Schwerpunkt: ILLUSION & BÜHNE
Digitale Landschaften
„Beyond Lightscapes“, ein zukunftsweisendes Projekt in Neubrandenburg
Lars Scheibner und Marcus Doering im Gespräch mit Barbara Haack
„Beyond Lightscapes“ heißt ein Projekt, das im Theater Neubrandenburg vor einem ausgewählten Publikum gezeigt wurde: eine Performance für Tanz, Video und Licht. Verantwortlich für die Konzeption, Choreografie, Technik und Realisierung waren Lars Scheibner und Marcus Doering. Scheibner ist selbständiger Choreograf und Regisseur; seit 2016 ist er Künstlerischer Leiter der Deutschen Tanzkompanie Neustrelitz. Marcus Doering ist Doktor der Physik und Gründer von PMD-ART Productions, das er gemeinsam mit Scheibner betreibt. Über das zukunftsweisende Projekt sprach Barbara Haack für „Oper & Tanz“ mit den beiden Ini-tiatoren und Ideengebern. Derzeit verhandeln diese mit verschiedenen Veranstaltern über eine Übernahme der Show.
Oper & Tanz: Was verbirgt sich hinter dem Projekt „Beyond Lightscapes“?
Lars Scheibner: Im Januar haben wir im Rahmen von „Neustart Kultur“ einen Antrag beim Dachverband Tanz für das Programm „tanz:digital“ gestellt. Seit März arbeiten wir an diesem Projekt. Wir, das sind Marcus Doering und ich sowie André Bernhardt, der Entwickler einer speziellen Technologie. Es geht bei „tanz:digital“ darum, neue Mittel und Wege zu erforschen, wie man Tanz mit Digitalität und digitalen Räumen zusammenbringen und dem Publikum erlebbar machen kann. Marcus Doering und ich arbeiten seit über zehn Jahren mit einer Technologie, die ein aktives „Mapping“ und „Tracking“ von Tänzern in Echtzeit ermöglicht. Das Video wird an den Tänzer „gekoppelt“, es verfolgt ihn und passt sich ihm an; man muss sich das vorstellen wie ein Kostüm aus Licht.
Marcus Doering: Stellen Sie sich vor, Sie haben eine Tänzerin, die auf der Bühne steht und keine vorgegebene Choreografie hat. Das Licht bleibt immer auf ihr drauf, unabhängig davon, wie sie sich bewegt. Eine andere Möglichkeit besteht darin, die Bewegung und die Agilität der Tänzerin in Effekte umzuwandeln – oder auch das ganze Bühnenbild. Man kann zum Beispiel Regen einsetzen, der von oben kommt und an der Tänzerin abprallt, egal wo sie steht. Das ist eine relative neue Technologie. Ich habe sie mitentwickelt und dachte mir, dass die Kreativen gerne damit arbeiten würden. Sie ist allerdings kompliziert; sie zu verstehen und in einen kreativen Prozess einfließen zu lassen, habe ich komplett unterschätzt. Seit ich Lars kenne, weiß ich, wie das ist, wenn man konzeptionell und kreativ damit arbeitet.
Scheibner: Ein großer Schwerpunkt bei uns ist die Verschiebung der Realitätsebenen. Der andere Schwerpunkt ist der Dialog Mensch – Maschine, das ist ein Schlüsselpunkt: nicht nur die Illusion des Tänzers, sondern der Dialog in Echtzeit zwischen dem Tänzer und der Maschine. Das ist ein faszinierender Vorgang.
O&T: Arbeiten Sie dabei mit der Tanzkompanie Neustrelitz?
Scheibner: Immer, wenn man Neues an den Mann bringen will, stößt man auf Widerstand. Unsere erste Produktion wurde auch von der Tanzkompanie Neustrelitz ermöglicht und gefördert. Später gab es dann einen Konflikt mit dem Stiftungsrat, der gesagt hat, die Technologie sei ganz schön, habe aber nichts mit dem Repertoire der Tanzkompanie zu tun. Das ist die Stiftung für traditionellen Tanz in Mecklenburg-Vorpommern. Deswegen versuchen wir das Ganze auszulagern.
O&T: Trotzdem haben Sie das Projekt „Beyond Lightscapes“ in Neubrandenburg gestartet. Was genau haben Sie gemacht?
Scheibner: Als Grundhypothese sind wir davon ausgegangen, dass der Mensch sowohl Landschaften formt als auch von ihnen geprägt wird. Jetzt haben wir uns gefragt: Was passiert eigentlich mit den neugeschaffenen digitalen Landschaften? Mit den Bildschirmen, den Screens, den virtuellen Räumen und dem Bewusstsein der Echtzeitkommunikation über den ganzen Globus? In welcher Wechselwirkung stehen diese neuen digitalen Landschaften mit dem Menschen? Das haben wir versucht, in sinnliche, poetische, dramatische Bilder für eine Performance in Echtzeit zu übersetzen.
O&T: Performance in Echtzeit heißt, dass sich während jeder Performance etwas Neues entwickelt?
Bei der Probe. Foto: Sebastian Köckler
Scheibner: Die Choreografie ist nur zu etwa 10 Prozent vorgegeben. Die restlichen 90 Prozent entwickeln die Tänzer immer wieder neu. Natürlich haben sie die Musik und den Einstiegs- und Endpunkt als Vorgabe sowie eine gewisse Grundstimmung und Atmosphäre. Aber alles, was dazwischen liegt, wird von den Tänzern jedes Mal live entwickelt. Man kann sich das vorstellen wie bei einer Lasershow, bei der sich die Laserwand durch das Publikum fächert, nur hier an den Tänzer angeschmiegt. Der Tänzer führt eine Wand aus Licht mit sich und kann dadurch seine Bewegung in den Raum vergrößern. Was ein Sänger mit dem Mikrofon machen kann, macht der Tänzer hier mit dem Licht. Mit einer Geste seiner Hand kann er diese Lichtwand erzeugen.
Doering: Wenn die Tänzer merken, dass das Licht ein Partner auf der Bühne ist, dann ändert sich auch ihre Bewegungsqualität. Sie fangen an, mit einem virtuellen Partner auf der Bühne zu arbeiten. Das ist spannend: Wir haben zum Beispiel schon mit Wasserwellen gearbeitet, und die Tänzerin hat sofort verstanden, wie sie mit dem Impuls dieser Wasserwellen, der immer wieder erneuert werden muss, umgehen kann.
O&T: Welche Musik haben Sie verwendet?
Scheibner: Wir haben in Neustrelitz einen jungen Mann getroffen, Erik Swiatloch. Wir haben ihn spontan gefragt, ob er nicht Lust hätte, die Musik für das Projekt zu machen. Er hat schnell zugesagt, obwohl er noch nicht wusste, was auf ihn zukommt, und für uns in kurzer Zeit eine Stunde Musik teils arrangiert, teils neu komponiert. Wir steuern die Videoeffekte, den Beginn und das Ende des Lichts über die Timeline der Musik. Wir hören uns beim Programmierprozess die Musik unzählige Male an. Denn die verschiedenen Effekte werden durch Überblendung an die Musik angeglichen. Das ist sehr aufwendig.
O&T: Der Choreograf steuert während der Aufführung nichts mehr?
Doering: Nicht nur der Choreograf, auch ich als Programmierer steuere am Ende nichts mehr. Die Algorithmen sind vorgegeben, aber nicht das, was auf der Bühne passiert.
Scheibner: Wenn der Tänzer stolpert, stolpert der Videoeffekt auch.
O&T: Wie wird so etwas geprobt?
Scheibner: Sehr aufwendig, denn man muss lange probieren, um das System an die Tänzer anzupassen. Wir waren im Schauspielhaus Neubrandenburg drei Wochen lang alleine und konnten den Raum bis in die Nacht mit allen Installationen für uns nutzen.
Sobald das Stück dann steht, braucht es wenig Proben, da die Tänzer improvisieren und die technische Konzeption bereits erprobt ist.
O&T: Welches sind die Ansprüche an die Tänzer*innen über das hinaus, was sie bisher gemacht haben?
Scheibner: Neugier, Geduld und Verständnis für die Technologie. Das haben unsere Darsteller*innen.
O&T: Wird in der Performance etwas erzählt, gibt es eine Geschichte?
Scheibner: Wir haben uns bewusst für eine klassische Dramaturgie in der Abfolge der einzelnen Improvisations-Segmente entschieden. Es gibt einen Themenkomplex „Geburt“; dann einen mit dem Namen „Drei Individuen etablieren und emanzipieren sich“; als nächstes einen großen Komplex „Kommunikation, Wege, Vernetzungen und Verbindungen“; ein Komplex „Krise und Verfall“ und dann ein Komplex „Wiederauferstehung und neue Wege“, also eine ganz klassische Heldenreise. Wir haben das bewusst gewählt, denn wir zeigen hier so viel visuell Neues, dass wir dem Zuschauer einen Anker geben, dass er nicht haltlos ist und die Effekte genießen kann.
O&T: Auch das Publikum muss sich vermutlich in seiner Wahrnehmung verändern.
Scheibner: Dieses Format schreit danach, das traditionelle Guckkasten-System zu hinterfragen und neu zu denken. Denkbar wäre eine Pub-
likumssituation um das Geschehen herum, ein Amphitheater oder eine begehbare Installation. Wir hatten auch schon in einer vergangenen Show den Zuschauern die Möglichkeit gegeben, selbst auf die Bühne zu kommen und die Technik an sich auszuprobieren, was dann in eine wilde Spielerei gemündet ist.
O&T: Wie hat das Publikum in Neubrandenburg reagiert?
Doering: Es war 70 Minuten absolute Stille, völlige Faszination. Die Reaktionen in der Diskussion danach waren unterschiedlich. Von: „Ich konnte meine Gedanken schweifen lassen“ über „Begeisterung“ bis zu „komplette visuelle Überforderung“. Einhellig war die Reaktion: „Das möchte ich nochmal sehen.“
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