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Meisterhafter Geschichtenerzähler
Stuttgarter Cranko-Hommage zum 80. Geburtstag · Von Vesna
Mlakar
Vom Publikum geliebt, von seinen Tänzern verehrt, von führenden
Compagnien in aller Welt getanzt: Nur 46 Lebensjahre waren John
Cranko vergönnt, um sich vom jungen Tanzeleven im südafrikanischen
Kapstadt zum wohl bedeutendsten Choreografen der seinerzeitigen
Bundesrepublik Deutschland zu mausern. Mit Meisterwerken wie „Romeo
und Julia“ (1962), „Onegin“ (1965) und „Der
Widerspenstigen Zähmung“ (1969) verhalf er dem Handlungsballett
zu neuem Stellenwert, führte Stuttgarts Compagnie zu internationalem
Ansehen und formte eine Riege von Tänzerpersönlichkeiten,
die heute selbst an der Spitze wichtiger Ensembles stehen. Als
ihn der Tod völlig unerwartet am 26. Juni 1973 nach einer
USA-Tournee auf dem Rückflug von New York nach Stuttgart ereilte,
war die damalige Ballettwelt erschüttert.
Das Stuttgarter Ballett widmete Cranko aus Anlass seines 80. Geburtstags
ein ganzes Festival mit breitgefächerter Werkschau, verschiedenen
Kooperationen und reich bebilderter Jubiläumsschrift „Cranko
Moves Stuttgart“. Nach dem Dreiteiler „Cranko Moves
1“ mit den Stücken „Brouillards“ (1970), „Présence“ (1968)
und „Jeu de cartes“ (1965) und vor einer mit internationalen
Gastsolisten prominent besetzten Cranko-Ballettgala hob sich Intendant
Reid Anderson den Fortsetzungsabend „Cranko Moves 2“ als
finalen Höhepunkt auf. Denn auch noch so kunstvoll verpackte
Happen rund um Crankos ergreifende Pas de deux können niemals
das Erleben eines vollständigen Handlungsballetts ersetzen.
Umso bedauerlicher war es, dass ausgerechnet die Wiederaufnahme
von Crankos außergewöhnlichem Spätwerk „Initialen
R.B.M.E.“ nicht so recht gelang. Der jungen, konkurrenzgestählten
Tänzergeneration von heute mögen ja Gefühle weniger
vertraut sein, die die Cranko-Ära auszeichneten: Freundschaft,
Kameradschaft, Gemeinschaft. Genau diese liegen aber sowohl der
Musik – Johannes Brahms’ Konzert für Klavier und
Orchester Nr. 2 B-Dur – als auch der Choreografie in vier
Sätzen zu Grunde: Nicht die Perfektion des Einzelnen, sondern
die Qualität der Gruppe im Dialog mit dem Solisten beziehungsweise
dem führenden Paar, also das Zusammenspiel aller, ihre Bewegungsharmonie
hätte dem an sich abstrakten Ballett Tiefe verleihen sollen.
Der Begründer des so genannten „Stuttgarter Ballettwunders“ wollte
bei der Uraufführung am 19. Januar 1972, wenige Monate vor
seinem Tod, eine Geschichte erzählen: nämlich die von
den vier Freunden und ihm treu ergebenen Solisten Richard Cragun,
Birgit Keil, Márcia Haydée und Egon Madsen. Passend
zu ihrer tänzerischen Kunstfertigkeit und ihrem Charakter
vertraute er jedem einen Satz an und bündelte die Initialen
ihrer Vornamen im Titel. So schenkte er seinen unverwechselbaren
Interpreten ein in zweifacher Hinsicht sehr persönliches Werk,
das mit technischen Schwierigkeiten nur so gespickt ist. Beim Stuttgarter
Ballett der Gegenwart darf daran noch gefeilt werden – ebenso
wie an der Ausdruckskraft. Dass auch andere Tänzer die Rollen
zu tragen vermögen, wurde dennoch bewiesen – allen voran
von Sue Jin Kang und Douglas Lee im vielleicht berührendsten,
melancholischen dritten Satz. Auch in der von Reid Anderson und
der Choreologin Georgette Tsinguirides auf eine Stunde gestrafften
Neuinszenierung von Crankos letztem großen Abendfüller „Carmen“ (Premiere:
28. Februar 1971) glänzte Stuttgarts Erste Solistin, Kammertänzerin
Sue Jin Kang. Als veritable Nachfolgerin Márcia Haydées
(die Carmen der Uraufführung) meisterte sie die Verwandlung
von der elegischen Ballerina des ersten Teils, die nach Momenten
der Zweisamkeit getrennte Wege von ihrem Partner geht, zur feurigen
Femme fatale aus Prosper Mérimées Novelle. Zudem
sind Wolfgang Fortners für Crankos Ballettversion komponierte „Bizet-Collagen“ absolut
packend.
In nur sieben Bildern schildert Cranko Carmens tragische Verstrickung,
an deren Ende Don José – degradiert, ihr verfallen,
zum Landstreicher und Mörder seines Hauptmanns verkommen – die
Ungebändigte hinterrücks niedersticht. Es ist eine Verzweiflungstat,
der ein grandioses, sich von Enttäuschung über Wut zu
Trauer und Rachegedanken steigerndes Solo Don Josés vorangeht.
Hier endlich kann Marijn Rademaker mit voller Power den verletzten
Gefühlen seiner Figur freien Lauf lassen und sprunggewaltig
Ausdruck verleihen: ein choreografisches wie emotionales Feuerwerk,
das sich in dieser geglückt-kompakten Neufassung beim Liebesduett
im vierten Bild entzündet und vom Stierkämpfer (perfekter
Macho: Jason Reilly) bis zum fatalen Ende am Lodern gehalten wird.
So faszinierend kann Ballettgeschichte sein!
Vesna Mlakar |