Wieland Wagner versprach sich viel von der ersten Zusammenarbeit mit dem ungewöhnlichen Boulez, einem der erklärten Aufrührer der Traditionen. Zu diesem Zeitpunkt waren Sie bereits ständiger Mitwirkender der Darmstädter Ferienkurse für Neue Musik ab 1952 sowie der Donaueschinger Tage ab 1959. Aber nochmals zurück zum Parsifal im Sommer 1966: Die akustische Entrümpelung fand statt, als Pierre Boulez am Hügel erschien. Wieland Wagner wollte nach der so genannten szenischen Revolution den Neuen Klang. Was hilft es, auf der Bühne neue Wege zu gehen, wenn aus dem Geist des vorherigen Jahrhunderts heraus musiziert wird? Dies sind Gedanken Wieland Wagners. Dann kam das Jahr 1970. Ich durfte auf Einladung von Wilhelm Pitz im Bayreuther Festspielchor mitsingen. Der Parsifal wurde wieder von Ihnen, sehr geehrter Herr Boulez, dirigiert. Bei der ersten Probe mit dem Orchester war ich erstaunt, dass der Maestro keinen Taktstock benutzte. Alle Suggestion ging aus den Fingern seiner sprechenden Hände. Man spürte sofort, dass er eigene bestimmte Ideen hatte, wie man Wagner aufzuführen habe. Ein klarer Bruch zu jener Tradition der Aufführungen von Hans Knappertsbusch. Im Sommer 1976 gab es den so genannten Jahrhundert-Ring. Herr Boulez war vom Festspielleiter, Herrn Wolfgang Wagner, gebeten worden, die musikalische Leitung zu übernehmen und er hatte den jungen unbekannten Regisseur Patrice Chéreau und Wolfgang Wagner zusammengebracht. Der Dirigent auf der Suche nach dem Regisseur. Ich saß bei den Generalproben im Zuschauerraum und sah überrascht und erstaunt, wie zum Ende des
Vorspiels Das Rheingold die Götter nicht in Walhall einzogen, sondern puppenähnliche Gebilde
an einer Wäscheleine hochgezogen wurden. Wenn Sie, Herr Boulez, keine Orchesterproben hatten und zu den szenischen Proben kamen, wurde ausgesungen, weil beim Markieren und Andeuten oft ein anderes Tempo entsteht und die Textverständlichkeit nicht sonderlich gut ist. Pierre Boulez ist eine musikalische Universalbegabung, Komponist, Theoretiker und Dirigent. Seine Persönlichkeit, die so viel Polemik ausgelöst hat, hat ihren Grund in der Größe seiner musikalischen Begabung. Ein analytischer Ansatz. Das zielstrebige Aufdecken von Strukturen. Die Suche nach perfektem Klang. Es gibt in der Frage der Interpretation keine Wahrheit, lautet eine seiner Maximen. Spitzenorchester fürchten den Präzisionsfanatiker, weil er unerbittlich ist und verehren ihn genau aus diesem Grunde. Die Reaktionen auf die Ring-Premiere 1976 stellten alles bisher Erlebte in den Schatten. Begeisterungsstürme und Protestaktionen tobten sich aus. Das Publikum verfeindete sich bis zur Handgreiflichkeit. Vereine für und gegen Chéreau und Boulez wurden gegründet. Denken Sie nur an die Trillerpfeifen im Siegfried, 2. Akt. Erschien im ersten Jahr Wolfgang Wagners Mut zum Risiko bei der Verpflichtung des französischen Teams bewundernswert, so siegte seine Hartnäckigkeit im Bemühen, diesen Ring beim Publikum und bei den Medien durchzusetzen. Der Erfolg war mehr als nur Bestätigung seiner Intentionen. Von Jahr zu Jahr wuchs die Zahl der Bewunderer. Die Reihen der Gegner lichteten sich. Aus den feindlichen Lagern kamen Überläufer und die letzte Aufführung 1980 endete in einem Schlussapplaus von 85 Minuten und 101 Vorhängen. Der Musikreformer Pierre Boulez hat fünf Jahre unbeirrt weitergearbeitet, obwohl seinem Dirigat die Anerkennung lange versagt blieb. Vom Endergebnis waren auch routinierte Zweifler hingerissen: Wilhelm Furtwängler schrieb einmal, dass in den Opern Richard Wagners das Wort und der Ton eine Liebesgemeinschaft eingehen müssen, wie zwei Flüsse, die zu einem reißenden Strom werden. Geistige Größe ohne pathetische Hohltönerei, Rausch einer Geistesverwirrung. Die dramatische Aufgipfelung auf dem Fundament impressionistischer Klangbilder gaben Wagner neue Konturen. 1980 saß Wotan bei der letzten Aufführung der Götterdämmerung im Parkett und wurde vom Publikum mit Applaus empfangen. Donald Mc Intyre, der vorher drei Abende lang auf der Bühne den Speer gehalten hatte, kam zum Schluss und Höhepunkt als Besucher. Dies war eines der unzähligen kleinen Signale dafür, welches Maß an gegenseitigem Interesse das Team dieses Projektes inspiriert und zum letztlich kaum noch beschreibbaren Erfolg geführt hat. Möglich war diese Steigerung nur durch ein Zusammenspiel aller Kräfte, deren geistiger Mentor Sie, Herr Boulez, waren. Insgesamt haben Sie 68 Vorstellungen aus Der Ring des Nibelungen in Bayreuth dirigiert. Lassen Sie mich noch etwas sehr Persönliches sagen. Am Ende der Festspielzeit 1977 sandten Sie mir, sehr geehrter, lieber Herr Boulez, einen Brief, in dem Sie mir ganz besonders für meinen Beitrag zum diesjährigen Ring dankten. Die Anrede war: Lieber Herr Jung Zum Abschluss: Mit herzlichen Grüßen. Im zweiten Jahr erhielt ich einen ähnlichen Brief. Im dritten Jahr mit der Fernseh-Aufzeichnung Götterdämmerung war die Anrede: Lieber Manfred Und am Ende: Mit bestem Dank und herzlichen Grüßen, Ihr Pierre Boulez. Nach der Fernseh-Aufnahme 1980 Siegfried teilten Sie mir, sehr geehrter lieber Herr Boulez, mit: Lassen Sie mich Ihnen sagen, wie glücklich ich über das Resultat bin und wie schön und reibungslos die Arbeit mit Ihnen war. Ich danke Ihnen für alles. Mit sehr herzlichen Grüßen, Ihr Pierre Boulez. Was sagt das? Warum gebe ich hier so ganz persönliche Dinge preis? Es wurde viel über den großen Künstler Pierre Boulez gesprochen. In der Oper Die Zauberflöte gibt es am Anfang des 2. Aktes eine Dialog-Szene vor der Arie des Sarastro mit dem Chor: O Isis und Osiris. Sarastro wird von dem Sprecher und zwei Priestern nach Tamino, dem Königssohn, befragt.
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