Berichte
Aus Japan und Sibirien
„Madame Butterfly“ und „Sibirien“ bei den Bregenzer Festspielen
Längst ist Bregenz zum „Vollfestival“ avanciert: mit beeindruckender Konzert-Vielfalt, den Opernstudio-Produktionen von Rossinis „Italienerin in Algier“ und Haydns „Armida“, einem breiten Kinder- und Jugendprogramm, der Werkstatt-Erstaufführung von „Kapitän Nemos Bibliothek“ und der Uraufführung „Melencolia“, Künstler-Treffs und Burgtheater-Gastspiel mit Shakespeares „Sturm“-Vorpremiere.
„Madame Butterfly“ auf der Seebühne. Foto: Bregenzer Festspiele/Anja Köhler
Tragende Säule ist weiterhin die Seebühnen-Produktion mit den Einnahmen aus rund 200.000 Karten pro Saison. Intendantin Elisabeth Sobotka wählte für ihre letzten zwei Jahre – sie wechselt dann an Berlins Lindenoper – Puccinis „Madame Butterfly“ – nach dem vorausgegangenen „Rigoletto“-Zirkusspektakel eher ein Kammerspiel. Doch Zürichs Regie-Intendant Andreas Homoki nahm die Herausforderung an: Zusammen mit dem kanadischen Bühnenbildner Michael Levine entschied er sich für ein scheinbar über den Ozean zwischen Japan und den USA fliegendes riesiges Blatt Japan-Papier; es ersetzte bisherige spektakuläre Bühnenbauten mit feinen japanischen Tusch-Zeichnungen: vorne ein kleiner Garten; dann ein Serpentinen-Weg zu den hinten in den Nachthimmel aufragenden Bergsilhouetten. Vom offenen „all‘ aperto“-Häuschen ist die Rede, vom Blick auf Nagasaki, das Meer und den Hafen – eben Bregenzer Hafen, Bodensee und Stadtlichtgeglitzer.
Mit der sonnigen Selbstgefälligkeit der 1950er-Jahre bricht Pinkerton erst ganz oben, dann auf halber Bühnenhöhe durch die Papierwand: Wie Haifisch-Flossen verletzen die zwei Öffnungen das sonst feingezeichnete Ambiente. Durch eine davon fährt zu Pinkertons Toast auf Amerika ein Flaggenmast mit US-Fahne hoch. In die wickelt sich die verlassene Butterfly später als vermeintlichen Schutz. Franck Evins Lichtregie färbt das ganze Blatt mal in Liebeszauber-Rosé, mal in kaltes Blau und dann Grau zum bösen Onkel-Bonze-Auftritt, dessen Fratze hinten in den Bergen aufscheint (Video: Luke Halls); glutvolles Rot und kaltes Weiß folgen. In der Premiere machte ein Gewittersturm nach Butterflys „Un bel di vedremo“ den Umzug von 1.200 Hauskarten-Besitzern ins Festspielhaus unumgänglich. Der unverminderte Zuspruch signalisiert jedoch, dass das Kammerspiel auch draußen in Gänze überzeugt.
Drinnen wurde mit dem Orchester, das bislang von der Bühne glänzend nach draußen übertragen wurde, jetzt sichtbar, wie feinzeichnend Enrique Mazzola mit den glänzend disponierten Wiener Symphonikern arbeitete: beiden schien bewusst, dass die unbestechlichen Mikrofone jeden kleinen Fehler übertragen würden – also müssen jedes kleine Solo, das Zusammenspiel und der Gesamtklang zuvor wie für eine Studioaufnahme erarbeitet sein, jetzt live im Fluss gelingen und nach draußen transportiert werden. Prompt war Mazzolas engagierte Zeichengebung als Motor und auch als Seele einer Live-Aufführung zu erleben. Das schmale Spielband des hochgefahrenen Orchestergrabens rückte den Missbrauch einer fünfzehnjährigen Geisha hautnah. Männlicher Egoismus zeigte sich in Edgaras Montvidas jugendlich schlankem Pinkerton-Tenor und mündete in verantwortungsloser Feigheit. Brian Mulligans (Konsul Sharpless) warmer Bariton verströmte rollengerecht die gutgemeinte Hilflosigkeit. Annalisa Stroppas Suzuki war mit schönem Mezzo Dienerin und dann Vertraute. Sie alle überstrahlte die usbekische Sopranistin Barno Ismatullayeva mit erst mädchenhafter Süße, bitteren dunklen Tönen und dann dem großen Leidensausbruch. Zurecht beendeten Standing Ovations den mehrfach dramatischen Premieren-Abend. Enrique Mazzola wird als „conductor in residence“ den Festspielen enger verbunden bleiben.
„Sibirien“. Foto: Bregenzer Festspiele/Karl Forster
Tags darauf dann die Ausgrabung: Umberto Giordanos drittes Musikdrama „Sibirien“, das trotz viel schwelgerischer Vokal-Italianitá im Repertoire-Schatten steht. Die als Fünfzehnjährige verführte und vom Zuhälter Gleby zur Edelprostituierten aufgebaute Stephana wird von einem russischen Fürsten ausgehalten, liebt aber den jungen Offizier Vassili. Der tötet den Fürsten, geht in die lebenslange Verbannung nach Sibirien, und Stephana folgt ihm. Der erneuten Erpressung durch Gleby will sich das Paar durch Flucht entziehen. Stephana wirft sich in die Kugeln der Verfolger und stirbt, mit der Erde Sibiriens versöhnt. Die Akt-Überschriften „Hetäre“ – „Liebende“ – „Heldin“ lassen sich aber nur auf dem Papier zu einem „Läuterungsdrama“ mit Maria-Magdalena-Zügen deuten. Die Bregenzer Dramaturgie hat deshalb den vielfach in Deutschland arbeitenden russischen Regisseur Vasily Barkhatov zusammen mit den Filmemachern Pavel Kapinos, Sergey Ivanov und Christian Borchers eine stücktragende Video-Rahmenhandlung an russischen Schauplätzen aufnehmen lassen.
Vor aller Musik brach im Film eine alte Dame auf, um die traurige Familiengeschichte zu einem guten Ende zu führen: Stephana hat in der sibirischen Lager-Einöde nämlich zwei Kinder Vassilis zur Welt gebracht; die jetzt alt-ergraute Tochter bringt die Urne ihres Bruders zurück an den Ort des einstigen Lagers, wo Stephana und Vassili ihre letzte Ruhe gefunden haben. Die sehr gut gefilmten Stummfilm-Aufnahmen in Schwarz-Weiß bekamen in diesen Kriegswochen fast beklemmende Dokumentar-Qualität. Sie verbanden und rundeten den etwas abgehackten Stationen-Charakter der musikalischen Akte – auch durch das unaufgesetzt expressive Spiel von Clarry Bartha, ihrer Fixierung auf die Urne, ihrem hilflosen Insistieren bei der Suche in kafkaesken Lager-Archiven, ihren Visionen der Toten in der eisigen Weite Sibiriens.
Auf der Bühne verwandelten Christian Schmidts Bühnenbilder mit raffiniert präziser Projektionstechnik kahle Wandpartien in angrenzend unterschiedliche Räume. Die in halber Bühnentiefe gesetzte Rückwand fuhr auf zu sibirischer Weite, fuhr dann zu in Archiv-Klaustrophobie, fuhr wieder auf zur Behördenhalle mit Kachelwand im Sozialistischen-Realismus-Arbeiter-Pathos – alles stücktragend bis zum Finale.
Dazu lieferte Dirigent Valentin Uryupin nicht nur Film-Sound. Über die mit Mandoline und Zither original besetzte Bühnenmusik baute er mit den Wiener Symphonikern die dramatischen Attacken des Zuhälters Gleby (Scott Hendricks mit Scarpia-Bariton) klug auf, ließ Vassilis Liebe blühen, dann schwanken und endgültig erglühen (Alexander Mikhailov mit guter Bühnenerscheinung und jugendlich leuchtendem Tenor). Das gute übrige Ensemble wurde von der Kanadierin Ambur Braid überstrahlt: ihren Frankfurter Triumphen fügte sie nun mit der Stephana eine weitere Heldin des „lirico spinto“-Fachs hinzu – Tändelei, Verführung, Hingabe gelangen mit ihrem üppigen Sopran, bis hin zur „gran espressione“, dem glutvollen Ausbruch bis an die Grenze – eben eine der großen Liebenden in der Oper. Trotz des bitteren Endes einhelliger Jubel für eine dieser wohl weiter „im Nebenbeet blühenden Opern-
Orchideen“.
Wolf-Dieter Peter |