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Schwerpunkt: ILLUSION & BÜHNE

Zwischen Schein und Wirklichkeit

Das Theater und die Illusionskunst

In Lily Brauns „Memoiren einer Sozialistin“ (Band 2, „Kampfjahre“) aus dem Jahr 1909 wird die Protagonistin des Romans an einer Stelle gefragt, warum sie Musik aufgegeben habe. Diese mache sie nervös, sagt sie. Auf die Nachfrage: „Auch die Oper?“, antwortet sie: „Die erst recht! Die offenen Mäuler und gespreizten Arme all der dicken Tenöre und Primadonnen zerstören jeden Rest von Illusion. Man kann sie bestenfalls ertragen, wenn man geschlossenen Auges zuhört. Aber da man immer den übrigen Pöbel um sich hat…“

Ohne Illusion gibt es kein Theater, ohne Illusionsvermögen wird Theater zu einer faden und bisweilen faulen Angelegenheit. Wäre umgekehrt auf den Bühnen alles so, wie einen glauben gemacht wird, dass es tatsächlich sei, wären bald alle Schauspieler*innen krank oder nicht mehr am Leben. Was auf Bühnen alles gelebt, gelitten und gestorben wird, kann nicht anders realisiert werden als durch die Kunst der Illusion. Illusionen sind die Bühnengestaltungen, die regelmäßig Räume vorgaukeln, welche es nicht gibt. Schließlich sind die Stoffe selbst Illusionsbilder, die meistens erfunden und imaginiert sind, die aber manchmal angeblich das Leben geschrieben haben soll. Doch wenn Texte geschrieben worden sind, sind sie schon Geschichte, ein Vergangenes. Was danach gespielt wird – später einmal –, das wird nachgespielt. Vor allem wird es gespielt.

Kurz gesagt: Illusionen sind die Form ästhetischer Täuschung, mit deren Hilfe man darstellen kann, was real entweder nicht wünschenswert oder nicht realisierbar ist.

„Koma“ bei den Schwetzinger Festspielen. Foto: Stephan Ernst

„Koma“ bei den Schwetzinger Festspielen. Foto: Stephan Ernst

Das ist die eine, die rein praktische Seite. Dem gegenüber steht eine Begriffsgeschichte der „Illusion“, die fast durchweg negativ konnotiert ist. Unter Illusion versteht man nämlich vor allem den wahrnehmungspsychologischen Effekt absichtlich herbeigeführter Sinnestäuschung, bei der den Sinnen etwas vorgespielt wird, was dem tatsächlichen, wahren Sachverhalt offenbar nicht entspricht (zum Beispiel im Fall von optischen Täuschungen). Aber auch eine „falsche“ Hoffnung wird mit dem Begriff der Illusion assoziiert („Weltfrieden“). Die Illusion ist immer wieder aber auch eine Vorstellung, derer man durch die Realität beraubt wird („Ich machte mir darüber gar keine Illusion!“). Bei Sigmund Freud wird die Existenz und Realität der Religionen als Illusion in Form bloßer Wunscherfüllung bestimmt. Freud schreibt dazu: „Für die Illusion bleibt charakteristisch die Ableitung aus menschlichen Wünschen, sie nähert sich in dieser Hinsicht der psychiatrischen Wahnidee, aber sie scheidet sich, abgesehen von dem komplizierteren Aufbau der Wahnidee, auch von dieser. An der Wahnidee heben wir als wesentlich den Widerspruch gegen die Wirklichkeit hervor, die Illusion muss nicht notwendig falsch, das heißt unrealisierbar oder im Widerspruch mit der Realität sein.“

Der Begriff der Illusion wird in der Kunstwissenschaft in der historischen Bewertung differenziert gesehen. Frank Büttner erwähnt im Lexikon der Kunstwissenschaft: „Illusio war bis ins 17. Jh. hinein ein Wort, das für bösartige Täuschungen stand, die durch magische oder dämonische Kräfte zustande zu kommen schienen.“ (Metzler Lexikon Kunstwissenschaft, hg. von Ulrich Pfisterer, Berlin 2019, S. 201). In der Form der Nachahmungsästhetik wird die Kunst unter den Generalverdacht gestellt, eine (Ver-)Fälschung der Wirklichkeit zu sein.

Geht man von der Kunst wieder zurück auf das Feld der Wahrnehmungspsychologie, weitet sich dieser Verdacht geradezu auf alles aus, was ist: Nichts ist das, was es vorgibt zu sein. Es scheint nur so. Die Erfahrungen mit optischen Täuschungen belegen dies unmittelbar. Zudem nimmt jeder Mensch mit seinen Sinnen die Dinge grundsätzlich verschieden wahr. Veränderte Zeiten und Räume verändern auch die Wahrnehmung. Manche Konversation nach Kulturveranstaltungen („Waren wir eigentlich im gleichen Konzert?“) oder das Phänomen, dass man heute mag, was gestern nicht gefiel (und umgekehrt), dürften als schneller Beleg hinreichen.

Was aber bedeutet das in Fragen des Theaters? Das Theater ist genau der Ort, an dem die Illusion ihr produktives Zuhause findet. Es ist nicht nur notwendigerweise der Raum für Illusionen, es kann diesen nicht entgehen. Und es kann der Illusion nicht nur nicht entkommen, es darf und muss sie sogar erzeugen, denn wo dies nicht geschieht, scheitert das Theater an seiner ästhetischen Bestimmung. „Die offenen Mäuler und gespreizten Arme all der dicken Tenöre und Primadonnen zerstören jeden Rest von Illusion“...

Das Theater stellt vor allem einen Raum bereit, der Illusionen ganz eigener Art erzeugen kann. Man denke nur an das Beispiel der Augsburger Puppenkiste. Wenn dort das Wasser mit Folien imitiert wird, zweifelt niemand daran, dass es sich dabei nicht um Wasser handelt, sondern um eine Illusion von Wasser. Auch weiß jeder, dass die an Seilen hängenden Figuren keine „echten“ Lebewesen sind, sondern welche aus Holz, die echte Lebewesen verkörpern. Ein Fernorchester in einer Musiktheateraufführung steht auch nicht irgendwo im Gebirge, sondern im Theater; das Eismeer ist nachgebaut, der See nicht unergründlich tief, das Gras ist Kunstrasen.

Und der Schauspieler X oder die Schauspielerin Y: Sind sie, was sie darstellen, oder bleiben sie sie selbst? Der philosophische Anthropologe Helmuth Plessner hat diese Frage in seiner „Anthropologie des Schauspielers“ (1948) ziemlich präzise beantwortet: „Der Schauspieler stellt Menschen dar. Ein Mensch verkörpert einen anderen. Nirgends sonst wird uns das gezeigt. Dichtung und bildende Kunst verkörpern ‚auf Umwegen‘ und ‚im Abstand‘, in Wort, Farbe und Form, nicht in Menschen selbst. Im täglichen Leben begegnen wir dem Menschen ‚wie er ist‘, ungeschminkt und unverstellt. … Herr X. als Othello und Frau Y. als Desdemona sind Personen der Vorstellung und gehören, nimmt man den Ausdruck beim Wort, dem Bereich der Phantasie an. Othello und Desdemona sind Bilder, die eine Wirklichkeit bedeuten, zwischen die wirklichen Theaterbesucher und die wirklichen Schauspieler geschoben, Bilder einer imaginären Welt, die der Wirklichkeit gleicht, aber sie selbst nicht ist.“ (Helmuth Plessner: Zur Anthropologie des Schauspielers (1948, in: ders: Gesammelte Schriften Band VII, Ausdruck und menschliche Natur, Frankfurt am Main 2003, S. 403))

Das alles funktioniert nur deshalb, weil es Theater ist und nicht Realität. Die Vorstellung (auf der Bühne) bedarf der Vorstellung (beim Publikum). Erzeugt wird dabei, so Plessner weiter, jene „Illusion des Dabeiseins“ (S. 409) ohne dabei zu sein. So wie niemand mehr wirklich auf der Bühne sterben muss, wird auch der Schauspieler nicht zum Mörder, wenn er jemanden auf der Bühne „umbringt“ – und daher muss die Polizei nicht im Publikum sitzen und eine Ärztin im Publikum wird nicht zum Ort des Geschehens rennen, um Wiederbelebungsmaßnahmen durchzuführen. Diese Trennung von Leben und Kunst ist essentiell und eine Kulturtechnik, die erlernt werden muss. Die Trennung von Realität, Wirklichkeit, Vorstellung und Illusion begrenzt den Theaterraum aber zugleich auch ethisch. Darauf hat der Kunstphilosoph Arthur C. Danto hingewiesen: „Tom Stoppard sagte einmal, wenn man vom Fenster aus sehe, wie ein Unrecht geschehe, dann sei es das Nutzloseste, was man tun könne, ein Stück darüber zu schreiben“, heißt es in seinem kunstphilosophischen Buch „Die Verklärung des Gewöhnlichen“ (Frankfurt am Main 1991, S. 47), und er ergänzt: „Ich würde noch weiter gehen und sagen, dass etwas falsch daran ist, Stücke über die Art Unrecht zu schreiben, bei der wir eine Pflicht zum Eingreifen haben, da dies das Publikum genau in jene Art von Distanz versetzt, die der Begriff psychische Distanz beschreibt.“

Manchmal oszillieren diese Illusionswelten allerdings: In einem Musiktheater, das auch das Publikum nicht nur als Zuschauer auffasst, sondern als Mitsinneswesen im weiteren Sinn, wie in Georg Friedrich Haas‘ und Händl Klaus‘ „Koma“, uraufgeführt bei den Schwetzinger Festspielen im Mai 2016, hier gesehen etwas später am Staatstheater Darmstadt, wird das durchaus auf die Spitze getrieben. Im Zentrum dieses Stücks steht eine Frau, die sich nicht äußern kann oder wenigstens nur in einer Weise, die von außen kaum verständlich ist, denn sie liegt im Koma. Von außen versucht man gleichwohl, an diese Person, die den Namen Michaela trägt, heranzukommen. Die verschiedenen Positionen finden ihren gestalterischen Widerhall darin, dass gut die Hälfte des Stücks im kompletten Dunkel des Theaters spielt (also nicht einmal Notausgangslichter sind angeschaltet – eine Situation, die völlig überraschend schwer herstellbar ist). Andere Passagen sind halbhell oder hell, wenn sie im Differenten oder Eindeutigen spielen.

Nun kennt jeder die Erfahrung beim Hören von Musik, dass man das Dunkel selbst herstellen kann, indem man die Augen schließt. Hier ist es anders: Man sitzt im Publikum kollektiv im Dunklen, in einem tatsächlich lichtlosen Raum, wo einem dann nur die Ohren, die Nase und die Haut zur Orientierung bleiben. Das fühlt sich bedrohlich an, zugleich ist es eine künstliche und artifizielle Erfahrung. Dabei geht es nicht um eine plumpe Eins-zu-eins-Erfahrung, das wäre genau diese Form der Illusion, die man, weil sie eine simplifizierende Analogiebildung wäre, als falsche Täuschung empfände. Die Orientierungsschwierigkeiten werfen gleichwohl die Frage auf, wo man sich tatsächlich befindet. Und diese Frage ist wesentlich, geht an die eigene Physis und die Psyche.

Spätestens hier kommt die Musik ins Spiel. Haas bereitet eine weitgehend athematische Musik zu, bestehend aus einem Zauber an Farben, die durch die Verwendung von Obertonreihen transponierend eine harmonisch verschrobene Klangwelt erzeugt, bei der der Grundton immer wieder alteriert wird um eben die jenseits der chromatischen Skala befindlichen Töne. Die Wirkung: wie schwarze Sonnen, die im Prisma gebrochen werden. Die musikalische Klangwelt, die Haas formt, ist von hoher Prätention. Die Zauberei der Musik ist jedoch geradezu verhext. Der Komponist suggeriert Halt auch dort, wo der Boden der Klänge wie Treibsand ist. Zwischendrin wieder auch mal homophone und homorhythmische Phasen. „Das Empfinden ist verändert“ und „Das Vertraute scheint unheimlich“, sagen die beiden Ärzte an einer Stelle des Stücks.

Davon sind die Ansätze des virtuellen Theaters deutlich zu unterscheiden. Bei „Virtual Reality“ wird der Versuch unternommen, die Illusion so zu perfektionieren, dass sie nicht als zweite Realität wahrgenommen wird, sondern diese die erste ersetzt. Im Grunde geht es um den Austausch der eigenen Sinne durch andere, fremde. Dadurch käme man tatsächlich in die schwierige Lage, nicht mehr unterscheiden zu können zwischen dem, was man selbst wahrnimmt und dem, was für einen wahrgenommen wird. Das wäre nicht unähnlich gegenüber Phänomenen wie denen eines Drogenrausches. Aber täuscht das Theater die Sinne, indem es tut, als wäre es keine Illusion, täuscht sie einen gleich im zweifachen Sinn, weil sie uns glauben machen möchte, sie sei etwas, was zugleich ist und nicht ist. Dann wird die ästhetische Illusion „nicht als Realität, sondern als fiktive Wirklichkeit erfahren, die dazu tendiert, mit der aktualen Wirklichkeit des Betrachters zu verschmelzen“ (Metzler Kunstwissenschaft, S. 204). Darin besteht nicht zuletzt die Gefahr aller technischen Simulationen dieser Art, die versuchen, einen darüber zu täuschen, dass sie einen täuschen. Dieser Entwicklung darf man durchaus mit Skepsis begegnen. Derlei Formen von Illusionen sollten immer Zeugnis darüber ablegen, dass sie nicht die Wirklichkeit sind, sondern eine Wirklichkeit eigener Art herstellen: Theater eben. Die Künstlichkeit von Kunst hat ihr größtes ästhetisches Potenzial genau darin. Auch Kunst ist in gewissem Sinne, wie es Freud für die Religion wahrnahm, die Erschaffung eines Phantasieraums durch und durch. Als Illusionskunst besteht für sie darüber hinaus die Fähigkeit, Dinge zu gestalten, die es nicht gibt.

Martin Hufner

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