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Große Oper für die Kleinen
Die Geschichte der Kinderoper in Deutschland · Von Gunter
Reiß Das Thema Kinderoper nimmt in unseren Theatern und Opernhäusern
einen immer größeren Raum ein. Musical und Oper für
die ganz Kleinen, für Kinder und Jugendliche ist aus den Häusern
nicht mehr wegzudenken. Immer mehr gute und weniger gute Beispiele
machen Schule. Aus diesem Grund will sich „Oper&Tanz“ diesem
Thema in den kommenden Ausgaben schwerpunktmäßig zuwenden.
Wir beginnen mit einem Beitrag von Gunter Reiß über
Anfänge und Geschichte des Genres. Der Autor ist Professor
an der Forschungsstelle Theater und Musik an der Westfälischen
Wilhelms-Universität Münster.
Erfolgreich, beliebt und doch immer wieder in der Kritik: Engelbert
Humperdincks Märchenoper „Hänsel und Gretel“ ist
seit ihrer Uraufführung 1893 das offensichtlich von den Opernintendanten
und vom jungen wie erwachsenen Publikum ungebrochen bevorzugte
Modell „Kinderoper“. Tatsächlich verkörpert „Hänsel
und Gretel“ das komplexe und widerspruchsvolle Paradigma
eines Genres, das sich eindeutigen Festlegungen auf merkwürdige
Weise entzieht. Als Musikdrama in der Wagner-Nachfolge für
die große Opernbühne und ihren üppigen musikalischen
und technischen Apparat konzipiert, entspricht Humperdincks Werk
als opulentes Ausstattungsstück dem in der Kunst gefeierten
bürgerlichen Repräsentationsbedürfnis des Wilhelminischen
Kaiserreichs. Gleichzeitig wurzelt diese Märchenoper von ihrer
Entstehungsgeschichte her als Singspiel fürs Wohnzimmer mit
einfach zu singenden Kinderliedern und Klavierbegleitung in der
Tradition und Aufführungspraxis der Hausmusik. Professionell
aufgeführtes Kunstwerk und Laienspiel für den Hausgebrauch – so
weit reicht der Spannungsbogen, in dem die Oper für Kinder
seit jeher steht. Stets richtet sie sich deshalb an Erwachsene
und Kinder als Publikum und Aufführende zugleich und verliert
dabei jene „Unschuld“, ausschließlich für
die Kinder gemacht zu sein. Das ist weniger eine Frage der Produktion
als der Rezeption. Als kindgerecht, unbedenklich oder wertvoll
definieren Eltern, Lehrer, Verlagslektoren oder Dramaturgen ein
Stück. Dann erst wird es ausgewählt und aufgeführt,
wird sein pädagogischer Gebrauchswert bestimmt, ehe es an
die Kinder gelangt. Nicht zu unterschätzen ist, was für
Kinderliteratur generell gilt, nämlich eine spezifische Doppeltadressiertheit.
Diese trifft auch für die Kinderoper zu und zieht sich wie
ein roter Faden durch ihre Geschichte, von den ersten Anfängen
im didaktisch ausgerichteten Jesuitendrama des 16. Jahrhunderts
und dem aufgeklärten Kinderschauspiel des 18. Jahrhunderts
bis zur Gegenwart. Der damit einhergehende Einfluss auf Stoffwahl,
inhaltliche und formale Gestaltung ist beträchtlich. Theaterstücke
für Kinder definieren sich im Allgemeinen von einem außengeleiteten
Ziel her. Sie übernehmen eine Aufgabe im Sozialisationsprozess
der Heranwachsenden, dienen auch der ideologischen Eingliederung
in die Gesellschaft der Erwachsenen und vermitteln die etablierten
Wertvorstellungen, Normen und Verhaltensregeln.
Auch in diesem Punkt ist „Hänsel und Gretel“ ein
typisches Beispiel. Zwar ist Humperdinck der Überlieferung
des Märchenstoffes durch Grimm und Bechstein scheinbar eng
verpflichtet, doch weist sein Libretto zahlreiche gravierende,
dem Zeitgeist verpflichtete Eingriffe in die Vorlagen auf, die
es in einem nicht unbeträchtlichen Maße zum Abbild des
Wertesystems der bürgerlichen Gesellschaft um 1900 machen.
Frömmigkeit, Gehorsam, die Abhängigkeit von göttlicher
Hilfe etwa sind Elemente einer von den ursprünglichen Intentionen
deutlich abweichenden Verbürgerlichung des Märchens. Beginn der Massenkultur
Was am Einzelfall der Oper „Hänsel und Gretel“ beobachtbar
ist, gilt freilich generell für das ausgehende 19. Jahrhundert.
In der Übergangszeit zur „Moderne“ sieht sich
die bürgerlich-wilhelminische Kindheit herausgefordert von
der entstehenden Massenkultur, die die Heranwachsenden überall
dort erreicht, wo sie die bürgerliche Kinderstube nicht mehr
schützt. Die Erzeugnisse populärer Kunst sind im öffentlichen
Raum der Städte beinahe allgegenwärtig. Buchläden
und Zeitschriftenkioske, Warenhäuser, aber auch der Laden
um die Ecke bieten Groschenhefte, Liebesromane, illustrierte Zeitschriften,
Bildpostkarten und Ähnliches an. Aus den Wirtshäusern
tönen nicht stubenreine Gassenhauer. Die Kinos zeigen Filme,
die hinter die Fassaden der Anständigkeit der Erwachsenenwelt
blicken lassen. Unverblümt zeigen die Karikaturen in den Zeitschriften
die Bilder verdrängter erotischer Phantasien. Den Erziehungsverantwortlichen
müssen zwangsläufig solche Angebote massenkultureller
Unterhaltung als Gefährdung der Jugend und als Angriff auf
die Autoritätsstrukturen der Gesellschaft erscheinen. Neben
der direkten Bekämpfung dieser als verabscheuungswürdig
erscheinenden Phänomene entsteht eine Tendenz zum Rückzug
in die „unschuldigen“, gut kontrollierbaren Orte bürgerlicher
Sozialisation: das Haus, das Theater und den Konzertsaal, die Kirche,
den Verein, das Gymnasium. Als Refugien vor gesellschaftlichem
Verfall sollen diese Orte die gewünschten bürgerlichen
Bildungsprozesse gewährleisten. Zwischen Scylla und Charybdis
Lediglich aufgrund ihrer erfolgreichen Rezeptionsgeschichte wird
Humperdincks „Hänsel und Gretel“-Oper hier als
typisches Beispiel stellvertretend für die immanenten Widersprüche
des Genres herangezogen. Solche Widersprüche finden sich – um
einige weitere Beispiele aus der Zeit zu nennen – in Carl
Reineckes Kinderopern für den Hausgebrauch ebenso wie in den
Märchenopern für die große Bühne von Eduard
Poldini („Der Vagabund und die Prinzessin“, 1903),
Leo Blech („Aschenbrödel“, 1905) oder August Enna
(„Das Streichholzmädel“, 1897). Traditionen wie
etwa das Märchenerzählen werden mit dem Repertoire der
erwünschten Verhaltensregeln amalgamiert und als „nützliche“ Unterhaltung
für Kinder und Erwachsene angeboten. Die Balance von Kinderbedürfnissen
und Erziehungsinteressen wird wie selbstverständlich und effektiv
in der ästhetischen Erziehung hergestellt. Wenn auch für
die heutige Aufführungspraxis eine solchermaßen auffällige
Vereinnahmung für religiöse Muster oder patriotische
Inhalte nicht im Vordergrund steht, so ist die Ambivalenz von Kunstwerk
und Gebrauchsstück überall dort unübersehbar präsent,
wo (musik-)pädagogische Intentionen und kreativ-soziale Ergebnisse
reklamiert werden. Da ist das historische Gedächtnis gewiss
nicht fehl am Platz, zumal die „alten“ wie die neuen
Opern für Kinder und ihre Aufführungsbedingungen durchaus
auch heute zwischen Scylla und Charybdis stehen. Sie haben zu kämpfen
mit den Verlockungen des kommerziellen Musicals und den mächtigen
populären Szenarien der Unterhaltungsindustrie.
Oder sollte man sich daran erinnern, dass es auch um das Geld,
respektive um die Zuschauer von morgen geht? Da könnte einem
durchaus das Erfolgsmodell „Weihnachtsmärchen“ Carl
August Görners (1806–1884) aus dem späten 19. Jahrhundert
in den Sinn kommen, dessen Karriere aufgrund der 1869 erlassenen
Gewerbefreiheit für Stadt- und Privattheater mit üppig
ausgestatteten Märchenaufführungen in der Vorweihnachtszeit
speziell für Kinder begann, zum lukrativen Geschäft wurde
und auch heute noch da und dort die Kassen der Stadttheater füllt. Im Blick: Kindliches Lebensumfeld
Zu Beginn des 20. Jahrhunderts erhält das Musiktheater für
Kinder und Jugendliche neue Impulse durch Jugendbewegung, Reformpädagogik
und Laienspielbewegung. Musikalisches Handeln in der Gemeinschaft
und die Förderung schöpferischer Kräfte stehen nunmehr
im Mittelpunkt des szenisch-musikalischen Spiels und markieren
eine musikpädagogische Traditionslinie in der Geschichte der
Kinderoper.
Mit der Schuloper „Der Jasager“ (1930) von Kurt Weill
auf der Grundlage von Bertolt Brechts Lehrstück werden diese
Tendenzen aufgenommen, zugleich politisch geschärft und vor
allem zur Auseinandersetzung mit zeitgenössischer Musik geführt.
Die Schuloper um 1930, zu der auch Komponisten wie Paul Hindemith
(„Wir bauen eine Stadt“, 1930), Wolfgang Fortner („Cress
ertrinkt“, 1930) oder Paul Dessau („Das Eisenbahnspiel“,
1932) beigetragen haben, zeichnet sich durch die Zielsetzung aus,
Kinder und Jugendliche zur zeitgenössischen Musik hinzuführen
und sie damit an aktuellen Entwicklungen des Musiklebens teilhaben
zu lassen. Der künstlerische Anspruch ist hoch, die Anstrengung
des Sich-Abarbeitens am musikalischen Material bewusst kalkuliert.
Die thematisch-inhaltliche Auseinandersetzung zielt auf die Gegenwart.
Anstelle der bisherigen eng begrenzten Märchenstoffe rückt
das Lebensumfeld der Kinder in den Blick. Die Großstadt,
die Erich Kästner im Zuge der Neuen Sachlichkeit in seinem
Kinderroman „Emil und die Detektive“ zum Thema machte,
findet auch Eingang in die Schuloper.
Solchermaßen progressive Entwicklungen werden durch die Zäsur
von 1933 gekappt, die Künstler der Avantgarde ins Exil gejagt.
Die politischen Ziele, die sozial engagierten Lernformen, der geringe
szenische Aufwand der von Laien aufführbaren Schulopern und
Lehrstücke sind den Nationalsozialisten missliebig. Spielformen,
die dem Brecht‘schen Lehrstückkonzept folgen oder der
kommunistischen Arbeiterkultur nahestehen, werden verboten oder
der „braunen“ Erziehungsideologie einverleibt. Als „lustige
Schuloper“ tituliert, ist Georg Blumensaats „Wir bauen
uns ein Auto und fahren in die Welt“ bereits 1932 eine mit
imperialem Gestus durchgeführte Propagandareise der nunmehr
auftrumpfenden neuen „Herrenrasse“ in die Welt der
sogenannten primitiven Völker. Kinderoper in Ostdeutschland
Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges dauert es eine geraume
Zeit, bis neue Wege beschritten werden. Zunächst dominieren Stücke
von Cesar Bresgen (z.B. „Der Igel als Bräutigam“,
1951) und Eberhard Werdin („Des Kaisers neue Kleider“,
1949) die Szene. Bevorzugt werden Märchenstoffe und Spielmusik
auf der Grundlage des Orffschen Schulwerks. Anders als in der BRD
gibt es in der DDR Kindermusiktheater in der Brecht-Nachfolge.
Kurt Schwaen, dessen „Lehrstück mit Musik“ „Die
Horatier und die Kuriatier“ (1955) noch in Zusammenarbeit
mit Brecht entstanden ist, schreibt zahlreiche Werke für Kinder
als Aufführende („König Midas“, 1958) und
als Publikum („Pinocchios Abenteuer“, 1969, „Alle
helfen Häppi“, 1971), die über Jahrzehnte im Repertoire
der professionellen Theater der DDR präsent sind. Die Kinderoper
in der DDR – neben Schwaen von Komponisten wie Siegfried
Tiefensee, Joachim Werzlau, Georg Katzer, Ruth Zechlin und anderen
getragen – ist geprägt von der engen Verbindung von
Kunstanspruch und gesellschaftlichem Auftrag. Grundsätzlich
den Zielen einer sozialistischen Gesellschaft verpflichtet, entwickelt
sich eine breite Themenvielfalt vom Märchen bis zur Alltagsgeschichte
und ein umfangreiches Spektrum an musikalischen Formen. Bewusstseinswandel
Was in der DDR zu einem hervorstechenden Merkmal der Gattung
wird, nämlich die Ernsthaftigkeit ihrer Pflege und die feste Verankerung
im kulturellen Leben, nicht zuletzt durch die Einrichtung selbständiger,
professioneller Kinder- und Jugendtheater mit eigenem Spielplan
und eigenem Ensemble, lässt in der BRD lange auf sich warten.
Immerhin entsteht mit Hans Werner Henzes „Pollicino“ (1980)
seit dem Ende der 1970er- Jahre auch an westdeutschen Opernhäusern
eine wahrnehmbare Tradition neuer Werke. Mit Jens-Peter Ostendorf
(„Alice im Wunderland“, 1977), Violeta Dinescu („Der
35. Mai“, 1986) und vor allem dem beharrlichen Wilfried Hiller
mit inzwischen einem runden Dutzend Stücke engagieren sich
weitere renommierte zeitgenössische Komponisten für das
Genre, bleiben aber weitgehend erfolglos darin, ihre Werke für
Kinder dauerhaft in den Spielplänen zu verankern. Während
es seit Benjamin Brittens „Let’s Make an Opera“ (1949)
für englische Gegenwartskomponisten selbstverständlich
ist, für Kinder zu komponieren, gilt in Deutschland das Genre
Kinderoper lange Zeit (und eigentlich immer noch) als karrierefeindlich
und obsolet für Vertreter der Avantgarde. Erst langsam entsteht
ein Bewusstseinswandel. Unterschiedliche Wege
Zunehmende Ernsthaftigkeit und auch Einfallsreichtum kennzeichnen
seit rund einem Jahrzehnt die Hinwendung zum jungen Publikum. Gewiss
ist es nicht zuletzt auch die Sorge um das Publikum von morgen,
die die Opernintendanten umtreibt. Auch die Diskussion um die Notwendigkeit
einer ästhetischen Erziehung, in der auch für heutige
Kinder eine so fremd gewordene Kunstform wie die Oper Platz hat,
fordert ein nachdrückliches Engagement. Bürgerliche Bildungstraditionen,
bei denen der Theaterbesuch zum selbstverständlichen Kanon
gehörte, können heute immer weniger vorausgesetzt werden.
Die Musiktheaterpädagogen an den Opernhäusern sind fantasievoll
und wirksam in ihren Bemühungen, die Defizite des immer seltener
stattfindenden Musikunterrichts an den Schulen auszugleichen und
musikgeschichtliche Basiskenntnisse zu vermitteln. Repertoirekenntnis
ist das eine Ziel, mit Auftragskompositionen aktuelle Entwicklungen
des zeitgenössischen Musiktheaters zu Gehör zu bringen,
das andere.
Drei Wege zeichnen sich ab. Dass in der Vermittlung eines ungewöhnlichen
Repertoires für Kinder Alt und Jung auf ihre Kosten kommen
können, demonstriert seit über einem Jahrzehnt jenseits
ausgetretener Pfade die Kölner Kinderoper mit Raritäten
und Ausgrabungen. Ein eigenes märchenhaftes Theater im Theater
ist im Kölner Opernhaus – wie auch an der Wiener Staatsoper
seit 1999 – ein Ort, an dem sich für die Zuschauer die
Magie dieser „abgehobenen“ Gattung Oper jenseits jeglicher
Pädagogik ungehindert entfalten kann. Professionelle Sänger,
ein Kammerorchester (statt der Sparversion mit Klavier), eine fantasievolle
Ausstattung und – nicht unwichtig in Zeiten der Dekonstruktion! – eine
werkgetreue Wiedergabe: Das ergibt große Oper für kleine
Zuschauer. Dann sind auch die Bearbeitungen à la „Kleine
Zauberflöte“ entbehrlich, es sei denn, man macht es
auf dramaturgisch so überzeugend amüsante Weise wie in
Gelsenkirchen am Musiktheater im Revier. Nach drei Rossini-Opern
kann man dort derzeit Mozarts „Figaro“ als Kinderoper
erleben. Unter dem Motto „Cherubino mischt sich ein“ geschieht
eine Annäherung an die große Oper aus der Perspektive
einer Figur. Das ergibt einen veränderten Blickwinkel und
beinahe eine neue Oper, bleibt aber letztlich doch der alte, unverfälschte
Mozart. Auch der Weg einer Kooperation von professionellen und
nicht- bzw. semiprofessionellen Akteuren wie etwa an der Jungen
Oper Stuttgart wird zunehmend attraktiver, erlaubt er doch, das
kreative Potential von Kinderchören, Studierenden und Schülern
an Hochschulen und Musikschulen zu integrieren.
Vieles ist in Bewegung gekommen zugunsten der Oper für Kinder.
Auch wenn den Heranwachsenden das Musical und die Pop-Rock-Szene
näherstehen als die Oper, und sie in Schulproduktionen aus
diesen Musikbereichen ihre ersten ästhetischen und sozialen
Erfahrungen mit dem eigenen Theaterspiel machen, so ist die Sorge
unbegründet, dass sie sich generell anderen Gattungen verschließen.
Macht die Oper den Heranwachsenden interessante und unverzagte
Angebote, wird sie nicht hintanstehen müssen.
Gunther
Reiß
Vom selben Autor ist an der Universität Münster die
CD-Rom „Opern und Musicals für Kinder und Jugendliche.
Ein Leitfaden durch das internationale Repertoire vom 19. Jahrhundert
bis zur Gegenwart“ erschienen. (vgl..
unsere Rezension in O&T Ausg. 3-07, S. 29)
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