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Kulturpolitik

Auf ein Wort mit Ulrich Khuon, Intendant des Deutschen Theaters Berlin und Präsident des Deutschen Bühnenvereins

Im Gespräch mit Tobias Könemann, Gerrit Wedel und Barbara Haack

Seine Intendantenlaufbahn startete Ulrich Khuon am Theater Konstanz, weitere Stationen waren das Niedersächsische Staatsschauspiel Hannover und – ab der Spielzeit 2000/2001 – das Thalia Theater Hamburg. Seit 2009 ist er Intendant des Deutschen Theaters Berlin. Er engagiert sich vielfach im Kultur- und Theaterbereich, seit vielen Jahren auch in verschiedenen Gremien des Deutschen Bühnenvereins. Im Januar 2017 wurde er zu dessen Präsidenten gewählt. Tobias Könemann, Gerrit Wedel und Barbara Haack sprachen für „Oper & Tanz“ mit Ulrich Khuon über die Folgen der Corona-Pandemie für das Theater und über die zentralen Themen des Bühnenvereins.

Oper & Tanz: Die Corona-Pandemie ist derzeit überall das zentrale Thema. Wie werden Sie hier im Haus damit fertig? Ihr Spielzeit-Motto der letzten Saison lautete „Außer sich“ und hat in einer Art gepasst, wie es gar nicht geplant war.

Ulrich Khuon. Foto: Klaus Dyba

Ulrich Khuon. Foto: Klaus Dyba

Ulrich Khuon: Sie haben recht, es hat sich auf eine merkwürdige Weise bewahrheitet, dass man während der halben Spielzeit „außer sich“ war. Zunächst einmal waren zwei Dinge wichtig: Niemand hat Erfahrung mit der neuen Situation, die alle betrifft, die aber, wie wir gemerkt haben, alle unterschiedlich betrifft. Es gibt etwas Gemeinsames, aber es treibt die Gesellschaft auch sehr auseinander. Die einen haben eine Riesen-Not, die anderen haben eine normale Not und wieder andere sind gut versorgt. Hinzu kommt, dass das Virus nicht nur unsere praktische Arbeit im Mark getroffen hat, sondern auch das Wesen unserer Arbeit: Die Künste sind dazu da, Nähe zu vertiefen. Sie brauchen Nähe, sie bilden Nähe ab, und sie spiegeln der Gesellschaft, dass Nähe nicht nur ein Problem ist, sondern auch eine Lösung. Nähe ist nicht die Lösung für alles, aber ohne Nähe ist jede Lösung nichts. Es braucht immer eine Balance. Ich bin der Meinung, übrigens auch bei Führungsfragen, dass nicht die kumpelige Nähe, aber die Empathie und die Frage, wie ich dem anderen begegne, eine Bedeutung haben. Insofern spiegelt sich in den Künsten die Entfernung, die das Virus erzwingt, die Tatsache, dass jeder andere ein potenzieller Gefährder ist, besonders wider. Deswegen glaube ich auch, dass die Künste in einer besonderen Weise geeignet sind, das zu bearbeiten, wenn wir wieder spielen.

Hier am Deutschen Theater haben wir sehr intensiv kommuniziert, wir haben viel telefoniert, wir haben sehr früh Newsletter an alle Mitarbeiter über den Stand der Dinge und die nächsten Schritte verschickt. Wir haben Betriebsversammlungen abgehalten, als wir es wieder durften. Wir haben jeden Schritt mit einer intensiven Kommunikation begleitet. Trotzdem glaube ich, dass es auch bei uns Kolleg*innen gibt, die sagen: „Ich wurde nicht informiert, ich habe nichts mitgekriegt“.

O&T: Wie gestalten Sie den Neustart?

Khuon: Unsere Haltung ist vorsichtig, nicht hysterisch, aber auch nicht tollkühn. Wir haben vor dem Haus gespielt, das war ein guter Weg, weil wir dort üben konnten. Zuvor hatten wir uns ziemlich nervös gefragt: Wenn wir vor Ende des Monats die erste Premiere haben – wie bringen wir die 160 Zuschauer hinein? Dürfen wir gastronomische Angebote machen? Und so weiter... Die Begegnung mit den ungefähr 80 Zuschauern vor dem Haus hat uns gezeigt, dass wir einen Weg finden. Sobald wir angefangen haben zu spielen, werden wir entspannter werden, weil wir merken, dass wir das hinkriegen. Wir sind gut vorbereitet.

O&T: Wie sieht es denn aus mit der Akzeptanz beim Publikum? Stellen Sie fest, dass es Vorbehalte gibt, jetzt schon wieder ins Theater zu gehen? Nicht unerhebliche Teile des Publikums sind ja bekanntlich nicht die Allerjüngsten. Wie ist die Kartenverkaufslage im Moment?

Khuon: Die ist sehr gut. Wir haben aber auch viel weniger Karten. Die Zuschauer haben ein großes Vertrauen ins Freie. Dass man wieder rein muss in die Häuser, ist eine Hürde, eine psychologische, aber natürlich auch eine reale. Wir haben eine perfekte Lüftungsanlage, wir werden zweimal oder, wenn es notwendig ist, auch dreimal pro Stunde die ganze Luft austauschen. Es gibt eine Gruppe, die sagt: Jetzt geht’s los, da gehen wir wieder hin. Andere warten erst einmal ab und kommen dann, wenn es sich bewährt hat.

O&T: Wie kann es denn wirtschaftlich funktionieren, wenn Sie wesentlich weniger Karten verkaufen können?

Khuon: Wirtschaftlich funktioniert es natürlich nicht, ein Theater ist ja kein Unternehmen. Es ist bei den staatlichen und städtischen Einrichtungen so, dass die Theater ohnehin zu 80 Prozent durch öffentliche Gelder finanziert werden. Uns fehlen jetzt von den 20 Prozent wahrscheinlich etwa 12 bis 13 Prozent. Wir werden voraussichtlich zwischen 1,8 und 2 Millionen Euro Defizit haben. Natürlich sind wir sparsam, wir haben Produktionen ausfallen lassen, wir haben Produktionen verlegt, wir finden auch Lösungen. Aber wir sind im Moment auch darauf angewiesen, dass Berlin uns teilweise durch zusätzliche Finanzierung über die Runden hilft. Klaus Lederer hat im Senat sehr gut agiert und es gibt Gelder für alle Häuser. Einige haben es etwas leichter, weil sie Kurzarbeit haben.

O&T: Die Bühnen des Landes Berlin haben ja bewusst keine Kurzarbeit. Ist das primär eine politische Entscheidung des Landes Berlin, oder ist es auch von Ihnen aus den Theatern so kommuniziert worden, dass Sie sich einen Shutdown gar nicht zumuten wollen?

Khuon: Viele GmbHs, beispielsweise das Staatstheater Hannover, haben sofort Kurzarbeit angemeldet. Die Berliner Opernstiftung hat etwas später verhandelt. Die Gelder für die Kurzarbeit kommen weitgehend nicht vom Land. Das sind Gelder, die wir selber, nämlich die Theater als Arbeitgeber und die Mitarbeiter als Arbeitnehmer, durch unsere Beiträge angespart haben, wenn man so will. Ich hätte das begrüßt, aber die Länder fanden keine gemeinsame Linie.

O&T: Wir haben für Baden-Württemberg und Bayern und auch für die Kulturstiftung Brandenburg, einzeln Tarifverträge abgeschlossen, mit Berlin aber nicht, sondern nur mit der Stiftung Oper. Es war für uns schon ein bisschen verwunderlich, wieso das Land Berlin sich da so still hielt.

Khuon: Ich habe darüber immer wieder mit Klaus Lederer diskutiert und gefragt, warum es nicht möglich war, im Kreis der Länder durchzusetzen, dass wir auch Kurzarbeit einführen. Es ist nicht durchschaubar, warum die Länder sich gegenseitig ausbremsen. Die Monate April, Mai und Juni wären auch für uns in Sachen Kurzarbeit hilfreich gewesen, aber da war die Front der Länder nicht geschlossen.

O&T: Sie sagen, dass Ihr Haus auch mit den genannten Defiziten irgendwie durch die Krise kommt, weil das Land Berlin einspringt. Aber es gibt sehr viele kleinere Theater, die kommunal finanziert sind, und die Kommunen werden absehbar weniger Geld haben. Wie werden diese Häuser klarkommen?

Das Deutsche Theater Berlin. Foto: Arno Declair

Das Deutsche Theater Berlin. Foto: Arno Declair

Khuon: Zunächst einmal müssen wir das nicht als Naturgesetz akzeptieren. Ich habe regelmäßig Kontakt zur Regierung gehabt, mich ausgetauscht mit Monika Grütters, mit Olaf Scholz und mit dem Bundespräsidenten. Der Bund gibt große Summen in die Kommunen, und damit ist eine Verpflichtung verbunden. Man kann nicht die ganzen Gelder nehmen und dann das Theater dicht machen. Wenn es eng wird, wird uns immer wieder gesagt, dass die Kultur eine freiwillige Leistung ist. Die Freiwilligkeit bezieht sich aber nicht auf das „Dass“, sondern auf das „Wie“. Kultur ist nur deshalb keine Pflichtaufgabe, weil wir aus dem Nationalsozialismus gelernt haben, dass zu viel Nähe, also ein Staatstheater, das das umsetzt, was die Regierung will, nicht der Sinn der Kunst ist. Im Grunde wird man ermächtigt und aufgefordert zu einer großen Freiheit.

O&T: Glauben Sie, dass dieses Bewusstsein in der Gesellschaft und in der Politik hinreichend verankert ist?

Khuon: Ich habe verschiedene Dürrezeiten erlebt, in unterschiedlich großen Häusern. Man darf sich nicht selber leichtfertig in Frage stellen und Angst haben, sondern muss kämpferisch nicht nur auf die Politik, sondern auch auf die Besucher zugehen. Man muss auch den Nichtbesuchern sagen, was sie von so einem öffentlichen Ort haben, der mitwirkt am öffentlichen Frieden, weil er Begegnungsort ist, der weit über die eigenen Besucher hinausstrahlt. Es lohnt sich, nicht zu akzeptieren, dass jede Sparmaßnahme sofort beim Theater oder beim Orchester landet. Und wenn man die Ausgaben für das öffentliche Theater halbiert, ist das für den öffentlichen Haushalt, als ob ich einen Fingerhut weniger Wasser trinke. Es ist eine Schimäre, zu denken, dass es beispielsweise eine Stadt rettet, wenn man dem Theater ein paar 100.000 Euro wegnimmt.

O&T: Es wird ganz wichtig sein, diesen Kampf anzugehen, mit den Entscheidungsträgern, den Rechtsträgern und den finanziell in Zukunft wahrscheinlich stark gebeutelten Kommunen. Ist da eine Allianz denkbar, um das zu erreichen?

Khuon: Während der Coronakrise waren wir als Bühnenverein in Kontakt mit der Leitungsebene des Städtetags. Wir gehen also neue Wege. Ich habe den Bund immer wieder ermahnt, die Verpflichtung, die mit der Verteilung von Geldern, die jetzt in die Gemeinden wandern, verbunden ist, deutlich zu machen. Wir kämpfen auch als Verband dafür. Es ist allerdings so, dass unser Kampf nicht das Geschick der einzelnen vor Ort operierenden Einheiten ersetzt. Nur ein Beispiel, Koblenz: Da ist ein kluger Intendant, der ist ein Politiker, aber auch ein Künstler und dazu noch ein begabter Interessenvertreter bei uns im Verband. Wir sind mobilisierbar, aber jede Gemeinde muss dann immer noch ihren eigenen Weg finden. Als ich Intendant in Konstanz war, war Wolfgang Gönnenwein Landesverbandsvorsitzender. Aber die Gemeinderäte wollten sich überhaupt nichts von unserem Landesverbandsvorsitzenden sagen lassen. Als sie sagten, sie hätten das Geld nicht mehr, mussten wir einfach selber überzeugend agieren. Auch Gemeinderäte wollen nicht belehrt, sondern überzeugt werden.

Wir haben als Bühnenverein eine starke Stimme, wir brauchen diesen Verbund mehr denn je, denn die gesellschaftliche Vereinzelung, die wir erleben, ist tödlich. Und sie ist auch ein Boden für die sektiererischen Rechtsgruppen. In der Einsamkeit ist man natürlich besonders anfällig für starke Identitätsangebote.

O&T: Wir reden jetzt viel darüber, wie das Theater die Coronakrise managt und was das Publikum tut. Künstlerisch findet aber auch etwas anderes statt als vorher, weil man eben auch auf der Bühne Abstandsregeln befolgen muss. Sie sagen, Theater bedeute auch Nähe. Sind diese Abstandsregeln eine Einschränkung der Kunstfreiheit oder eher eine künstlerische Herausforderung?

Khuon: Sie sind eine Einschränkung. Ich würde sie langfristig als Herausforderung betrachten, momentan aber sind sie halt eine Not. Wir werden nicht jahrelang Monologe spielen können und wollen. Wir versuchen, einen Weg zu gehen, die Vorgaben zunächst einmal zu respektieren. Bei einzelnen Inszenierungen passt das sogar. Aber wir hatten zum Beispiel „Fräulein Julie“ von Strindberg geplant, in einer Inszenierung von Timofej Kuljabin. Das mussten wir unterbrechen und wollen es jetzt im Herbst zu Ende inszenieren. Man kann das nicht um-inszenieren. Dort arbeiten wir jetzt mit Corona-Tests. Es muss in kleinen Abständen getestet werden, am Anfang auch das engste familiäre Umfeld. Und die Darstellerinnen und Darsteller müssen versprechen, dass sie sich im familiären Umfeld aufhalten.

Ich kenne Schauspieler, die das beim Film schon hinter sich und die ihren Lebensstil ziemlich geändert haben, weil sie wissen: Wenn ich da etwas reinschleppe, bin ich raus, oder es platzt sogar die ganze Produktion.

O&T: Viele Musiker und Theater haben in der Zeit, als gar nichts ging, reagiert und Kultur und Theater im Netz angeboten. Dabei fehlt natürlich der direkte Kontakt, der direkte Austausch mit dem Publikum, und es fehlen auch die Einnahmen. Was halten Sie davon?

Khuon: Es ist genauso, wie Sie es beschreiben. Trotzdem war es gut, das DT hat auch sehr viel im Netz gemacht. Wichtig schien mir, dass man nicht einfach alles, was man hat, online stellt, dass es kein ungeordnetes Überangebot wird, sondern dass es gut sortiert ist. Wir hatten unterschiedliche Formen, wir hatten einen Blog mit kurzen Beobachtungen, kleinen Zitaten oder Podcasts. Der Mensch im Netz will keine endlosen Texte, er will auch einen Rhythmus. Es war eine Kunst, nicht zu viel zu machen. Das Festival „Radar Ost“ haben wir auch digital veranstaltet. Da kam der Zuschauer digital ins Haus, in verschiedene Räume, und in jedem Raum wurde etwas anderes geboten. Man muss sehr viel Energie darauf verwenden, das gut und reizvoll zu gestalten. Aber wir sind trotz allem, selbst wenn wir es gut machen, keine digitalen Profis. Das Eigentliche ist dann wieder die reale Begegnung.

Dass man damit nichts verdient, ist auch noch ein relevanter Punkt. Ich bin der Meinung, dass man die Konkurrenz zwischen virtuellen und realen Welten nicht übertreiben sollte. Das Theater hat den Stummfilm, den Film, das Fernsehen und das Farbfernsehen überlebt, und zwar in einer merkwürdigen Unberührtheit, es ist wie ein Urmedium, das man immer brauchen wird.

O&T: Inwieweit kann Netzpräsenz jenseits der derzeitigen Ausnahmesituation das Theater in seiner Wahrnehmbarkeit in der Gesellschaft stärken? Inwieweit haben sich da auch vor Corona schon künstlerische Aktivitäten entfaltet?

Khuon: Das ist sehr unterschiedlich. Ich würde sagen, dass es fürs Schauspiel fast am schwersten ist. Man merkt ja zum Beispiel, dass es für Opern, die in Kinos gezeigt werden, ein Publikum gibt. Das Schauspiel muss im Netz eigene Wege gehen, eine rein abgefilmte Inszenierung bringt den Zauber des Schauspiels im Netz nicht rüber, es sei denn, man macht eine wirklich netzaffine Arbeit. Mein Eindruck ist, dass Tanztheater und Oper sich auch digital leichter vermitteln lassen als Schauspiel.
Wir erleben ja jetzt dauernd Sportereignisse im Fernsehen und wissen, dass es ein großer Unterschied ist, ob man im Stadion oder vorm Fernseher sitzt. Es ist allerdings immer noch besser, als wenn man gar nichts hat. Dennoch bin ich gegenüber dem reinen Streamingangebot eher skeptisch. Die Wucht einer Aufführung und deren Zauber erlebt man in unseren Häusern.

O&T: Welche Themen neben Corona beschäftigen den Bühnenverein derzeit besonders?

Khuon: Es gibt eine ganze Reihe an Themen. Wenn man auf die Gesellschaft als Ganzes schaut, ist das brennendste Thema: Wie verhalten wir uns zum Rechtspopulismus, wie verhalten wir uns zur AfD? Das ist eine zutiefst kulturelle Frage. Wir dürfen uns das Thema der Kultur, der kulturellen Wurzeln, der Verbundenheit zur eigenen Kultur nicht entreißen und instrumentalisieren lassen durch Rechtspopulisten, die sich im Grunde auf die deutsche Romantik oder einen Teilaspekt beziehen und dieses gefühlte Volkstum vor sich hertragen, diese Innenbindung mit gleichzeitiger Ablehnung des Außen. Das ist ein ganz großes Thema, auf das wir auch seit einigen Jahren öffentlich stark aufmerksam machen. In vielen Theatern haben wir die offene Gesellschaft als Veranstaltungsform ausprobiert.

Das Setting für Aufführungen vor dem Theater. Foto: Luisa Männel

Das Setting für Aufführungen vor dem Theater. Foto: Luisa Männel

Der Bühnenverein hat auch ganz praktische Fragen, zum Beispiel die Nachwuchsproblematik, gerade in den technischen Berufen. Nachhaltigkeit und Klimawandel, und die Frage, wie wir damit umgehen: Das sind Themen, die man sowohl im eigenen Haus ganz praktisch bedenken, als auch politisch oder künstlerisch reflektieren muss. Von großer Bedeutung auch für mich persönlich ist der Wertebasierte Verhaltenskodex, den wir 2018 erstellt und allen Theatern empfohlen haben. Es gibt jetzt die Vertrauensstelle gegen sexuelle Belästigung und Gewalt „Themis“, die das mitbegleitet, und die Häuser sollten mit Weiterbildungsformaten auf der Leitungsebene dabei sein. Es nützt gar nichts, einfach einen Verhaltenskodex aufzustellen. Man muss darauf achten, welche Folgen er hat, wie er durchgesetzt wird – mit welchen Sanktionen. Aber auch, wie eine Überzeugung gelingt. Das Mittel der Weiterbildung, also das eigene Verhalten nicht nur qua Befehl zu ändern, sondern qua Erkenntnis und Dazulernen, das scheint mir sehr wichtig.

Ich glaube, die Häuser müssen auch daran arbeiten, Führungsgrundsätze für sich zu erarbeiten, auf die die Mitarbeiter*innen sich berufen können.

O&T: Aber Führung halten Sie im Prinzip auch im Theater für notwendig, auch im künstlerischen Prozess? Sehen Sie Grenzen eines partizipativen oder gar basisdemokratischen Theaters?

Khuon: Ich schätze flache Hierarchien. Ich glaube aber schon, dass man für so komplexe Strukturen Verantwortliche braucht, die im Zweifel dann auch „schuld“ sind. Aber partizipativ heißt ja, die Leute in die Prozesse mit hineinzunehmen. Es ist nicht gut zu sagen: Ich weiß, wie es geht, ich sage euch, wie es geht, und dann kontrolliere ich euch.

O&T: Sie haben von dem Wertebasierten Verhaltenskodex gesprochen. Das eine ist der Anspruch, das andere die Realität. Oftmals ist das ein Prozess. Gibt es beim Bühnenverein Fortbildungen für Intendanten?

Khuon: Die hat der Bühnenverein. Ich werbe dafür schon seit langem unter Kollegen. Lebenslanges Lernen gilt für uns alle.
Es geht aber auch um die Verantwortlichen, die uns einstellen, die Träger, die auch Mitglied des Bühnenvereins sind. Wenn ich diesen Anspruch auf einen Kulturwandel als Leiter eines Hauses kundtue, dann darf mein Träger mich auch befragen. Es ist kein Eingriff in die künstlerische Freiheit, wenn der Träger mich fragt: Herr Khuon, wie garantieren Sie das? Es gibt einen Personalrat, es gibt Betriebsräte, es gibt Solovorstände, es gibt eine stärkere gesellschaftliche Entwicklung – hin zu mehr Selbstermächtigung, zu lauterem Sprechen. Das kann kein Fehler sein. Es ist anstrengend und mühsam für uns, wenn wir die Sachen gut machen wollen. Aber das gehört zum Führen heute dazu, das kann man nicht in Frage stellen.

Es gibt nicht nur im Theater, aber auch dort, sehr viel offene und verdeckte Macht und das Stillhalten aus Angst, weil einem jemand schaden könnte. Umso wichtiger ist, dass der Intendant selbst einen Anspruch an sich hat. Die andere Seite ist die puritanische Übertreibung. Davor haben auch viele Angst, aber das sehe ich nicht als Gefahr. Es ist ja alles erlaubt, was zwei Menschen wollen. Es ist nicht die Erotik oder die Nähe grundsätzlich verboten, sondern nur der Übergriff.

Wir haben das Thema sehr lange in allen Gremien des Bühnenvereins bearbeitet. Dass wir das oft hin- und hergewendet haben, war wichtig, jetzt wird es von allen getragen. Es war ein großer Schritt, dem die Praxis nun auch gerecht werden muss.

O&T: Gibt es von den Maßnahmen und Schulungen schon eine Evaluation? Hat man im Theaterbetrieb schon eine größere Sicherheit festgestellt?

Khuon: Man kann sicher sagen: Themis wird gebraucht. Viele wenden sich dahin, übrigens auch die Theater. Diese Stelle, die außerhalb der Häuser liegt und unabhängig arbeitet, ist sehr wichtig. Wir kämpfen sehr darum, dass Themis erhalten bleibt und auch befähigt wird, noch besser arbeiten zu können. Ich muss zugeben, dass ich die MeToo-Debatte selbst früher unterschätzt habe, weil es gar nicht so viele sichtbare Fälle gab, die an mich herangetragen wurden. Erst als das Thema aufkam und ich mit anderen darüber geredet habe, habe ich gemerkt, was alles unter der Spitze des Eisbergs liegt. Das wird jetzt ganz anders diskutiert und verhandelt, viel offener angegangen. Aber deshalb bleibt in diesem Bereich noch viel zu tun.

O&T: Die Frage geht ja über den sexuellen Machtmissbrauch hinaus und betrifft insgesamt die Kommunikation im Theater. Die künstlerischen Mitarbeiter sind immer auch bedroht durch Nichtverlängerung. Das ist ein missbrauchsempfindliches Instrument. Hat sich insgesamt in der Kommunikation schon etwas verbessert?

Khuon: Ich glaube, dass viele Menschen in Führungspositionen – gerade Frauen, deshalb vertrete ich den Anspruch für mehr Intendantinnen – inzwischen dafür sensibilisiert sind. Da hat sich viel Positives entwickelt, auch bei Männern. Aber es gibt auch eine Gegenbewegung. Das ist wie in der Kirche. Es ist viel in Bewegung, aber die alten Muster sind nicht gebannt. Ich finde die Zeitverträge vor allem aus künstlerischer Sicht wichtig. Aber umso mehr müssen wir darauf achten, dass wir nicht die Erpressbarkeit des Einzelnen ausnutzen.

O&T: Diese verdeckte Macht hängt zum einen mit Strukturen zusammen, die schon lange bestehen, zum anderen auch mit dem Bewusstsein derer, die damit umgehen. Je mehr Aufklärung betrieben wird, umso mehr wächst das Bewusstsein für die andere Seite.

Khuon: Ich bin ja als Intendant umstellt von vielen Schwierigkeiten. Andererseits kann ich sehr viel bewegen und gestalten und muss überhaupt keine Angst haben, dass mir die Möglichkeit, Einfluss zu nehmen, entzogen wird. Es ist nicht so, dass ich nichts mehr bewegen kann, weil es jetzt diese Codices gibt.

O&T: Zur Führung im Theater noch ein anderer Aspekt: Man muss ja erst einmal in eine Führungsposition kommen. Findungskommissionen fragen ja wohl vor allem nach zwei Dingen: Was hat der Mensch für ein künstlerisches Profil, und wie geht er mit Geld um? Die Frage, wie er mit Menschen umgeht, wie er kommuniziert, wird, so nehme ich es wahr, nicht intensiv in die Entscheidung einbezogen.

Khuon: Das geschieht aber mehr und mehr. Natürlich ist die Frage, wie Intendant*innen das Theater durch Kunst profilieren, eine leitende Frage. Die Frage, ob Kandidaten führen können, ob sie schon Erfahrung haben, ist in den letzten 15 Jahren aber deutlich mehr in den Fokus genommen worden. Auch von Trägerseite her ist das ein wichtiges Thema. Man kann wilde Dinge, exzessive Dinge auf der Bühne machen – und trotzdem gut führen. Man muss nicht auf Leuten herumtrampeln, damit die Kunst toll wird. Das ist ein Mythos.

O&T: Noch einmal zurück zur Frage des Rechtspopulismus, der AfD… Was wir hier in Deutschland erleben, ist ja schon gefährlich genug: Angriff auf die Kunstfreiheit und auf die Vielfalt. In anderen Ländern ist das noch viel gefährlicher. Ist der Bühnenverein hier auch international unterwegs und kann etwas ausrichten?

Khuon: Das ist nicht einfach. Ich habe viele Kontakte zu Theatern im Osten, in Georgien, in Russland, auch in Weißruss-
land, Ungarn. Wir haben ja Kirill Serebrennikow sehr gestützt. Oft mögen es aber die Künstler in diesen Ländern nicht besonders, wenn ihnen von deutschen Künstlern gesagt wird, in welcher Diktatur sie leben. Man muss sehr gut zuhören, bevor man als Besserwisser von hier aus allen sagt, wie es geht. Ich würde nie agieren, ohne vorher herausgefunden zu haben, dass es nicht mehr schadet als nützt. Ich würde das eher nach innen kommunizieren: Wenn Ihr meint, die AfD sei harmlos, so eine Art Begleit-
erscheinung, dann guckt mal nach Ungarn, nach Polen, nach Dänemark und nach Russland, weil es da bestimmte Muster gibt. In Russland konnte man am Fall Serebrennikow sehr gut verfolgen, dass prozessuale Sicherheiten und das Prinzip der Gewaltenteilung nicht funktionieren, dass dauernd die eine Macht in die andere eingreift. Das wäre hier bislang undenkbar.

O&T: Dem Bühnenverein stehen personelle Wechsel ins Haus. Ihre Amtszeit endet im November. Auch der geschäftsführende Direktor Marc Grandmontagne hat angekündigt, dass er Ende 2021 aufhören wird. Ist schon in Sicht, dass Ihre Arbeit kontinuierlich weitergeführt wird? Steht schon ein Nachfolger für Sie im Raum?

Khuon: Ich werde keine Namen nennen. Aber der Verwaltungsrat hat sich getroffen. Ich finde die Richtung gut, in die das geht. Es wird sicher neue Akzente geben, aber auch eine innere Kontinuität.

O&T: Es wird, soweit wir informiert sind, wieder ein Politiker.

Khuon: Dieser Wechsel zwischen Intendanten und Politikern ist auch interessant. Ein Politiker verstärkt vielleicht nochmal das Interesse innerhalb der Politik. Wichtig ist, dass wir eine kräftige Sprache haben – in der Gesellschaft, in die Theater hinein und in der Politik. Das geht einen guten Weg.

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