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Aktuelle Ausgabe

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Im toten Winkel der Gesellschaft?

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Die „freien“ Tanzcompagnien der Komischen Oper und der Deutschen Oper in Berlin

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Etwas bringt Dich dorthin …
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Das Theater und die Illusionskunst

Die Maschine und die Ästhetik im Barock
Aus „Poiesis der Maschine“

Ein Traum von Wirklichkeit
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Dance Machines
Spitzentechnologie als Kulturtechnik

Die Fabrik der Träume
Wie Opernwerkstätten Illusionen erzeugen. Ein Besuch beim Bühnenservice Berlin

Täuschende Illusionskraft
Über die Darstellung von Massenszenen im Musiktheater

Machen Sie mal den Lachstest
Gedanken über das „illusionistische Komponieren“

Digitale Landschaften
„Beyond Lightscapes“, ein zukunftsweisendes Projekt in Neubrandenburg

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Aus Japan und Sibirien
„Madame Butterfly“ und „Sibirien“ bei den Bregenzer Festspielen

Das Wunder der Musik
Musiktheater bei den Salzburger Festspielen

Von Utopie und Scheitern
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Wagner-Marathon in Leipzig
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Ein Teil der deutschen Kultur
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Spielpläne 2022/2023

Schwerpunkt: ILLUSION & BÜHNE

Machen Sie mal den Lachstest

Gedanken über das „illusionistische Komponieren“

Halten Sie doch mal beide Hände ausgestreckt vor sich hin, etwa schulterbreit und die Handflächen nach innen. Spannen Sie jetzt Arme und Hände extrem an, als ob Sie etwas sehr Schweres mit großer Kraft festhalten müssen. Jetzt blicken Sie auf Ihre Hände. Und? Sehen Sie diesen riesigen Lachs? Vorsicht! Zack... er zappelt noch und wehrt sich. Nun ist er weg. Na prima. Dann gibt es heute doch nur Kartoffelsüppchen.

Der Lachstest. Foto privat

Der Lachstest. Foto privat

Wer fürs Theater komponiert, muss allzeit bereit sein, den Fisch zu sehen. Manchmal mache ich den „Lachstest“ im Kompositionsunterricht. Etwa, wenn mir Studierende, insbesondere mit aberwitzigen digitalen Möglichkeiten, zu konkret werden. Wenn sie einen Fisch möglichst genau abbilden wollen. Aber wieso sollte man einen Fisch abbilden, er ist doch da! Direkt... hier... zack, Vorsicht – Sie rutschen drauf aus. Die gute Hose! Neulich geschah etwas Schreckliches: Urlaubsreise, Zwischenlandung. Gatewechsel. Fahrt mit einem dieser riesigen Busse über den Flugplatz. Ein Kind fragt den Vater: Oh, so ein großes Flugzeug! Was isst denn so ein Flugzeug zu Mittag? Es handele sich hier um einen A380, der sehr viel Kerosin benötige, man das jetzt aber nicht mit „essen“ verwechseln dürfe. Ja, aber! Ob das Flugzeug denn die Koffer essen würde, wenn die im Bauch landen! Nein, sagte der Vater. Die Koffer würden ebenfalls nicht gegessen, auch weil ein Flugzeug etc. pp... Grauenhaft. Erstmals wollte ich dazwischen gehen und den faden Vater direktemang zur Strecke bringen. Natürlich frisst der A380 die Koffer, der hat ja auch ein Riesenmaul und nagt nachts gern an Helikoptern! Da, da... schnapp. Wieder ein Heli weg. War auch knusprig. Das Kind wird auch den Lachs, wenn das so weitergeht, vielleicht niemals sehen können. Was für ein tristes Dasein, wie meinte Händel doch neulich schon: „Lascia ch’io pianga, mia cruda sorte, e che sospiri la fantasia.“

An dieser Stelle müssten nun hundert Seiten über illusionistisches und anti-illusionistisches Theater folgen. Über Täuschung und Enttäuschung, über Mimesis und Avatare, über digitale und analoge Welten. Allein – mir geht es hier eher um die Ausschöpfung von Fantasie und wilder Vorstellungskraft als um bloße Illusion, wenn mit ihr bloß das Spiel mit Täuschen gemeint ist. Indem ich eben nicht alle Fische konkret zeige, nehme ich das zuhörende oder zusehende Publikum ernst. Ich glaube, ich muss nicht alles en détail zeigen. Hier und da reicht eine Andeutung, ein „Etwas“ ist in der Luft – und wird dann schon verstanden. Ein Film kann das brennende Troja zeigen, im Theater reicht es mir, wenn mir jemand davon erzählt. Wenn Puccini Scarpia durch die Hand Toscas ersticht, ist das natürlich ein Tutti-“ff“-Akkord über einem ausweglosen E, aber wieviel genialer sind die vorangegangenen Momente, in denen wir Tosca beim Nachdenken zusehen können – dort, wo sich die Konkretion nach und nach erst kompositorisch versammelt.

In den letzten Jahren habe ich versucht, neben Stücken zwischen Kammermusik und Oper immer auch pro Jahr ein Kinderstück zu schreiben. Das ist einerseits eine schöne Aufgabe, weil ich hier meistens auf ein Publikum treffe, das (noch) keine Probleme hat, den oben beschriebenen Lachs zu sehen. Andererseits lässt das Genre viel Raum im Spiel zwischen „Überkonkretion“ und zarter Andeutung. Ein Auto wird natürlich nicht mit einem Brumm-Brumm-Hupen-Sample dargestellt, sondern eher weht der Fahrtwind sanft als am Steg gespielte Streicherpassage vorüber. Bei einer Flamingoarie (in: „Sechs Tiere“ für Klavierquartett) komponiere ich eher dessen stolze Weitsicht und keine Knieprobleme und natürlich singt auch das Faultier „molto espressivo“, denn es ist ja vielleicht gar nicht faul, sondern verwendet seine ganze Energie nun einmal aufs „molto vibrato“ in der Bratsche. Dass ein Papagei nichts 1:1 wiederholt, sondern sich vor lauter Wiederholungswahn eher verheddert und dabei ganz nervös wird, versteht sich von selbst. Im Kinderstück „Wut“ versuche ich, das gesprochene oder gesungene Wort durch Instrumente zu konterkarieren. Ein „wissendes Orchester“ im Miniaturformat. Die Schlange weiß, dass niemand sie mag und ist daher immer wütend. Eigentlich ist sie aber eher melancholisch und traurig über ihr Dauerwüten, weshalb ihr Wüten stets mit schlängelnder Bassklarinettenmelancholie begleitet wird. Kaum ein anderes Genre hat die Möglichkeit, zwei sich eigentlich widersprechende Zustände gleichzeitig zu schildern. Es entsteht durch eigenes Ergänzen in der Fantasie – hoffentlich – das Bild einer viel komplexeren Schlangenemotionalität.

In anderen Stücken, etwa in „Wum und Bum und die Damen Ding Dong“ versuche ich nicht nur über den Klang, sondern eher durch einen bestimmten szenischen Gestus die Fantasie anzuregen und mit ihr zu spielen. Da gibt es etwa die Dame Ding. „Sie ist wunderschön und liebt schöne Dinge“, heißt es im Text von Brigitte Werner. „Hier noch ein Ding aus China aufs Regal und zwischen die Blumentöpfe auf der Fensterbank noch ein Porzellanpüppchending aus dem Katalog. Da noch ein Kaffeewärmerding in der Vitrine...“ Anstatt alle Dinge einzeln zu charakterisieren, habe ich eher ihre Verliebtheit in die Dinge komponiert. Es folgt, eingeleitet durch ein leicht verrenktes Sägensolo, ein „Glitzertango“, der fast lasziv (aber jugendfrei) all die schönen Dinge besingt. Die Dinge müssen nun nicht gezeigt werden, es reicht ja, wenn die Emotionen im Raum sind, die sie bei der Protagonistin auslösen. Wer hier eine „echte“ Porzellanfigur ins Publikum hält, der wird auf der Premierenfeier vom Komponisten verspeist.

An anderer Stelle drehe ich das Prinzip um – beziehungsweise ich lege es zur Seite: Neben Frau Ding gibt es auch die sehr kleine Frau Dong, die Herrn Bum wegen ihrer Trippelschritte nervt. Und damit wir alle mal von Frau Dong genervt sind, fräst sich ein etwas zu langes Orchestertrippeln in die Gehörgänge des Publikums. Etwas „zu lang“ muss es vermutlich sein, damit aus der bloßen Trippelmimesis etwas Eigenes entstehen kann – denn Frau Dong trippelt ja nicht nur gern, sie liebt auch „Musik über alles“.

All diese kursorischen Beispiele müssen, bevor sie meinen Schreibtisch verlassen und die Ohren des Publikums erreichen, einen Lachstest bestehen. Bin ich zu deutlich? Lasse ich Raum für eigene Bilder? Und – andersherum – wenn ich stets nur andeute, wann braucht es mal ein echtes Auto, wann hat das illusionierte „Metaauto“ auch mal ausgedient? Gelegentlich, wenn ich selbst Publikum bin, wünschte ich mir obligatorische Lachsteste. Wir haben ja alle – hoffe ich – noch ein bisschen Fantasie, vertrauen wir ihr! Vorsicht! Hinter Ihnen: eine Riesenkrake!

Gordon Kampe

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