Insgesamt finden die gesellschaftlich-technischen Entwicklungen zu Beginn des 20. Jahrhunderts ihren Niederschlag im Musiktheater wie nie zuvor. Das Thema „Kurt Weill – Musiktheater und die moderne Großstadt“ unter musik- wie architekturwissenschaftlichen Gesichtspunkten zu beleuchten, war da ebenso naheliegend wie verdienstvoll. Ein Konzept von „Stadt als kompositorischer Differenz“ entwickelte Bauhaus-Direktor Omar Akbar, ausgehend vom Begriff der Komposition als Zusammenstellung heterogener Elemente, die der „Stadt als Klangkörper“ eine charakteristische Polyphonie abgewinnt. Diese „Differenz“ lässt die Gleichzeitigkeit des Verschiedenen zu, heiße Harmonien ebenso wie Disharmonien. Stadtplanung bedeutete in der Geschichte häufig, Widersprüche zugunsten eines idealen Ganzen einzuebnen. Doch die moderne Stadt, vielfach als Moloch, als Kakophonie nicht mehr zu bewältigender Reize wahrgenommen, müsse sich mehr denn je dem Experiment öffnen – etwa nach dem Vorbild des zeitgenössischen Musiktheaters, das in radikaler Abgrenzung zur traditionellen Oper auf die städtischen Umbrüche experimentell reagiert habe. Was heißt das für Kurt Weill? Das Panaroma der Revuetheater im Berlin der Zwanziger Jahre, die die wechselnden Moden und Lebensgewohnheiten zum Thema machten, entfaltete Nils Grosch. Die Spoliansky-Revue „Es liegt in der Luft“ etwa verwendete eine Warenhaus-Szenerie als pars pro toto der urbanen Welt, „Schön und schick“ handelte vom Auto, seinen Chauffeuren und Fahrgästen. Joachim Lucchesi skizzierte das gescheiterte Projekt des Brecht/Weillschen „Ruhrepos“ in Essen 1927, das tiefgehender, ebenso futuristisch wie historisch bestimmt, die Lebenswelt in den Bergwerken einfangen wollte. Nicht-Ort oder LagerraumWeill schwebte eine monumentale Oratorium-Form vor, mit Arien und großen Chorpartien, die die riesigen Fabrikhallen nach Art der venezianischen Mehrchörigkeit nutzen sollten. Szenen mit Jazz- und Songcharakter sollten für komödiantische Brechungen sorgen, wie sie auch Weills Lehrer Busoni in seiner „jungen Klassizität“ vorschwebten. „Mahagonny, das ist kein Ort“, umriss Marie Neumüllers, Germanistin am Bauhaus, die Haltung des listigen Bert Brecht zum Großstadtdschungel, die im Gegensatz zu den übersensiblen Expressionisten weder apokalyptisch noch euphorisch war, sondern nüchtern die „Rüstung für den Kampfplatz der Öffentlichkeit“ anlegte. Dem Nicht-Ort, der Utopie, stellte Laura Frahm die Stadt als „Heterotopie“, als vertikal geschichteten Lagerraum der unterschiedlichsten Elemente oder auch als Transitraum, in dem Vergangenheit, Zukunft und Identität nicht zählen, gegenüber. Wenn auch mit dieser auf Foucault zurückgehenden „raumtheoretischen Analyse“ das Haus Nr. 36 in einer New Yorker Siedlung, Schauplatz von „Street Scene“, zutreffend als sozialer Raum komplexer Beziehungsgeflechte beschrieben wurde, so fragte man sich doch nach der Deutungsfähigkeit eines solch aufwendigen Konzepts über traditionelle Ansätze hinaus. GroßstadtpanoramaDenn anders als in heutigen „Nicht-Orten“ wie Flughäfen oder Einkaufszentren, die den Identitätsverlust vorprogrammieren, geht es in „Street Scene“ doch eher zu wie auf dem Dorf, mit festumrissenen Persönlichkeitsbildern, deren Abwehr des Fremden uns nur zu bekannt vorkommt. „Verflochtenheit als Kontext“ mit konterkarierenden Vorgängen ist da eher eine banale Erkenntnis. Während Jürgen Schebera die Zusammenarbeit von Weill, Langston Hughes und Elmer Rice in „Street Scene“ in bekannter Weise beschrieb, hatte Stefan Weiss wirklich Erhellendes beizusteuern. Am Beispiel von Schostakowitschs Oper „Die Nase“ entfaltete er ein auch musikalisch greifbares Großstadtpanorama von wirklich drangvoller Enge: 78 Personen, gesungene Partien, Sprechrollen und Chor (Street Scene: 54) bringen hier schon rein zahlenmäßig die Großstadt auf die Bühne. Mit einem achtstimmigen Kanon wird die Hauptfigur aus dem sichtbaren und musikalischen Raum verdrängt; polyphone Strukturen bezeichnen tatsächlich urbane, schwer überschaubare, die Vielfalt der Differenz wiedergebende Vorgänge, die in politisch präzise Beschreibung der Machtverhältnisse im damaligen „St. Leninburg“ münden. Ein solch kritisches Moment scheint „Street Scene“ denn doch zu fehlen – wie das ganze Weill Fest diesmal ein wenig beliebig den Klischeevorstellungen von Großstadt huldigte.
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