz noch ein
Maximum an
Hörerlebnissen herausgepresst hat. So ergibt sich das Kuriosum,
dass eine insgesamt schwache Partitur dennoch nachhaltigen Eindruck
macht.
Christian Tepe
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