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Schlag nach bei Shakespeare
Handlungs- und Literaturballette im Wandel · Von Malve Gradinger Ein bisschen haben sie immer miteinander konkurriert: der rein
formale und der erzählende Tanz. Amerika, sportlich, körperbewusst
und weniger traditionsbelastet, hat die Formalisten leichter akzeptiert
als Europa mit seiner 350-jährigen Tanzgeschichte (die Gründung
der Pariser Académie Royale de Danse 1661/62 durch Ludwig
XIV. als Ausgangsdatum angenommen). Für den 2009 verstorbenen
großen Merce Cunningham, der seine ganz eigene postmoderne
Form fand, genügte der Tanz sich selbst, Bewegung musste keine
Bedeutung haben. Und diese Sicht galt für die Mehrzahl der
Tanzschöpfer des Modern und Postmodern Dance. Ähnlich
in der Neoklassik: Der gebürtige Georgier George Balanchine,
der mit seinem New York City Ballet die Neoklassik maßgeblich
prägte, entwarf zwar auch einige Handlungsballette, aber vorwiegend
doch – mit dem Ohr an der Musik – abstrakte Stücke.
Kriegs-Tänze
Für Tanzfans und Tanz-Fanatiker kein Problem. Sie können
stundenlang und fasziniert „reinen Tanz“ anschauen.
Das breite Publikum im westlichen Kulturkreis aber möchte
emotional berührt werden, favorisiert eine erzählte Geschichte.
Die ersten Ansätze zu einer getanzten Handlung finden sich
schon in den auf freien Plätzen aufgeführten Moriscen
des Mittelalters. Die ursprünglich spanische „Moresca“ war
ein bei Trommelwirbel und Pfeifenklang getanztes Gefecht, das die
kriegerischen Auseinandersetzungen zwischen Christen und islamischen
Arabern, den Moros, darstellte und unweigerlich mit dem Tod des
Mauren-Anführers endete.
In der Renaissance begann sich vor allem an den italienischen
Fürstenhöfen
eine prunkvoll ausgestattete Tanzkultur zu entwickeln. Die Florentinerin
Katharina von Medici, die 1533 Henri II heiratete, ließ am
französischen Hof große Tanzspektakel aufführen.
Anlässlich hoher Empfänge und adeliger Hochzeiten fanden
mehrstündige Inszenierungen statt, in denen Pagen, Nymphen
und Najaden, Helden, griechische Götter und Satyrn, Musiker,
Sänger und Chöre der Natur nachgeahmte prachtvolle Landschaftsszenerien
bevölkerten. In dem von der Medici 1581 bei dem Italiener
Balthasar de Beaujoyeux (eigentlich Baldassarino de Belgiojoso)
bestellten „Le Ballet comique de la reine“ fügten
sich die verschiedenen Elemente: Tanz, Musik, Gesang, gesprochene
Texte und metaphorische Huldigungen der Königsfamilie zum
ersten Mal zu einer zusammenhängenden Geschichte um die Zauberin
Circe. Solche Handlungsballette waren typische herrscherliche Machtdemonstrationen,
die auch eine politische Zielrichtung hatten. In „La Défense
du Paradis“ verteidigen Charles IX und seine Brüder
(Söhne von Henri II und Katharina) das „Paradies auf
Erden“ (= das katholische Frankreich), während es von
dem hugenottischen Henri de Navarre und seinen Freunden angegriffen
wird. Diese enden im Ballett beinahe in den Flammen der Hölle:
eine Vorwarnung – geradezu eine Generalprobe der nur wenige
Tage später (am 24. August 1572) wütenden Bartholomäusnacht,
in der, mit Duldung Katharinas, allein in Paris zwischen drei-
und viertausend Hugenotten hingemetzelt wurden.
Auch späterhin, sogar noch im 20. Jahrhundert, wurden gelegentlich
politische Inhalte verhandelt, speziell in totalitären Regimen. „Das
Rote Frauenbataillon“, zunächst eine Oper, die später
auch verfilmt wurde, erlebte als propagandistisches Ballett 1964
seine Uraufführung in Peking. Verherrlichend dargestellt wurde,
auf klassischer Spitze und, stilwidrig, mit geschulterten Gewehren,
der Aufstieg eines Bauernmädchens zur Parteisekretärin
und Anführerin des Roten Frauenbataillons auf der Insel Hainan
während des Bürgerkrieges 1927 bis 1937. Favorit: Märchenstoffe
Tagespolitisches und komplizierte Sachverhalte sind selbstredend
nicht der ideale Stoff für das wortlose Medium Tanz. Am besten
lassen sich über und mit Bewegung und Mimik essentielle Gefühle
und Grundkonflikte der menschlichen Existenz darstellen. Die Ballett-Klassik
und -Romantik des 19. Jahrhunderts – Unterhaltung vor allem
für Aris-tokratie und reiches Bürgertum – bedienten
sich bei Märchen und märchenhaften Stoffen. „Schwanensee“ greift
Motive auf aus Johann K. A. Musäus‘ „Der geraubte
Schleier“, veröffentlicht in seinen „Volksmärchen
der Deutschen, 1782-86“. „Dornröschen“ basiert
auf der Geschichte der Prinzessin Aurora, die sich in Charles Perraults
Sammlung „Feenmärchen für die Jugend“ von
1697 findet. E. T. A. Hoffmann lieferte mit seinen fantastischen
Geschichten die erzählerische Grundlage für „Nussknacker“ und „Coppélia“.
Choreografen dieser Ära ließen sich gelegentlich – oft
auch literarisch inspiriert – eigens Libretti schreiben.
Die Handlung des romantischen „Giselle“-Balletts entstand
in der Zusammenarbeit des Autoren-Trios Vernoy de Saint-Georges,
Théophile Gauthier und Jean Coralli, die sich von der Legende über
die Wilis hatten anregen lassen, wie sie Heinrich Heine in seinem
Buch „Zur Geschichte der neuen schönen Literatur in
Deutschland“ 1833 beschrieb. In nuce: Als Giselle erfährt,
dass ihr Liebster ein Adliger und bereits standesgemäß verlobt
ist, verwirrt sich ihr Geist und sie stirbt an gebrochenem Herzen.
Aufgenommen von den Wilis, jenen vor der Hochzeit gestorbenen Bräuten,
die nächtens für ein paar Stunden in die Welt der Lebenden
zurückkehren und treulose Männer zu Tode tanzen, kann
diese selbstlos Liebende ihren Albrecht gerade noch vor den rachsüchtigen
Tanz-Geistern retten.
Wenn es um Liebe und Eifersucht gehen soll, um Macht, Rivalität, Mord, Rache,
Schuld, Versöhnung oder Katastrophe, ist William Shakespeare der beliebteste
Librettist. Im April brachte Hans Henning Paar am Münchner Gärtnerplatztheater,
frei nach Shakespeare, einen „Sommernachtstraum“ heraus. Auch wenn
Tanzchef Paar nicht, wie Marius Petipa 1877 und exakt hundert Jahre später
John Neumeier, Mendelssohn Bartholdys gleichnamige Schauspielmusik (1826/1843)
verwendet hat, sondern Jazz- und Swingmusiken der 60er-/70er-Jahre, so reiht
er sich doch ein in die kaum noch überblickbare Schar von „Sommernachtstraum“-Choreografen:
Mikhail Fokine 1906 für das St. Petersburger Ballett, George Balanchine
1962 für sein New York City Ballet, Sir Frederick Ashton 1964 für das
Londoner Royal Ballet und Tom Schilling 1981 für die Komische Oper Berlin,
um nur ein paar wichtige Namen zu nennen.
Und dann haben wir ja auch noch John Crankos „Der Widerspenstigen Zähmung“ oder
Neumeiers „Othello“, „Was Ihr wollt“ und „Hamlet“.
Den Versionen-Rekord hält wohl „Romeo und Julia“, das weit vor
Leonid Lavrovskys berühmter Brünner Uraufführung zu Prokofjews
Ballettkomposition 1938, 1940 in St. Petersburg mit der wunderbaren Galina Ulanowa,
bereits im 18. Jahrhundert als Ballett auftaucht. Überzeitliche Motive
Warum also immer wieder dieser Elisabethaner, der doch vierhundert
Jahre entfernt von uns ist? Zum einen: bei Shakespeare geht es,
gleich in welchem gesellschaftlichen
oder historischen Kontext die Stücke spielen, um das, was die Menschen umtreibt,
um Überzeitliches. „Da ist doch kein Motiv des Menschenlebens, das
er nicht dargestellt und ausgesprochen hätte. Und alles mit welcher Leichtigkeit
und Freiheit!“ schwärmte Goethe. Zum anderen: Wenn wir von der zu
Recht gültigen Maxime ausgehen, dass zwei auf der Bühne sich gegenüberstehende
Menschen zwangsläufig schon eine Geschichte andeuten, wird unmittelbar plausibel,
warum Shakespeare sich so gut in das wortlose Medium Tanz übersetzen lässt.
Seine Figuren, Figurenbegegnungen und -konfrontationen sind äußerst
klar gezeichnet – sogar der reichlich verzwickte „Sommernachtstraum“ mit
seinen vier Paaren. Pucks Wunderblumen-Schabernack zwecks schrägem Umlenken
erotischer oder auch echter Liebes-Bindung bei Elfenkönigin Titania und
den jungen Paaren Hermia/Lysander und Helena/Demetrius ist ja schon als pantomimische
Darstellung angelegt. Erst recht das „Rüpel“-Theaterspiel der
Handwerker. Und das „Sommernachts“-Elfenvolk verlangt zwingend nach
einer tänzerisch bewegten Umsetzung.
Natürlich lassen sich komplexe gesellschaftspolitische Sachverhalte nur
vereinfacht, zeichenhaft vermitteln. In „Romeo und Julia“ wird die
Feindschaft zwischen den Montagues und Capulets einmal durch deutlich unterschiedliche
Kostüme signalisiert, zum andern durch pointierte Pantomime: Drohgebärden,
Fechtkampf der beiden Parteien, das Dolch-Duell der Rivalen Paris und Romeo.
Dabei hat sich die Pantomime seit den klassischen und romantischen
Balletten des 19. Jahrhunderts grundlegend modernisiert. In „Dornröschen“, „Schwanensee“ oder „Giselle“ gibt
es noch festgelegte Pantomime-Vokabeln: die hoch über den Kopf mehrmals
umeinander geführten Hände bedeuten den Wunsch oder die Aufforderung
zu tanzen; beide Hände aufs Herz heißt, dass man liebt, das Zeigen
auf den Ringfinger, dass man verlobt ist, das Tippen mit der Hand an die Schläfe
bei leichtem Kopfschütteln, dass man vergesslich war – und so weiter.
Mit der in den 1960er-Jahren von den Neoklassikern Cranko, Kenneth MacMillan
und Frederick Ashton auf den Weg gebrachten Renaissance des Handlungsballetts
verlieren diese „Rede-Gesten“ das Holzschnitthafte, nähern sich
der Alltagsgestik an. Mehr und mehr verschwindet damit die frühere Trennung
zwischen virtuoser Schrittfolge hier und Pantomime dort. Was erzählt werden
soll, entsteht unmittelbar im Fluss des Tanzes selbst. Crankos „Onegin“ nach
Puschkins Vers-Epos ist dafür ein Beispiel par excellence. Den Schluss-Pas-de-deux
von Tatjana und Onegin hat Cranko unmittelbar aus der Idee dieses hochdramatischen
Abschieds heraus choreografiert. Und wenn richtig getanzt, werden Partnergriffe,
Hebungen, Ports de bras und Bodenfiguren, wie virtuos sie einerseits auch sein
mögen, zum reinen leidenschaftlich-schmerzhaften Ausdruck einer noch lodernden,
aber letztlich nicht mehr möglichen Liebe. Das Kunstsprachhafte ist in eine
Ausdruckswirklichkeit übergegangen. Neue Interpretationsfreiheiten Diese zunächst einmal rein formale neue Lebensnähe
verdankt sich sicherlich auch dem Einfluss des Ausdruckstanzes
der 1920er-Jahre. Für eine Mary Wigman
konnte eine Hand weinen, ein Fuß lächeln. Mit einer nun neuen
freieren Einstellung zur ursprünglich schrittmäßig eher festgezurrten
Ballett-Sprache, mit den weiteren Einflüssen des US-Modern-Dance, vor
allem auch mit dem dramaturgischen Wissen, dass man literarische Vorlagen
auf ihren
Kern reduzieren kann und muss, wagten sich die Choreografen auch an ausladende
Romane. Neumeier choreografierte 1978 Alexandre Dumas Fils‘ „Die
Kameliendame“. Kenneth
MacMillan entwarf 1974 sein „Manon“-Ballett nach Abbé Prévosts „Histoire
du Chevalier des Grieux et de Manon Lescaut“. Dieser Roman von 1731
wurde allerdings schon 1830 an der Pariser Oper von Jean Aumer als Ballett
geboten,
vermutlich zu der Zeit noch mit viel traditioneller Pantomime.
Mit dem schauspielaffinen Tanztheater der 70er-Jahre und dem
ständig sich
erneuernden zeitgenössischen Tanz haben sich noch weitere Möglichkeiten
der choreografischen Text-Umsetzung ergeben. Nicht zuletzt mag das mit Ideen
spielende Regietheater zu individuellen Sichtweisen und Interpretationsfreiheiten
ermutigt haben. Neumeier, möglicherweise inspiriert von den losen Szenenfolgen
einer Pina Bausch, entwarf 1985 „Mozart und Themen aus Wie es Euch gefällt“ und
1996 „Vivaldi oder Was Ihr wollt“. Für dieses Ballett, so
Neumeier in einem Interview während der Probenzeit, nehme er nur Handlungselemente
aus dem Shakespeare-Drama: „Ich habe, gerade jetzt im Anfangsstadium,
den Tänzern zum Beispiel nie gesagt, welche Figuren sie darstellen sollen.
Auf diese Weise können sich neue Situationen entwickeln,....die ruhig
auch das Korsett einer schon existierenden Dramaturgie sprengen dürfen.“ John
Neumeier ist kein Erneuerer des Balletts wie William Forsythe. Aber mit solchen
Brechungen seiner literarischen Vorgabe bewegt er sich doch einen kleinen Schritt
in Richtung forsythescher Postmoderne (Forsythe, zur Erinnerung, hat ja nicht
nur das neoklassische Vokabular dekonstruiert, sondern auch die traditionelle,
logisch verlaufende Handlung). Neumeiers abgewandelte Literatur-Ballette zielen
zwar nicht wie Forsythes Stücke auf Irritation und Verunsicherung. Dennoch
präsentieren sie eine modernere Form der literarischen Verarbeitung – und
damit eine intensivere Herausforderung der Wahrnehmung.
Alltagskörpersprache
Aber auch die Themen, die Inhalte rücken näher an die Alltagserfahrung
des Zuschauers. Von den Märchen und Legenden, den leichtgewichtigen Komödienintrigen
und Liebeshändeln (Jean Daubervals „La fille mal gardée“ von
1789 ist so eine rustikale Liebesgeschichte, spielt aber immerhin schon im bäuerlichen
Milieu), wie sie vorwiegend im 18. und 19. Jahrhundert vertanzt wurden, bis zu
den ernsthaften, aktuelle Realität reflektierenden Werken des 20. und 21.
Jahrhunderts, haben Ballett und moderner Tanz einen weiten Weg zurückgelegt.
Hier nur einige exemplarische Beispiele: die Schwedin Birgit Cullberg choreografiert
1950 in neoklassisch-modernem Stil „Fräulein Julie“ nach Strindbergs
naturalistischem Trauerspiel. Ihr Sohn Mats Ek, radikaler modern, lässt
1982 die einst romantische Giselle im Irrenhaus enden und macht 1996 „Dornröschen“ und
ihren Prinzen, wenn auch noch zur Tschaikowsky-Partitur, zu zwei an der Nadel
hängenden Junkies. Auch die Bewegungssprache, um noch einmal aufs Formale
zurückzukommen, nähert sich in diesen modernen Tanzstücken in
weiten Teilen der Alltagskörpersprache. In Hans Henning Paars „Romeo
und Julia“ von 2008 blitzen zwischen den Montagues und den Capulets keine
Degen. Schiere Körperkraft, ringende Arme, würgende Hände, Karategriffe
sind hier die Kampfwaffen. Es gibt auch keine virtuos ausgestellte Technik mehr,
keine dramatische Liebesgeste, keine historische aristokratische Ausstattung.
Die auf den Partner zuwehende Armbewegung ist Berührungswunsch; das immer
nur flüchtige Halten und Heben des Pas de deux ist zärtliche Umarmung
und hochzeitliche Vereinigung auf einem schlichten Laken.
Das Handlungsballett, das literarische Ballett, obgleich durch
die Jahrzehnte immer mal wieder tot gesagt, lebt doch noch – der neuen Zeit angepasst.
Malve Gradinger
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