Neue Formen des Musiktheaters
Tagung des Instituts für Neue Musik und Musikerziehung · Von
Andreas Hauff
„Ich kenne heute keinen, der keine Oper schreibt“,
sagte Wolfgang Rihm als Gast des ihm gewidmeten Themenblocks bei
der 64. Frühjahrstagung des Instituts für Neue Musik
und Musikerziehung in Darmstadt.
Nein, tot ist die Oper schon lange nicht mehr, und auch die Opernhäuser
will niemand mehr anzünden. Die Darmstädter Tagung unter
dem Motto „Neue Musik in Bewegung – Musik- und Tanztheater
heute“ traf thematisch ins Schwarze. Die Vorträge waren gut besucht, das Interesse am Thema lebhaft
und weitgefächert. Sitzungsleiter Jörn Peter Hiekel versuchte
zu Anfang einen Überblick und nannte eine Reihe von maßgebenden
Referenz-Werken. So sinnvoll dieser Versuch der Orientierung war,
so schwierig blieb die Verständigung. Wer unter den Anwesenden
kannte überhaupt alle diese über europäische und
deutsche Bühnen verstreuten Aufführungen? Selbst unter
den Kennern gingen die Werturteile oft diametral auseinander. Immer
wieder fragte man sich: Nach welchen Kriterien wird hier überhaupt
geurteilt?
Zentrale Entwicklungen
Dass sich mit Albrecht Wellmer ein ausgewiesener Philosoph des
Themas „Musiktheater heute“ annahm, brachte etwas Klarheit.
Unter den Stichworten „Regietheater“, „Postdramatisches
Theater“ und „Einsatz neuer Technologien und Medien“ charakterisierte
er drei zentrale Entwicklungen der jüngeren Vergangenheit.
Inwieweit allerdings die Perspektive zeitgenössischer Kunst
tatsächlich erhellend auf überlieferte Werke wirkt, wäre
eingehender zu untersuchen. Nicht jede körperliche Verrichtung
auf der Bühne, nicht jede großformatige Videoinstallation,
die sich als Befreiung von bürgerlichen Kunsttempel-Traditionen
feiern lässt, erweitert den Horizont. Die teilweise hysterische
Polarisierung zwischen „Regietheater“-Anhängern
und „Werktreue“-Fans ließe sich entschärfen,
wenn man sich ernsthaft Gedanken machen würde über das
Geschichtsbewusstsein von Theatermachern und -besuchern. Wo Wellmer
Adornos Schreckensbild vom nostalgisch umwehten Opernmuseum zitiert,
bleibt außer Acht, was ein gutes Museum heute leistet: Vergangenes
und Gegenwärtiges in eine sinnvolle und erhellende Beziehung
zu setzen. Das aber wäre eine zentrale Anforderung an eine
Musiktheater-Regie, die sich mit alten Werken auseinandersetzt
oder mit neueren, die die Vergangenheit thematisieren. Interaktion von Musik und Theater
Dass modernes Musiktheater abseits etablierter Institutionen
blüht,
machte Christa Brüstle mit ihrem Vortrag „Diesseits
und jenseits der Oper“ deutlich, der sich um ungewöhnliche
Inszenierungen am und im Wasser drehte. Ein Videomitschnitt der
Berliner Produktion „AquAria“ im Neuköllner Stadtbad
(2007/08) zeigte die Protagonistin singend unter Wasser im Taucheranzug.
Die eigentlichen Zuschauer saßen damals am Beckenrand. Immer
wieder stellte sich in den drei Sitzungstagen die Frage, was eine
Videoaufzeichnung wirklich transportieren kann von einem vielschichtigen
Ereignis aus Raum, Bewegung, Musik und Sprache. Einen Ausschnitt
aus Martin Schläpfers faszinierender Choreografie zu Ligetis „Ramifications“ kommentierte
ein Zuschauer gelangweilt mit: „Da hab ich schon Besseres
gesehen.“
Dabei dürfte derzeit kaum ein Choreograf so intensiv an der
Nahtstelle von Bewegung und Musik arbeiten wie Martin Schläpfer.
Stephanie Schroedter bekannte in ihrem Vortrag über „Tendenzen
der Interaktion von Tanz und Musik im Theater“, dass sie
geradezu auf Schläpfers bevorstehende Uraufführung zu
Morton Feldmans „Neither“ warte. Sie unterschied vier
Grundkategorien, in denen Tanz, Musik und weitere Elemente in unterschiedlicher
Gewichtung wirken: Die Liste führte vom (konventionellen) „Tanz
im Musiktheater“ über das „Durchchoreografierte
Musiktheater“ und das „Durchmusikalisierte Tanztheater“ bzw. „Musik-Tanztheater“ zum
stark performativ geprägten „Tanz-Musik-Theater“ (oder „Bewegungs-Klang-Theater“).
Deutlich wurde, wie sehr die Tanzwissenschaft zurzeit um die Aufführungsanalyse
ringt. Wahrnehmungsmöglichkeiten
Instruktiv war Ursula Brandstätters Referat über „Musik
und Bewegung – wahrnehmungspsychologische Erkenntnisse – exemplifiziert
und falsifiziert an ‚Jagden und Formen’ von Wolfgang
Rihm und Sasha Waltz“. Ihr Resümee möchte man manchen
Theaterleuten und -gehern gern ins Stammbuch schreiben: „Ästhetische
Wahrnehmung beruht auf der Alltagswahrnehmung, aber sie spielt
mit diesen Mechanismen und eröffnet neue Wahrnehmungsmöglichkeiten.“ Ein
wirklich neues „Format“ von Musiktheater hat offensichtlich
der Komponist José María Sánchez-Verdú mit
seiner Kammer-oper „Gramma – Gärten der Schrift“ entwickelt, über
die er anschaulich berichtete. Das Werk thematisiert die Bedeutung
der Schrift und die Aura von Kunst. Das Publikum sitzt inmitten
des Orchesters und blättert in einem kunstvoll gestalteten
Buch, das zugleich die Partitur darstellt. Die Blättergeräusche
sind einkomponiert, doch der Zuhörer behält die Freiheit,
eigenständig vor- und zurückzublättern.
Andreas Hauff
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