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Berichte

Dürfen die das überhaupt?

John Neumeiers Corona-Choreografie »Ghost Light«

Sanft rollt eine Sextolenbewegung aus dem Lautsprecher: Schubert, Impromptu Ges-Dur. Bis auf einen Metallständer mit einer nackten Glühbirne ist der Saal weitgehend leer. Die Aufmerksamkeit wird sofort von den beiden Tänzern absorbiert: von den mühelos fließenden Bewegungen, mit denen ihre Körper kommunizieren, von der Spannung, die dabei entsteht. Mitten im Pas de deux bleibt Edvin Revazov wie angewurzelt stehen, und Anna Laudere sinkt unter seinen immer noch erhobenen Armen zusammen. Dreht sich weg. Geht ihm verloren.
„Bleib stehen!“, ruft der Choreograf von der Stirnseite des Saals aus Revazov zu und erklärt, während der Tänzer sich keuchend mit den Händen auf die Knie stützt: „Warte, bis du weitertanzt. Keine Bewegung – es ist so ein dramatischer Moment.“ Sie wiederholen die Sequenz. Die ist so eindringlich, dass die Welt draußen vergessen ist. Erst im Nachhinein dringt das Ungeheuerliche des Vorgangs ins Bewusstsein: Dürfen die das überhaupt? Einander so nahe kommen? Im Jahr der Pandemie?

Proben zu „Ghost Light“. Foto: Kiran West

Proben zu „Ghost Light“. Foto: Kiran West

Anna Laudere und Edvin Revazov, Erste Solisten beim Hamburg Ballett, dürfen das. Ausnahmsweise. Denn sie sind auch abseits der Bühne ein Paar. Intendant John Neumeier und seine Truppe kämpfen darum, wieder auftreten zu können. Am 6. September wird Neumeiers neues Ballett „Ghost Light“ uraufgeführt, das er gerade mit den Tänzern probt.

Ein Ballett unter Corona-Bedingungen ist eigentlich ein Ding der Unmöglichkeit. Wie soll Tanz ohne Nähe funktionieren? Ohne Berührung, ohne Interaktion? „Ich kenne kein Ballett des Repertoires, das mit Social Distancing funktioniert“, sagt Neumeier. Es gibt kein passendes Ballett? Warum dann keines kreieren? Ganz so einfach war das freilich nicht zu bewerkstelligen. Der Lockdown war ein Schock für die Compagnie – umso mehr, als klar wurde, dass es mit einer zweiwöchigen Probenpause nicht getan sein würde. „Der Stillstand bedeutete einen enormen Stress für die Tänzer“, sagt Neumeier. „Sie sind ja darauf angewiesen, ihr künstlerisches Ausdrucksmittel, ihren Körper, täglich zu trainieren.“ Das Team behalf sich, so gut es ging. Als erstes filmte es eine Trainingseinheit und machte sie den Tänzern online zugänglich. Mithilfe von Online-Konferenztools konnten die Tänzer später von zuhause aus live unter Anleitung trainieren. Wer Platz hatte, bekam ein zwei mal drei Meter großes Stück Linoleum-Tanzboden in die Küche, ins Schlaf- oder Wohnzimmer gelegt.

Ende April genehmigten Betriebsrat und Betriebsärztin die Wiederaufnahme des Trainings vor Ort. Neumeier und sein Stab hatten dafür einen minutiösen Plan ausgearbeitet und für alle 60 Tänzer geregelt: Um wieviel Uhr betritt jemand das Gebäude und geht in die Garderobe, auf welchem Weg gelangt er in den Ballettsaal, und wie verlässt er das Gebäude? Und das für zehn verschiedene Trainings pro Tag.

Aber was sollten sie spielen? Immer wieder sann das Team über Ersatzprogramme nach. Aber nicht einmal ein Livestream war möglich. Bis Neumeier auf die Idee kam, selbst ein Ballett zu schaffen, das den Bedingungen gerecht wird. „Das Wichtigste war mir, dass unsere Kreativität im Fluss bleibt. Wir feilen an der Technik, und die Körperbeherrschung der Tänzer ist wunderbar zu erleben. Aber die Technik braucht einen Inhalt, sonst entsteht eine Kälte.“

Einen Handlungsfaden verfolgt „Ghost Light“ nicht. „Es geht mir nicht darum, eine Geschichte auf Schuberts Musik zu quetschen, sondern zu zeigen, was seine Musik mir erzählt.“ Ort des Geschehens ist eine Bühne, die Figuren sind Tänzer. Zum fragmentarischen Charakter passt es, dass Neumeier gelegentlich Reminiszenzen aus seinen Choreografien einstreut, etwa aus „Nijinsky“ oder „Die Kameliendame“.

Die Arbeit an der Produktion gleicht einem Flickenteppich. Die Compagnie ist in mehr als ein Dutzend Kleingruppen aufgeteilt. Die Proben dauern meist nicht länger als eine Stunde, dann ist eine halbe Stunde Pause, bevor die nächste Gruppe kommt. Neun Säle hat das Ballettzentrum, die Decken sind hoch, riesige Fenster erlauben gründliches Lüften. Die räumlichen Bedingungen sind überaus günstig.

Dennoch bleibt es frustrierend, die Pandemie bei der Arbeit mitdenken zu müssen. Schon dass es aus Infektionsschutzgründen nur Lebenspartnern erlaubt ist, miteinander zu tanzen, stört Neumeier: „Das ist ungerecht denen gegenüber, die keinen Partner haben. Eigentlich halten wir Bühne und Privatleben strikt getrennt. Wir dürfen nicht vergessen, dass wir uns in einer Ausnahmesituation befinden und füreinander verantwortlich sind.“

Dies ist eben kein Normalbetrieb. Sondern unter den gegebenen Bedingungen die beste aller Welten.

Verena Fischer-Zernin

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