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Erfolgreicher Intendant für ein Jahr
Opernimpressionen von den Salzburger Festspielen · Von Gerhard
Rohde Intendanten kommen, Intendanten gehen: Erst die Unendlichkeit
mit Karajan, dann zehn Jahre Gerard Mortier, dann fünf Sommer
Peter Ruzicka, dann nur noch vier Jahre Jürgen Flimm und nun
für ein einziges Festspieljahr Markus Hinterhäuser. Als
Interims-intendant, bevor der berühmte Alexander Pereira aus
Zürich nach Salzburg wechselt. Um dort neuen Glanz zu entfachen?
Wie zu Karajan-Zeiten. Große Namen, auf der Bühne, am
Dirigentenpult, auf dem Regiestuhl? Gibt es überhaupt noch „Große
Namen“? Die Regisseure in Zürich besaßen in der
Regel keinen. Und wenn es überhaupt noch „big names“ geben
sollte, so muss sich selbst ein Festspiel wie Salzburg diese mit
vielen anderen Musikbühnen teilen. Exklusivität ist aus,
Koproduktion heißt fortan die Devise. Wer eine Aufführung
in Salzburg versäumt oder wem sie zu teuer ist, der kann sie
oft billiger und bequemer an einem „normalen“ Opernhaus
nacharbeiten.
Salzburger Festspiele 2011 – Sektion Musiktheater. Dem Einjahres-Mann
gelingt die spannendste Opernsaison seit vielen Sommern. Vorgänger
Jürgen Flimm hatte ihm den Mozart-Zyklus der drei da Ponte-Werke – „Don
Giovanni“, „Le nozze di Figaro“, „Cosi
fan tutte“ – in den Inszenierungen Claus Guths hinterlassen.
Der Regisseur erhielt die Gelegenheit, seine Arbeiten gründlich
zu überholen, teilweise, wie bei „Cosi fan tutte“,
entscheidend neu zu gestalten. Von Flimm stammt auch noch die Verpflichtung
Christian Thielemanns für die „Frau ohne Schatten“ von
Richard Strauss, während bei Verdis projiziertem „Macbeth“ Hinterhäuser
das nicht risikolose Wagnis glückte, zwei so eigenwillige
Künstler-Köpfe wie den Dirigenten Riccardo Muti und den
Regisseur Peter Stein zusammenzuführen.
Hinterhäusers Geschick, hochsensible Künstlernaturen
und ebenso anspruchsvolle Ensembles wie etwa die Wiener Philharmoniker
für seine ästhetischen Konzepte zu gewinnen, konnte er
seit fast drei Jahrzehnten in Salzburg demonstrieren: in der Mortier-Ära
mit seinem „Zeitfluss“-Festival für neue Musik,
das er als einen Glanzpunkt in die Festspiele einbrachte. Unter
Flimm organisierte er den Konzertbereich mit so viel musikdramaturgischer Übersicht
und Intelligenz, dass die Konzerte der Oper fast die „Show“ stahlen.
Zu den Komponisten-Kontinenten – Scelsi, Sciarrino, Wolfgang
Rihm, Varèse gewidmet – strömten selbst ergraute
Festivaliers herbei und verließen begeistert die Säle.
Und auch die so genannten „Szenen“, die sich mit Schumann,
Schubert, Brahms,
Liszt und diesmal mit Gustav Mahler beschäftigten, gehörten
in Programmgestaltung und interpretatorischem Niveau zu den Glanzpunkten
der Festspiele. So etwas kann man, schon aus zeitlichen und organisatorischen
Gründen, im normalen Konzert-alltag kaum realisieren. Nur
als Festspiel im Festspiel, wie hier.
Hinterhäusers ganz persönliches Überraschungsgeschenk
an die Festspiele aber war die Organisation einer Opernaufführung:
Leos Janáceks „Véc Makropulos“ – deutscher
Titel: „Die Sache Makropulos“. Als Regisseur wurde
Christoph Marthaler gewonnen, als Bühnen-und Kostümbildnerin
Anna Viebrock. Die Wiener Philharmoniker dirigierte Esa-Pekka Salonen,
die Titelpartie sang Angela Denoke. Die Aufführung geriet
zu einem Triumph.
Anna Viebrocks Raumentwurf erstreckte sich über die ganze
Breite und Tiefe des Großen Festspielhauses: da im dritten
Akt das ursprüngliche Hotelzimmer am Ende rasch zu einem Gerichtssaal
umgeräumt wird, überführen Marthaler und Viebrock
von Beginn an die Gerichtssaal-Chiffre auf die gesamte Handlung.
Schließlich besteht ja diese aus einer ununterbrochenen Folge
von Fragen, Erklärungen, Rätseln, Verdächtigungen,
Ungereimtheiten, die nur in verschiedenen Räumen eines Büros,
eines Opernhauses, eines Hotelzimmers, verhandelt werden. Die Einheit
des Ortes bietet sich dabei förmlich an. Marthalers Regiekunst
lässt die Aktionen natürlich immer wieder über den
Gerichtssaal hinaustreten, in einen freien Spielraum. Er erfindet
auch, eine Spezialität von ihm, kleine Szenen, Zusatzfiguren,
die das Ganze in eine fast surreale Atmosphäre eintauchen,
was den Aktionen oft etwas Komödiantisches verleiht, sie stärker
an die Komödie Karel Capeks, der Vorlage für die Oper,
anlehnt. So erblickt man in einem kleinen Glaskasten links am Szenenrand
zwei Frauen, eine alte verhutzelte mit einer Gehhilfe und eine
jüngere im eleganten weißen Kleid mit großem Hut.
Marthaler verfasste den beiden Damen, in denen man unschwer zurückprojizierte
Inkarnationen der Emilia Marty erkennen darf – die Alte wäre
die wirkliche Emilia, wenn diese nicht vor dreihundert Jahren das
langes Leben spendende geheime Elixier eingenommen hätte – einen
stummen Dialog auf den Übertiteln, der oft sehr kauzig wirkt
und Gelächter auslöst. Die surrealistischen Züge
treten immer wieder hervor, zum Beispiel wenn ein wuchtiger Krankenpfleger
die Alte immer wieder nach hinten durch eine Tür geleitet.
Jedesmal aber tritt sie ihm bei seiner Rückkehr nach vorn
aus einer vorderen Tür wieder entgegen – Slapstick à la
Marthaler, ebenso wie das unentwegte Überreichen von Blumensträußen
zwischen beiden.
Auf diesem surrealen Hintergrund, der nie zum Selbstzweck gerät
und auch nicht überhand nimmt, tritt die zentrale Geschichte
umso plastischer, bildhafter, eindringlicher, ja bedrängender
hervor. Marthalers Personenführung ist höchst differenziert,
kleinste Gesten und große Gebärden folgen den gestischen
Vorgaben der Musik, deren Impulse vom bestens disponierten Orches-ter
unter dem souverän agierenden Esa-Pekka Salonen unentwegt
in Bühnenaktionen übergehen. Und Angela Denoke formt
vokal und darstellerisch die Emilia Marty zu einer großen
Figur. Die beherrscht die Szene, auch wenn sie noch gar nicht aufgetreten
ist. Ihr Singen folgt den emotionalen Vorgaben vom leisen Verstummen
bis zum dramatischen Ausbruch mit wunderbarer Geschmeidigkeit,
und zum Schluss, beim großen Geständnis ihres rätselhaften
Lebens, nimmt Angela Denoke alles in einen ergreifend inneren Ton
zurück, so als lausche sie ihrem eigenen Gesang nach.
Ihre Partner drängt sie dabei keinesfalls zurück. Raymond
Very als Albert Gregor, Johan Reuter als Jaroslav Prus, Peter Hoare
(Vitek), Alès Briscein (Janek), Jochen Schmeckenbecher (Dr.
Kolenaty), Ryland Davies als Hauk-Sendorf, ein großartiger
Komiker, der Emilias Identität schnell erahnend erkennt sowie
die intensiv singende Jurgita Adamonytè als Krista – sie
alle bilden zusammen mit den Sängern der Konzertvereinigung
Wiener Staatsopernchor unter Jörn H. Andresen ein fabelhaftes,
eindrucksvoll „komponiertes“ Ensemble. Szenisch und
musikalisch eine wirkliche Festspielaufführung, weil sie zugleich
einen intellektuellen Anspruch einlöst.
Ob man das auch für die von Peter Stein und Riccardo Muti
gestaltete „Macbeth“-Aufführungen sagen kann?
Da kommen doch leise Zweifel auf. Von Peter Stein ist bekannt,
dass er dem zeitgenössischen Regisseurstheater äußerst
kritisch, ja aggressiv skeptisch gegenübersteht. In vielen
Fällen sicher zu Recht, aber doch auch nicht immer: siehe
Marthalers „Makropulos“. Stein will auch hier bei „Macbeth“,
wie er sagt, keine „Interpretation“ bieten, sondern „Fakten“.
Sozusagen die szenischen Anweisungen Shakespeares, wie sie im Rec-lamheft
zu lesen sind. Dabei entsteht vorwiegend Komik, wenn Soldatenscharen
en masse über die wellige Riesenspielfläche in der Felsenreitschule
choreografisch wohlgeordnet stürmen, wenn der Chor sich in
einen richtigen Wald verwandelt, wenn der Hexenkessel gewaltig
dampft, wenn König Macbeth und Lady in tiefrotem Ornat wie
auf einem Renaissancegemälde erscheinen, wenn die toten Geister
wie in der Achterbahn auf- und abtauchen, wenn die wahnsinnig gewordene
Lady Macbeth vor ihrem Gesang erst einmal dekorativ die Felsenarkaden
abschreitet. Nein, nein, nein, Peter Stein. Der Puschkin-Tschaikowsky-Zyklus
in Lyon, die dortige „Berg-Lulu“ haben bewiesen, dass
der Regisseur Peter Stein noch „groß“ sein kann.
Hier verkleinerte er sich selbst , weil ihm sein Ingrimm den Blick
verstellte, vielleicht auch die Partnerschaft mit Riccardo Muti,
dessen Zuneigung für modernes Regietheater sich in ziemlich
engen Grenzen hält.
Gleichwohl war zu bemerken, dass sich Muti in die oft tiefenpsychologisch
irrlichternden und tief ins Innere dringenden Klänge von Verdis
Musik intensiv einzufühlen vermag. Wobei ihn die von Thomas
Lang einstudierten Chöre wenigsten musikalisch bestens unterstützten.
Da müsste er doch auch spüren, dass die Szene darauf
antworten sollte. Zumal ihm in Zeljko Lucic als Macbeth und Tatiana
Serjan als Lady zwei hochexpressiv singende Sänger zur Verfügung
standen, mit denen man wunderbar psychologische Studien ausführen
könnte.
Was an psychologischer Dichte und Tiefe im Macbeth-Stoff enthalten
ist, konnte man in Salzburgs Kollegienkirche in einer konzertanten
Aufführung von Salvatore Sciarrinos „Macbeth“-Oper
erleben. Sciarrino verfeinert die Psychologie des Stoffes in die äußerste
Reduktion der Mittel und erzielt dadurch bestürzende Wirkungen.
Mit Otto Katzameier und Anna Radziejewska waren zwei erfahrene
Sciarrino-Gesangsexperten aufgeboten. Und über das Wiener
Klangforum braucht man in solchen Fällen kein Lob mehr auszugießen:
Einfach grandios.
Grandios war auch die musikalische Seite der „Frau ohne
Schatten“. Christian Thielemann fühlte sich bei den
Wiener Philharmonikern in seinem Urelement, und die Wiener Philharmoniker
schienen beglückt, endlich einmal dem „richtigen“ Dirigenten „ihren“ Richard
Strauss vorspielen zu dürfen. Es ist natürlich ein äußerst
süffiger, wohlklingender, unendlich dahinströmender Orchestergesang,
mit vielen klangfarblichen Belichtungen und instrumentalem Funkeln.
Strauss in Doppelrahmstufe sozusagen. In dieser dürfen
auch die Sänger sich „baden“, wobei sie manchmal
Mühe haben, sich durchzusetzen: trotzdem achtbar Stephen Gould
als Kaiser, Anne Schwanewilms als Kaiserin (in einer Voraufführung
bot auch Manuela Uhl eine beachtenswerte Kaiserin-Darstellung),
Wolfgang Koch als Barak, die Färberin von Evelyn Herlitzius
und die Amme von Michaela Schuster – alle fanden sich zu
einem geschlossenen Ensemble, das den Festspielen auch Ehre machte.
Problematisch blieb die Inszenierung Christof Loys. Johannes Leiacker
hatte ihm als Bühne einen Nachbau der Sophiensäle in
Wien entworfen. Hier fand 1955 angeblich die erste konzertante
Aufführung der „Frau ohne Schatten“ unter Karl
Böhm statt – in Wahrheit war diese im Goldenen Saal
des Musikvereins. Das ist aber nebensächlich. Loys und Leiackers
Idee war, die ziemlich pompöse Märchengeschichte von
deren Dekorationsschwulst zu befreien, sie verschlankt und übersichtlich
zu erzählen. Auf der Bühne stand breit hingestreckt eine
zweite Bühne, auf der eine Probensituation vorgestellt wurde:
Die allmähliche Inszenierung einer konzertanten Aufführung
in einer gleichwohl fast abstrakten szenischen Realität. Loys
Skelettierungsinszenierungen sind inzwischen zu einer Art Masche
geworden. Hinter den Handlungsgerüsten verschwindet oft der
Hintergrund des Werkes. Warum fuchteln die Sängerdarsteller
ständig so herum? Wer nicht die Übertitel mitliest, versteht überhaupt
nichts mehr, es sei denn, er hätte sich vorher informiert.
Man könnte sich bei allem durchaus ein anderes Verfahren für
die „Frau ohne Schatten“ vorstellen. Erster Akt wie
bei Loy-Leiacker. Zweiter Akt: Erste Dekorationsteile tauchen wieder
auf. Dritter Akt: Die alte Märchenoper ist wieder da! Das
wäre doch auch ein spannender Vorgang.
Als Opernfazit der Salzburger Festspiele 2011 bleibt: Uneingeschränkt
eine rundum gelungene „Sache Makropulos“, eine musikalisch
festspielwürdige „Frau ohne Schatten“ in einer
trotz der Einwände interessanten Inszenierung, und für
Freunde des alten Operntheaters eine würdige Erinnerungsgabe
mit Verdis „Macbeth“. Die drei Mozart-Opern, mit drei
verschiedenen Orchestern und drei verschiedenen Dirigenten wahrten
die Salzburger Mozart-Ehre, auch wenn Claus Guths Inszenierungskonzepte
die Perspektiven der Werke oft arg verkürzten: Zuviel Erotomanie,
zu wenig geschichtliche Perspektiven. Don Giovanni im Tannenwald,
gewiss, da sind die Räuber, aber vom Untergang des Ancién
régimes erfährt man dabei nichts.
Pereira wird im nächsten Jahr als erstes „Die Zauberflöte“ neu
herausbringen. Bitte ohne Sarastro-Altersheim. Das hatte man in
Salzburg schon vor kurzem erst. Gerade erst hatte man auch eine
grandiose Aufführung von Luigi Nonos „Prometeo“ in
der Kollegienkirche. Erinnerung an die Aufführung von 1993
am selben Ort in derselben Besetzung. Markus Hinterhäuser
beschwor noch einmal den alten „Zeitfluss“-Geist. Ein
sinnstiftendes Abschiedsgeschenk an große Festspielerinnerungen.
Was kommt, wissen vorerst nur die Nornen. Nur „Carmen“ und „La
Bohème“ sind schon bekannt. Und B.A. Zimmermanns „Soldaten“ sollen
endlich auch in Salzburg einmarschieren. Siebenundvierzig Jahre
nach der Uraufführung. Gut Ding will Weile haben.
Gerhard Rohde
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