Dass sich mit Albrecht Wellmer ein ausgewiesener Philosoph des Themas „Musiktheater heute“ annahm, brachte etwas Klarheit. Unter den Stichworten „Regietheater“, „Postdramatisches Theater“ und „Einsatz neuer Technologien und Medien“ charakterisierte er drei zentrale Entwicklungen der jüngeren Vergangenheit. Inwieweit allerdings die Perspektive zeitgenössischer Kunst tatsächlich erhellend auf überlieferte Werke wirkt, wäre eingehender zu untersuchen. Nicht jede körperliche Verrichtung auf der Bühne, nicht jede großformatige Videoinstallation, die sich als Befreiung von bürgerlichen Kunsttempel-Traditionen feiern lässt, erweitert den Horizont. Die teilweise hysterische Polarisierung zwischen „Regietheater“-Anhängern und „Werktreue“-Fans ließe sich entschärfen, wenn man sich ernsthaft Gedanken machen würde über das Geschichtsbewusstsein von Theatermachern und -besuchern. Wo Wellmer Adornos Schreckensbild vom nostalgisch umwehten Opernmuseum zitiert, bleibt außer Acht, was ein gutes Museum heute leistet: Vergangenes und Gegenwärtiges in eine sinnvolle und erhellende Beziehung zu setzen. Das aber wäre eine zentrale Anforderung an eine Musiktheater-Regie, die sich mit alten Werken auseinandersetzt oder mit neueren, die die Vergangenheit thematisieren. Interaktion von Musik und TheaterDass modernes Musiktheater abseits etablierter Institutionen blüht, machte Christa Brüstle mit ihrem Vortrag „Diesseits und jenseits der Oper“ deutlich, der sich um ungewöhnliche Inszenierungen am und im Wasser drehte. Ein Videomitschnitt der Berliner Produktion „AquAria“ im Neuköllner Stadtbad (2007/08) zeigte die Protagonistin singend unter Wasser im Taucheranzug. Die eigentlichen Zuschauer saßen damals am Beckenrand. Immer wieder stellte sich in den drei Sitzungstagen die Frage, was eine Videoaufzeichnung wirklich transportieren kann von einem vielschichtigen Ereignis aus Raum, Bewegung, Musik und Sprache. Einen Ausschnitt aus Martin Schläpfers faszinierender Choreografie zu Ligetis „Ramifications“ kommentierte ein Zuschauer gelangweilt mit: „Da hab ich schon Besseres gesehen.“ Dabei dürfte derzeit kaum ein Choreograf so intensiv an der Nahtstelle von Bewegung und Musik arbeiten wie Martin Schläpfer. Stephanie Schroedter bekannte in ihrem Vortrag über „Tendenzen der Interaktion von Tanz und Musik im Theater“, dass sie geradezu auf Schläpfers bevorstehende Uraufführung zu Morton Feldmans „Neither“ warte. Sie unterschied vier Grundkategorien, in denen Tanz, Musik und weitere Elemente in unterschiedlicher Gewichtung wirken: Die Liste führte vom (konventionellen) „Tanz im Musiktheater“ über das „Durchchoreografierte Musiktheater“ und das „Durchmusikalisierte Tanztheater“ bzw. „Musik-Tanztheater“ zum stark performativ geprägten „Tanz-Musik-Theater“ (oder „Bewegungs-Klang-Theater“). Deutlich wurde, wie sehr die Tanzwissenschaft zurzeit um die Aufführungsanalyse ringt. Wahrnehmungsmöglichkeiten Instruktiv war Ursula Brandstätters Referat über „Musik und Bewegung – wahrnehmungspsychologische Erkenntnisse – exemplifiziert und falsifiziert an ‚Jagden und Formen’ von Wolfgang Rihm und Sasha Waltz“. Ihr Resümee möchte man manchen Theaterleuten und -gehern gern ins Stammbuch schreiben: „Ästhetische Wahrnehmung beruht auf der Alltagswahrnehmung, aber sie spielt mit diesen Mechanismen und eröffnet neue Wahrnehmungsmöglichkeiten.“ Ein wirklich neues „Format“ von Musiktheater hat offensichtlich der Komponist José María Sánchez-Verdú mit seiner Kammer-oper „Gramma – Gärten der Schrift“ entwickelt, über die er anschaulich berichtete. Das Werk thematisiert die Bedeutung der Schrift und die Aura von Kunst. Das Publikum sitzt inmitten des Orchesters und blättert in einem kunstvoll gestalteten Buch, das zugleich die Partitur darstellt. Die Blättergeräusche sind einkomponiert, doch der Zuhörer behält die Freiheit, eigenständig vor- und zurückzublättern. Andreas Hauff
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