Berichte
Wagner-Marathon in Leipzig
Mit 13 Bühnenwerken Richard Wagners beendet Ulf Schirmer seine Intendanz
Ein Alptraum für jede Chorleitung: Angesetzt ist „Rienzi“, die neben „Lohengrin“ für den Chor umfangreichste Oper von Richard Wagner, und über 20 Chormitglieder fallen wegen positiver Covid-Testung aus. So geschehen am 23. Juni in der Oper Leipzig – ausgerechnet in dem ehrgeizigen Prestigeprojekt, auf welches das Haus am Augustusplatz mit dem Gewandhausorchester seit Jahren hingearbeitet hatte: „Wagner 22 – drei Wochen Unendlichkeit“ mit szenischen Aufführungen aller dreizehn vollendeten Opern Wagners in Reihenfolge ihrer Entstehung. Am Ende stand „Parsifal“ in jener Inszenierung von Roland Aeschlimann, bei deren Premiere Ulf Schirmer sich 2006 in Leipzig vorgestellt hatte, um dann von 2009 bis 2022 die Oper Leipzig als Generalmusikdirektor und Intendant in wirtschaftliche Stabilität und künstlerische Kontinuität zu führen. Jetzt nahm er mit dem Bühnenweihfestspiel seinen Abschied.
Nicht nur für das Gewandhausorchester war „Wagner 22“ eine Herausforderung, sondern auch für den Opernchor. Thomas Eitler-de Lint bereitete als Chordirektor alle Wiederaufnahmen seit Anfang 2021 vor, frischte die Einstudierungen seiner Vorgänger Alessandro Zuppardo und Stefan Bilz auf und hielt die zum Teil über mehrere Spielzeiten gelegenen Produktionen in Vorzeigeform. Im Frühjahr 2022 ereilten den Chor Corona-Infektionen in mehreren Schüben.
Vor neun Jahren war die „Rienzi“-Inszenierung mit „Die Feen“ und „Das Liebesverbot“ der Anlass zum Gastspiel der Oper Leipzig mit Wagners drei Jugendopern beim Jubiläumspaket der Bayreuther Festspiele zum 200. Geburtstag des Komponisten. Nicht auf dem Grünen Hügel, aber in der Stadthalle und in der Lohengrin-Therme erhielten das Gewandhausorchester und die Oper der Geburtsstadt Wagners hohe überregionale Anerkennung. Trotzdem erfüllte sich Schirmers Anliegen, die Bayreuther Festspielleiterin Katharina Wagner als Regisseurin für die Oper Leipzig zu gewinnen, nicht. Zweimal sagte Wagner in buchstäblich letzter Sekunde ab – zuerst bei „Tannhäuser“ 2018, worauf man die bereits aus Antwerpen, Venedig und Bern bekannte Inszenierung von Calixto Bieito holte. Wagners zweite Absage betraf eine langfristig angekündigte „Lohengrin“-Koproduktion mit dem Gran Teatre del Liceu Barcelona, die sich in der ersten Lockdown-Woche 2020 eigentlich schon erledigt hatte. Patrick Bialdygas stattdessen eingeschobene Zwischenlösung vom Corona-Herbst 2020, als man die Premiere mit einer Vorverlegung um zwei Tage haarscharf vor dem zweiten Lockdown herausbrachte, wurde im Frühjahr 2022 von 60 Prozent Spieldauer auf die reguläre Länge erweitert, der Chor von der Hinterbühne nach vorne geholt und in die Inszenierung eingebaut.
Schirmer wurde der erste Intendant seit dem legendären DDR-Operndirektor Joachim Herz, der Wagner auf dem Leip-ziger Spielplan wieder breites Gewicht gab und das Haus somit als dritte sächsische Wagner-Hochburg inthronisierte, neben Dresden (dort dirigiert Christian Thielemann 2022/2023 wieder den „Ring“) und Chemnitz, wo Elisabeth Stöppler 2019 den Bühnenpreis DER FAUST für ihre Regie in der „Götterdämmerung“ abräumte.
Ausgerechnet die Trias der Jugendopern, in denen der Chor neben umfangreichen Parts auch feine szenische Aufgaben hatte, stand bei „Wagner 22“ unter keinem allzu guten Stern. Den wegen positiver Testung ausfallenden Christoph Gedschold vertrat am Pult Matthias Foremny. Er blieb den „Feen“, in denen Barbe & Doucet den Chor mit mittelalternder Pracht à la Moritz von Schwind als Ritter, Minnedamen und Biedermeier-Grazien aufmarschieren ließen, einiges an Brio und Belcanto schuldig. Aron Stiehls Inszenierung des „Liebesverbots“ war die beste szenische Leistung des Festivals. Als sizilianische Karnevalsgecken tobte der Chor zwischen Mauern mit Urnen-Schreinen und vor einem Prospekt mit sanft schwellenden Sumpfblüten auf düsterem Morast. Der Abend hatte szenische Lust und Schärfe wie nur wenige von „Wagner 22“. Das in die Parkettsitze aufschnappende blutrote Segel des „Holländer“-Schiffes überwältigte das Publikum, und Rosamund Gilmores Tanz-Ensemble trug über manche Länge im dunkel-opulenten „Ring des Nibelungen“ hinweg. Dem Gewandhausorchester lag unter Ulf Schirmer der Glanz Wagners mehr als dessen Düsternis.
In chronologischer Anordnung der Werke merkt man, dass Wagners chorische Schwergewichte vor allem in dessen erster Schaffenshälfte bis 1850 entstanden. Von den späten Opern enthalten nur die „Meistersinger“ und „Parsifal“, der im Mittelakt mit einer von Chorfrauen mitgestalteten Blumenmädchen-Tanzszene aufgehellt wurde, größere Chorparts. Im „Parsifal“ hatte René Pape als Gurnemanz eine Sternstunde. Andreas Schager glänzte mit einem verschwenderisch sorglosen Totaleinsatz in den Titelpartien von „Tannhäuser“ und „Parsifal“, Stefan Vinke erreichte als Siegfried in beiden „Ring“-Teilen nicht ganz die singuläre Leistung wie wenige Wochen vorher bei den Wagner-Tagen im Müpa Budapest. Ein herausragender Stern des Leipziger Opernensembles ist Kathrin Göring, ein schlanker wie nachdrücklicher Ideal-Mezzo für Adriano in „Rienzi“, für Venus und Waltraute. Generell dominierten auch im von untergangsfreudiger Chromatik durchwirkten Spätwerk die starken, brillanten Klänge mit sportlicher Gewichtung auf Opulenz und direkter Dramatik. Es gab weitaus mehr üppigen Glanz als fahle Farben und Fragen an ein Gesamtwerk zwischen apotheotischer Hypnotik und abgründigen Grauschleiern. Ein umfangreiches Rahmenprogramm hielt die Gäste in Bewegung.
Roland H. Dippel
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