In der Renaissance begann sich vor allem an den italienischen Fürstenhöfen eine prunkvoll ausgestattete Tanzkultur zu entwickeln. Die Florentinerin Katharina von Medici, die 1533 Henri II heiratete, ließ am französischen Hof große Tanzspektakel aufführen. Anlässlich hoher Empfänge und adeliger Hochzeiten fanden mehrstündige Inszenierungen statt, in denen Pagen, Nymphen und Najaden, Helden, griechische Götter und Satyrn, Musiker, Sänger und Chöre der Natur nachgeahmte prachtvolle Landschaftsszenerien bevölkerten. In dem von der Medici 1581 bei dem Italiener Balthasar de Beaujoyeux (eigentlich Baldassarino de Belgiojoso) bestellten „Le Ballet comique de la reine“ fügten sich die verschiedenen Elemente: Tanz, Musik, Gesang, gesprochene Texte und metaphorische Huldigungen der Königsfamilie zum ersten Mal zu einer zusammenhängenden Geschichte um die Zauberin Circe. Solche Handlungsballette waren typische herrscherliche Machtdemonstrationen, die auch eine politische Zielrichtung hatten. In „La Défense du Paradis“ verteidigen Charles IX und seine Brüder (Söhne von Henri II und Katharina) das „Paradies auf Erden“ (= das katholische Frankreich), während es von dem hugenottischen Henri de Navarre und seinen Freunden angegriffen wird. Diese enden im Ballett beinahe in den Flammen der Hölle: eine Vorwarnung – geradezu eine Generalprobe der nur wenige Tage später (am 24. August 1572) wütenden Bartholomäusnacht, in der, mit Duldung Katharinas, allein in Paris zwischen drei- und viertausend Hugenotten hingemetzelt wurden. Auch späterhin, sogar noch im 20. Jahrhundert, wurden gelegentlich politische Inhalte verhandelt, speziell in totalitären Regimen. „Das Rote Frauenbataillon“, zunächst eine Oper, die später auch verfilmt wurde, erlebte als propagandistisches Ballett 1964 seine Uraufführung in Peking. Verherrlichend dargestellt wurde, auf klassischer Spitze und, stilwidrig, mit geschulterten Gewehren, der Aufstieg eines Bauernmädchens zur Parteisekretärin und Anführerin des Roten Frauenbataillons auf der Insel Hainan während des Bürgerkrieges 1927 bis 1937. Favorit: Märchenstoffe Tagespolitisches und komplizierte Sachverhalte sind selbstredend
nicht der ideale Stoff für das wortlose Medium Tanz. Am besten
lassen sich über und mit Bewegung und Mimik essentielle Gefühle
und Grundkonflikte der menschlichen Existenz darstellen. Die Ballett-Klassik
und -Romantik des 19. Jahrhunderts – Unterhaltung vor allem
für Aris-tokratie und reiches Bürgertum – bedienten
sich bei Märchen und märchenhaften Stoffen. „Schwanensee“ greift
Motive auf aus Johann K. A. Musäus‘ „Der geraubte
Schleier“, veröffentlicht in seinen „Volksmärchen
der Deutschen, 1782-86“. „Dornröschen“ basiert
auf der Geschichte der Prinzessin Aurora, die sich in Charles Perraults
Sammlung „Feenmärchen für die Jugend“ von
1697 findet. E. T. A. Hoffmann lieferte mit seinen fantastischen
Geschichten die erzählerische Grundlage für „Nussknacker“ und „Coppélia“.
Choreografen dieser Ära ließen sich gelegentlich – oft
auch literarisch inspiriert – eigens Libretti schreiben.
Die Handlung des romantischen „Giselle“-Balletts entstand
in der Zusammenarbeit des Autoren-Trios Vernoy de Saint-Georges,
Théophile Gauthier und Jean Coralli, die sich von der Legende über
die Wilis hatten anregen lassen, wie sie Heinrich Heine in seinem
Buch „Zur Geschichte der neuen schönen Literatur in
Deutschland“ 1833 beschrieb. In nuce: Als Giselle erfährt,
dass ihr Liebster ein Adliger und bereits standesgemäß verlobt
ist, verwirrt sich ihr Geist und sie stirbt an gebrochenem Herzen.
Aufgenommen von den Wilis, jenen vor der Hochzeit gestorbenen Bräuten,
die nächtens für ein paar Stunden in die Welt der Lebenden
zurückkehren und treulose Männer zu Tode tanzen, kann
diese selbstlos Liebende ihren Albrecht gerade noch vor den rachsüchtigen
Tanz-Geistern retten. Und dann haben wir ja auch noch John Crankos „Der Widerspenstigen Zähmung“ oder Neumeiers „Othello“, „Was Ihr wollt“ und „Hamlet“. Den Versionen-Rekord hält wohl „Romeo und Julia“, das weit vor Leonid Lavrovskys berühmter Brünner Uraufführung zu Prokofjews Ballettkomposition 1938, 1940 in St. Petersburg mit der wunderbaren Galina Ulanowa, bereits im 18. Jahrhundert als Ballett auftaucht. Überzeitliche Motive
Warum also immer wieder dieser Elisabethaner, der doch vierhundert Jahre entfernt von uns ist? Zum einen: bei Shakespeare geht es, gleich in welchem gesellschaftlichen oder historischen Kontext die Stücke spielen, um das, was die Menschen umtreibt, um Überzeitliches. „Da ist doch kein Motiv des Menschenlebens, das er nicht dargestellt und ausgesprochen hätte. Und alles mit welcher Leichtigkeit und Freiheit!“ schwärmte Goethe. Zum anderen: Wenn wir von der zu Recht gültigen Maxime ausgehen, dass zwei auf der Bühne sich gegenüberstehende Menschen zwangsläufig schon eine Geschichte andeuten, wird unmittelbar plausibel, warum Shakespeare sich so gut in das wortlose Medium Tanz übersetzen lässt. Seine Figuren, Figurenbegegnungen und -konfrontationen sind äußerst klar gezeichnet – sogar der reichlich verzwickte „Sommernachtstraum“ mit seinen vier Paaren. Pucks Wunderblumen-Schabernack zwecks schrägem Umlenken erotischer oder auch echter Liebes-Bindung bei Elfenkönigin Titania und den jungen Paaren Hermia/Lysander und Helena/Demetrius ist ja schon als pantomimische Darstellung angelegt. Erst recht das „Rüpel“-Theaterspiel der Handwerker. Und das „Sommernachts“-Elfenvolk verlangt zwingend nach einer tänzerisch bewegten Umsetzung. Natürlich lassen sich komplexe gesellschaftspolitische Sachverhalte nur vereinfacht, zeichenhaft vermitteln. In „Romeo und Julia“ wird die Feindschaft zwischen den Montagues und Capulets einmal durch deutlich unterschiedliche Kostüme signalisiert, zum andern durch pointierte Pantomime: Drohgebärden, Fechtkampf der beiden Parteien, das Dolch-Duell der Rivalen Paris und Romeo. Dabei hat sich die Pantomime seit den klassischen und romantischen Balletten des 19. Jahrhunderts grundlegend modernisiert. In „Dornröschen“, „Schwanensee“ oder „Giselle“ gibt es noch festgelegte Pantomime-Vokabeln: die hoch über den Kopf mehrmals umeinander geführten Hände bedeuten den Wunsch oder die Aufforderung zu tanzen; beide Hände aufs Herz heißt, dass man liebt, das Zeigen auf den Ringfinger, dass man verlobt ist, das Tippen mit der Hand an die Schläfe bei leichtem Kopfschütteln, dass man vergesslich war – und so weiter. Mit der in den 1960er-Jahren von den Neoklassikern Cranko, Kenneth MacMillan und Frederick Ashton auf den Weg gebrachten Renaissance des Handlungsballetts verlieren diese „Rede-Gesten“ das Holzschnitthafte, nähern sich der Alltagsgestik an. Mehr und mehr verschwindet damit die frühere Trennung zwischen virtuoser Schrittfolge hier und Pantomime dort. Was erzählt werden soll, entsteht unmittelbar im Fluss des Tanzes selbst. Crankos „Onegin“ nach Puschkins Vers-Epos ist dafür ein Beispiel par excellence. Den Schluss-Pas-de-deux von Tatjana und Onegin hat Cranko unmittelbar aus der Idee dieses hochdramatischen Abschieds heraus choreografiert. Und wenn richtig getanzt, werden Partnergriffe, Hebungen, Ports de bras und Bodenfiguren, wie virtuos sie einerseits auch sein mögen, zum reinen leidenschaftlich-schmerzhaften Ausdruck einer noch lodernden, aber letztlich nicht mehr möglichen Liebe. Das Kunstsprachhafte ist in eine Ausdruckswirklichkeit übergegangen. Neue InterpretationsfreiheitenDiese zunächst einmal rein formale neue Lebensnähe verdankt sich sicherlich auch dem Einfluss des Ausdruckstanzes der 1920er-Jahre. Für eine Mary Wigman konnte eine Hand weinen, ein Fuß lächeln. Mit einer nun neuen freieren Einstellung zur ursprünglich schrittmäßig eher festgezurrten Ballett-Sprache, mit den weiteren Einflüssen des US-Modern-Dance, vor allem auch mit dem dramaturgischen Wissen, dass man literarische Vorlagen auf ihren Kern reduzieren kann und muss, wagten sich die Choreografen auch an ausladende Romane. Neumeier choreografierte 1978 Alexandre Dumas Fils‘ „Die Kameliendame“. Kenneth MacMillan entwarf 1974 sein „Manon“-Ballett nach Abbé Prévosts „Histoire du Chevalier des Grieux et de Manon Lescaut“. Dieser Roman von 1731 wurde allerdings schon 1830 an der Pariser Oper von Jean Aumer als Ballett geboten, vermutlich zu der Zeit noch mit viel traditioneller Pantomime.
Mit dem schauspielaffinen Tanztheater der 70er-Jahre und dem ständig sich erneuernden zeitgenössischen Tanz haben sich noch weitere Möglichkeiten der choreografischen Text-Umsetzung ergeben. Nicht zuletzt mag das mit Ideen spielende Regietheater zu individuellen Sichtweisen und Interpretationsfreiheiten ermutigt haben. Neumeier, möglicherweise inspiriert von den losen Szenenfolgen einer Pina Bausch, entwarf 1985 „Mozart und Themen aus Wie es Euch gefällt“ und 1996 „Vivaldi oder Was Ihr wollt“. Für dieses Ballett, so Neumeier in einem Interview während der Probenzeit, nehme er nur Handlungselemente aus dem Shakespeare-Drama: „Ich habe, gerade jetzt im Anfangsstadium, den Tänzern zum Beispiel nie gesagt, welche Figuren sie darstellen sollen. Auf diese Weise können sich neue Situationen entwickeln,....die ruhig auch das Korsett einer schon existierenden Dramaturgie sprengen dürfen.“ John Neumeier ist kein Erneuerer des Balletts wie William Forsythe. Aber mit solchen Brechungen seiner literarischen Vorgabe bewegt er sich doch einen kleinen Schritt in Richtung forsythescher Postmoderne (Forsythe, zur Erinnerung, hat ja nicht nur das neoklassische Vokabular dekonstruiert, sondern auch die traditionelle, logisch verlaufende Handlung). Neumeiers abgewandelte Literatur-Ballette zielen zwar nicht wie Forsythes Stücke auf Irritation und Verunsicherung. Dennoch präsentieren sie eine modernere Form der literarischen Verarbeitung – und damit eine intensivere Herausforderung der Wahrnehmung. AlltagskörperspracheAber auch die Themen, die Inhalte rücken näher an die Alltagserfahrung des Zuschauers. Von den Märchen und Legenden, den leichtgewichtigen Komödienintrigen und Liebeshändeln (Jean Daubervals „La fille mal gardée“ von 1789 ist so eine rustikale Liebesgeschichte, spielt aber immerhin schon im bäuerlichen Milieu), wie sie vorwiegend im 18. und 19. Jahrhundert vertanzt wurden, bis zu den ernsthaften, aktuelle Realität reflektierenden Werken des 20. und 21. Jahrhunderts, haben Ballett und moderner Tanz einen weiten Weg zurückgelegt. Hier nur einige exemplarische Beispiele: die Schwedin Birgit Cullberg choreografiert 1950 in neoklassisch-modernem Stil „Fräulein Julie“ nach Strindbergs naturalistischem Trauerspiel. Ihr Sohn Mats Ek, radikaler modern, lässt 1982 die einst romantische Giselle im Irrenhaus enden und macht 1996 „Dornröschen“ und ihren Prinzen, wenn auch noch zur Tschaikowsky-Partitur, zu zwei an der Nadel hängenden Junkies. Auch die Bewegungssprache, um noch einmal aufs Formale zurückzukommen, nähert sich in diesen modernen Tanzstücken in weiten Teilen der Alltagskörpersprache. In Hans Henning Paars „Romeo und Julia“ von 2008 blitzen zwischen den Montagues und den Capulets keine Degen. Schiere Körperkraft, ringende Arme, würgende Hände, Karategriffe sind hier die Kampfwaffen. Es gibt auch keine virtuos ausgestellte Technik mehr, keine dramatische Liebesgeste, keine historische aristokratische Ausstattung. Die auf den Partner zuwehende Armbewegung ist Berührungswunsch; das immer nur flüchtige Halten und Heben des Pas de deux ist zärtliche Umarmung und hochzeitliche Vereinigung auf einem schlichten Laken. Das Handlungsballett, das literarische Ballett, obgleich durch die Jahrzehnte immer mal wieder tot gesagt, lebt doch noch – der neuen Zeit angepasst. Malve Gradinger
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