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Im toten Winkel der Gesellschaft?

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Der Theater-Staffellauf fürs Klima und das Netzwerk „Performing for Future“

Ein Fest fürs Auge
Die „freien“ Tanzcompagnien der Komischen Oper und der Deutschen Oper in Berlin

Wagner für das „Volk“
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Etwas bringt Dich dorthin …
Serge Honegger im Gespräch mit Jordi Roig

Zwischen Schein und Wirklichkeit
Das Theater und die Illusionskunst

Die Maschine und die Ästhetik im Barock
Aus „Poiesis der Maschine“

Ein Traum von Wirklichkeit
Überlegungen anlässlich eines Besuchs in der Theaterstadt Meiningen

Dance Machines
Spitzentechnologie als Kulturtechnik

Die Fabrik der Träume
Wie Opernwerkstätten Illusionen erzeugen. Ein Besuch beim Bühnenservice Berlin

Täuschende Illusionskraft
Über die Darstellung von Massenszenen im Musiktheater

Machen Sie mal den Lachstest
Gedanken über das „illusionistische Komponieren“

Digitale Landschaften
„Beyond Lightscapes“, ein zukunftsweisendes Projekt in Neubrandenburg

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Aus Japan und Sibirien
„Madame Butterfly“ und „Sibirien“ bei den Bregenzer Festspielen

Das Wunder der Musik
Musiktheater bei den Salzburger Festspielen

Von Utopie und Scheitern
Richard Wagner und Ernest Chausson bei den Tiroler Festspielen Erl

Wagner-Marathon in Leipzig
Mit 13 Bühnenwerken Richard Wagners beendet Ulf Schirmer seine Intendanz

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Spielpläne 2022/2023

Schwerpunkt: ILLUSION & BÜHNE

Dance Machines

Spitzentechnologie als Kulturtechnik

Das „K3 – Zentrum für Choreographie | Tanzplan Hamburg auf Kampnagel“ ist ein Kompetenzzentrum für zeitgenössischen Tanz und Choreografie, künstlerische Forschung und Tanzvermittlung. Es wurde in der Spielzeit 2006/2007 im Rahmen der Initiative Tanzplan Deutschland der Kulturstiftung des Bundes gegründet. Ein wesentlicher Arbeitsschwerpunkt von K3 liegt auf der Entwicklung und dem Angebot verschiedener Residenz- und künstlerischer Arbeitsformate, die künstlerische Forschung, Produktion und Präsentation verbinden. Julian Kamphausen vom „Studio für unendliche Möglichkeiten“ berichtet über ein zukunftsweisendes Projekt.

In einem der Studios von „K3 – Zentrum für Choreographie | Tanzplan Hamburg auf Kampnagel“ passiert an einem Freitag im Juni 2022 etwas Außergewöhnliches.

Zukunftsweisende VR-Erlebnisse. Foto: Öncü Hrant Gültekin

Zukunftsweisende VR-Erlebnisse. Foto: Öncü Hrant Gültekin

Elf Jugendliche und ich stehen im Kreis, wir setzen VR-Headsets der neuesten Generation auf den Kopf und betreten einen digitalen Raum. Die Wahrnehmung des digitalen Raums und die physische Präsenz des realen Studios sind kongruent: Der Boden, der in der Brille sichtbar ist, ist der Boden unter unseren Füßen, die Wände des digitalen Raums sind die Wände des Studios. Und – was bisher noch niemandem gelungen ist: Wo eben noch elf andere Jugendliche standen, sind jetzt in der Brille elf Avatare sichtbar, die zwar anders aussehen als die Menschen, die vorher dort waren, sich aber genauso so wie diese bewegen. Alle Teilnehmenden sehen alle anderen Avatare: wo sie stehen, wie sie durch den Raum gehen und eben, wie sie tanzen.

Denn darum geht es heute ganz konkret. Die Fragestellung, die Regina Rossi in „Dance Machines“ vorgibt, lautet: „Wie kann der Tanzunterricht der Zukunft aussehen?“ Das Tanzen mit einem anderen Avatar und einfache Setzungen wie Nachtanzen, Spiegeln, Begrüßungsgesten haben als Einstieg in diese Welt, die niemandem vertraut ist, deren Regeln wir gerade gemeinsam beginnen zu lernen, sehr gut funktioniert.

Die Landschaft, in der Fachsprache „Map“ genannt, entspricht zwar physikalisch dem Boden und den Wänden des analogen Raums, aber die Gestaltung nicht. Die digital-technische Leiterin, Entwicklerin und Designerin Gloria Schulz hat zusammen mit der Bühnenbildnerin Doris Margarete Schmidt einen offenen Basketballplatz in einer tropischen Inselumgebung gestaltet. Palmen ragen in einen tropischen Abendhimmel, man hört Vögel und Meer.

Die Aufgaben steigern sich: Wo beim Duett eher die Erinnerung an das Aussehen des eigenen Körpers und der Gedanke, wie das für die anwesenden Menschen ohne VR-Headset von außen aussehen könnte, im Vordergrund steht, so ist es dann bei Aufgaben wie: „Folgt schnell zu zweit diesem roten Punkt auf dem Boden“ die Angst, mit anderen Teilnehmer*innen zusammenzustoßen.

Es gibt noch einen Moment, der das emotionale Potenzial dieser Kulturtechnik aufschließt: An einer Stelle werde ich aufgefordert, die Avatarin, mit der ich eben noch getanzt habe, auf ein Palmenblatt zu heben. Das Blatt erscheint ganz realistisch an meiner Hand und der dicke Stiel des Palmenblatts verschmilzt mit dem haptischen Eindruck, den meine Hand von dem Controller aus Hartplastik hat, den ich sowieso halte. Auf dem Blatt ist die gleiche Person, die gleiche Avatarin, mit der ich eben noch getanzt habe, etwa 15 Zentimeter groß, aber ganz detailliert sichtbar und genauso tanzend wie vorher. Ich kann sie direkt vor mein Gesicht halten und sehe jedes Detail, jede Muskelbewegung am Schlüsselbein, jeden Impuls in den Händen, jeden Atmer vor einem Sprung. Es ist völlig klar, dass da eine lebendige Person auf meiner Hand tanzt, kein Roboter und keine Puppe. Nichts hat mich auf diese ganz neue, sehr intime Form der Begegnung vorbereitet. Die Sequenz ist nicht lang, aber dieses Erlebnis, einen lebendigen, tanzenden Menschen auf meiner Hand zu sehen, werde ich nicht vergessen. Um dies möglich zu machen, wurden über sechs Wochen immer wieder Aufnahmen mit einem „Motion Capture“-Anzug von den Tänzerinnen der Produktion angefertigt und bearbeitet.

Nach etwa einer halben Stunde endet der erste Teil. Wir Teilnehmenden tauschen jetzt die VR-Headsets gegen Kopfhörer und nehmen auf einer kleinen Tribüne Platz. Von dort können wir den nächsten zwölf Menschen dabei zuschauen, wie sie sich mit den VR-Headsets halb im Digitalen, halb im Analogen bewegen. Besonders schön ist es, bestimmte Szenen wiederzuerkennen: eben das Solo auf dem Palmenblatt oder auch die Sequenz, in der alle einem immer wieder anfliegenden Vogelschwarm ausweichen müssen. Der Kulturjournalist Falk Schreiber meint dazu im Hamburger Abendblatt: „Hier erkennt man plötzlich, was für berührende, auch ästhetisch ansprechende Bewegungen man vollführt, während man sich in der digitalen Illusion verliert.“

Es scheint eine sehr gute Entscheidung, das erste Projekt, das diese prototypische Anwendung nutzt, für Jugendliche zu konzipieren: Die hohe Kompetenz junger Menschen, neue, digitale Kulturtechniken zu verstehen und anzuwenden, die Vertrautheit mit vielfältigen Spielkonzepten, aber auch die sehr affirmative Einstellung zum schnellen Erlernen kurzer Tanzsequenzen (wie bei TikTok) werden vom „Dance Machines“-Team als wichtiger Einfluss auf die Ausarbeitung dieses Stückes genannt.

Realistisch betrachtet werden vielleicht 500 Menschen diese Produktion erleben, vielleicht – mit viel Glück – um die 1.000. Das ist nichts angesichts der Hoffnungen, die normalerweise mit der angeblich beliebigen Skalierbarkeit digitaler Anwendungen postuliert werden. Was hier passiert, ist, dass eine Choreografin gemeinsam mit einer Programmiererin und Digitalkünstlerin eine digitale Spitzentechnologie nimmt, sie mit einem künstlerischen Ziel weiterentwickelt und so eine digitale Kulturtechnik formuliert, die es vorher noch nicht gab. Sie wenden sie zeitlich und räumlich stark beschränkt an. Vielleicht auch, um nicht diese kleinen, magischen Momente überraschender Intimität zu verlieren. Und dieses gemeinsame Gefühl, wenn die Teilnehmenden den Raum verlassen: Alle, die eben hier waren, werden sich immer daran erinnern, wie sich diese neue Kulturtechnik das erste Mal angefühlt hat, keine und keiner wird es vergessen.

Unendliche Zukunftsszenarien

Wenn wir von hier aus in die Zukunft schauen, was sind weitere Anwendungen, von denen wir ausgehen können, dass wir sie in ein paar Jahren ausprobieren können?

Bleiben wir zunächst bei der vom „Studio für unendliche Möglichkeiten“ entwickelten Anwendung: Im nächsten Schritt, der die beschriebenen Möglichkeiten noch einmal unendlich potenziert, können die Avatare aller Beteiligten definiert werden. Sie können einerseits für sich selbst jede erdenkliche Erscheinung haben, können dann aber den anderen Teilnehmer*innen wiederum anders dargestellt werden. Zum Beispiel: Ich sehe mich selber als Nurejew, alle anderen sehen mich aber als Pippi Langstrumpf. Und um es noch weiter zu spinnen: Eine Teilnehmerin sieht mich als Pippi Langstrumpf, eine andere als Bud Spencer, eine als Homer Simpson oder als Virginia Woolf – und für eine andere bin ich unsichtbar.
Und um eine weitere Möglichkeit ins Spiel zu bringen: Diese Erscheinungen der anderen können fortlaufend verändert werden! Die äußere Erscheinung kann sich konstant wandeln.

Wir kennen noch nicht die Regeln, nach denen diese Räume funktionieren und nach denen wir dort spielen, tanzen und in Beziehung treten werden. In den nächsten Jahren werden wir sie gemeinsam erlernen.
Diese Multiplayer-Anwendung kann genutzt werden, um Oper anders erlebbar zu machen, die Zentralperspektiven zu verlassen und den Bühnenraum als immersives, virtuelles Theaterstück zu begreifen: Das Publikum geht mit VR-Headsets durch das Auditorium und über die Bühne; alles, was berührt wird – Treppen, Geländer, Türen, Wände, Fenster, die geöffnet und geschlossen werden können –, ist als Kulisse gebaut, alles darüber hinaus und alle Oberflächen werden in der VR-Welt dazu gemalt. Und in den einzelnen Räumen, die betreten werden, trifft man auf die Sänger*innen: Violetta Valéry umarmt uns an der Tür, bevor sie, Alfredo und die andern „Libiamo ne’ lieti calici“ anstimmen. Alberich nimmt uns an der Hand und führt uns hinab nach Nibelheim. Wir verlaufen uns in Sarastros Tempel, erleben den Sonnenaufgang im antiken Theben, Seite an Seite mit dem ägyptischen König.

So gedacht kann die Oper auch komplett in die virtuelle Welt transportiert werden – Bühnenbilder können zu offenen und interaktiven Welten werden und dadurch wirklich spielerisch erfahrbar sein. Und sie kann von Künstler*innen gestaltet und von Menschen besucht werden, die nicht am selben physischen Ort sind. Dabei wäre es nicht das Ziel, ko-präsentes Erleben in einem Opernraum zu ersetzen, es kann aber zu einer neuen Art von zugänglichen Opernproduktionen werden: geringere Produktionskosten als analoge Ausstattungen, kaum Raumkosten, kein Reiseverkehr, kürzere Produktionsabläufe und vor allem unendliche Flexibilität und Spielbarkeit.

Ein anderer Ansatz, von dem der Opernregisseur Phelim McDermott erzählt, ist ebenfalls interessant: Das Publikum sitzt mit den Opernsänger*innen in einem akustisch exzellenten Raum. Das Publikum trägt VR-Headsets, keine Kopfhörer. Die Sänger*innen tragen Helme, die mit zwei Kameras direkt vor den Augen das Gesicht abfilmen. In den Headsets sieht das Publikum das Gesicht der jeweils gerade singenden Person so nah, als wären sie Nasenspitze an Nasenspitze. Die Pupillenbewegungen von singenden Menschen, insbesondere bei besonders fordernden Tönen, sind wissenschaftlich dokumentiert, aber dieses unglaublich nahe Erleben eines Körpers, der künstlerische Höchstleistungen vollbringt, wäre einmalig: ein Moment der Sehnsucht danach, wie Gesang erlebt werden könnte.

Julian Kamphausen

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