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 Lachenmanns Musik bringt das Sprachlose, die Ohnmacht, die Verweiflung zum Sprechen. Ihr Ausdruck, die unendliche Vielfalt der Klänge, der Ton-Geräusche, der instrumentalen Kombinationen, der komponierten Gesten und expressiven Gebärden mutiert zu einer anderen Sprache, die keine der üblichen Worte kennt und dabei mehr sagt, als tausend Worte vermögen: Deutschland, kaltes Land  das sagte einmal in monotoner Repetition eine junge Türkin in einem Film von Helma Sanders (Shirins Hochzeit). Der Film entstand 1976. Ein Jahr später erhängte sich das RAF-Mitglied Gudrun Ensslin in ihrer Gefängniszelle in Stammheim. Lachenmann kannte die Pastorentochter Gudrun Ensslin und ihre Familie aus nachbarschaftlicher Nähe und Freundschaft. Er erkannte in dem jugendlichen Aufruhr sicher auch die terroristischen Energien, ebenso bestimmt aber auch den Versuch einer gesellschaftlichen Veränderung, der fast zwangsläufig in Vergeblichkeit, Vereinzelung, Verirrung enden musste. Lachenmanns Mädchen-Märchen-Oper erzählt keine Handlung, berichtet dafür von einem Zustand, in dem sich Menschen in unserem Land  und nicht nur dort  befanden und weiter befinden. Und seine Musik erstellt die Kältekammer, in der sich alles vollzieht. Für eine Theater-Inszenierung bietet Lachenmanns Mädchen keinen oder bestens einen falschen Ansatz. Realistische Direktheit ist nicht gefragt. Das demonstrierte schon Achim Freyer in seiner Ur-Inszenierung 1997 an der Hamburgischen Staatsoper. Erforderlich sind Bilder, die im Zusammengehen mit der Musik Zustände beschreiben, Bilder, in denen die anwesenden Personen einschließlich des Mädchens Zeichen setzen, zu Figurinen sich stilisieren, die mit Gesten, Gebärden, schmerzhaften Körperhaltungen von einer Geschichte berichten, die nicht mit Worten erzählt zu werden braucht. Peter Mussbachs Stuttgarter Inszenierung, die als Vorpremiere im Rahmen des Pariser Herbstfestivals schon im Palais Garnier in einigen Aufführungen gezeigt wurde, geht in der Verknappung des Bildhaften, in der Reduzierung des Optischen noch über Freyers Hamburger Darstellung hinaus. Aus den kleinen Lichtrechtecken, die sich à la Robert Wilson im schwarzen Portalvorhang wechselnd rasch öffnen und wieder schließen, tritt nach und nach die Erscheinung des Mädchens hervor, eine schmale, kalkig-weiße Sterbensikone, die auch einmal auf dem Kopf stehend-hängend erscheint: Ein gefallener Engel. Dann vergrößern sich die Bilder, ohne das Diffuse, die Ferne, die traurige, kalte Einsamkeit zu verlieren. Wie zwei Riesenfiguren, eine weiße und eine schwarze, wandern am Ende Mädchen und Großmutter, im Schattenspiel überdimensional verdoppelt, über die Hügel in eine weite, unbestimmte, unbekannte Ferne. Und die Shò-Spielerin, die in Hamburg im Orchester auf einem eigenen Podest überhöht agierte, sitzt bei Mussbach nun inmitten dieser Landschaft, verloren auf einem schneebedeckten Berg. Und es gelingt wohl nur der wunderbaren Japanerin Mayumi Miyata, dem kühlen, manchmal fast elektronisch erzeugt wirkenden Ton ihres Instruments den geheimnisvollen Klang einer unendlichen, den Menschen fernen Trauer zu entlocken. Grandios, wie alles an dieser zweiten Darstellung des Werkes, die, wie in Hamburg, von Lothar Zagrosek dirigiert wurde, diesmal natürlich mit dem Stuttgarter Opernorchester, das, nach dem Pariser Vorlauf, in Stuttgart mit einer Konzentration, Gelöstheit und Präzision agierte, dass man fast überhören konnte, was für Schwierigkeiten und Sperrigkeiten der Komponist in seine Partitur im Interesse der Wahrheit hineingeschrieben hat. Im Februar nächsten Jahres sind an der Stuttgarter Oper weitere Aufführungen des Mädchens mit den Schwefelhölzern eingeplant.   
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