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Kulturpolitik

Nicht Kontinuität, sondern Brüche

Über die Barockoper und ihre Wiederentdeckung · Von Sieghart Döhring

Im Jahre 1927 veranstaltete die österreichische Musikzeitung ,,Musikblätter des Anbruch“, die sich der Förderung der musikalischen Avantgarde verschrieben hatte, eine Umfrage unter den führenden Repräsentanten und Meinungsträgern des zeitgenössischen Musiktheaters über die gegenwärtige Lage und künftige Entwicklung der Oper – in den Krisenjahren nach dem Ersten Weltkrieg ein Modethema der Feuilletons. Ist die Oper überhaupt noch zeitgemäß und wie müsste sie sich verändern, damit sie es für ein neues Publikum innerhalb einer gewandelten Gesellschaft wieder werden könnte? Die Fragestellung an und für sich und die in den Beiträgen vorgebrachten Argumente erscheinen auf frappante Weise aktuell, lassen sie sich doch unschwer auch für jene Debatte verwenden, die heute – fast 100 Jahre später – über den nämlichen Gegenstand wieder geführt wird. Die damaligen Stellungnahmen sollen hier nicht referiert werden, sondern lediglich zu einem Gedankenexperiment einladen. Wie wäre 1927 die öffentliche Reaktion ausgefallen, hätte eine der um ihr Urteil gebetenen Autoritäten die Zukunft der Oper folgendermaßen beschrieben: Das 20. Jahrhundert wird zwar eine Ausdifferenzierung des musikalischen Theaters in zahlreiche neue Formen und Stile bringen, aber zugleich eine mächtige Gegenbewegung der Rückbesinnung auf die Geschichte der Gat­tung Oper einleiten. Um die Mitte des Jahrhunderts wird eine griechisch-amerikanische Sängerdarstellerin den Starkult der alten Oper mit neuem Leben erfüllen und eben dadurch für die Gattung ein frisches, nun auch globales Publikum gewinnen, mehr noch: Durch ihre stimmliche und schauspielerische Präsenz wird diese Interpretin ein versunkenes Repertoire verlebendigen und auf den Bühnen erneut und auf Dauer etablieren. Zahlreiche jüngere Sängerinnen und Sänger, schließlich auch Dirigenten, werden ihrem Vorbild nacheifern und mit zunehmender historischer Akribie sukzessive die gesamte Operngeschichte für die Gegenwart wieder zum lebendigen Ereignis werden lassen. Markantestes Zeichen des damit einhergehenden ästhetischen Wandels wird in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts die Institutionalisierung eines für die aktuelle Opernszene neuen Stimmtyps sein: des Countertenors. Insgesamt werden Hunderte von alten Opern auf die Bühnen zurückkehren, und nicht wenige von ihnen werden dort auf Dauer verbleiben. Das Opernrepertoire wird sich von einem Zeitrahmen, der wenig mehr als ein Jahrhundert umfasste, auf einen solchen von vierhundert Jahren erweitern, mithin die gesamte Operngeschichte einschließen.

Rückbesinnung auf die Geschichte

 
Händels „Jephtha“ 2005 in Bonn: Patrick Henckens (Jephtha), Anna Virovlansky (Angel), Susanne Blattert (Storgè, Jephthas Frau), Chor und
 

Händels „Jephtha“ 2005 in Bonn: Patrick Henckens (Jephtha), Anna Virovlansky (Angel), Susanne Blattert (Storgè, Jephthas Frau), Chor und Statisterie. Foto: Thilo Beu

 

Natürlich ist auf die Umfrage von 1927 keine derartige Antwort eingegangen, und wäre es der Fall gewesen, so dürfte sie wohl kaum gedruckt worden sein, läge sie doch gänzlich außerhalb des Erfahrungs- und Erwartungshorizonts der Zeitgenossen. Tatsächlich aber hat die Oper im 20. Jahrhundert eben diese Entwicklung genommen. Man erkennt: Der Blick zurück in die Vergangenheit ist immer lehrreich, und sei es deshalb, weil er für den Blick voraus in die Zukunft Skepsis gegenüber voreiligen Prognosen nahelegt. Niemand hätte doch vor hundert Jahren für möglich gehalten, dass die Oper ihre Lebenskraft zu einem guten Teil aus der Rückbesinnung auf die Historie ziehen würde, und zwar nicht nur in der Restitution des Bestehenden, sondern auch in seiner schöpferischen Neudeutung. Für den heutigen Opernhörer, der mit den Bühnenwerken Monteverdis, Händels und Salieris, Lullys, Rameaus und Grétrys selbstverständlichen Umgang pflegt, sind die historischen Voraussetzungen ihrer künstlerischen Ergebnisse nicht mehr unmittelbar nachvollziehbar, vielmehr bedürfen sie einer reflektierenden Interpretation. Es ist ein erstaunliches, in der Geschichte der darstellenden Künste wohl einmaliges Phänomen, dass die Rezeption ganzer Epochen der Operngeschichte nicht durch Kontinuität, sondern über Brüche hinweg durch Wiederanknüpfungen bestimmt wurde. Die Konsequenzen sind einschneidend und grundlegend für das Kunstverständnis überhaupt: Weil das Opernrepertoire heute mehrheitlich aus alten Werken besteht und nicht wie früher aus Neukompositionen, wendet sich das Interesse notwendigerweise vom Werk zu dessen Wiedergabe bis hin zu dem Punkt, an dem die Aufführung selbst Werkcharakter beansprucht.

Treibende Kraft der Erneuerung

Bis dahin freilich war es ein langer Weg. Standen die ersten Renaissancen, etwa der Opern Händels und Verdis in den 1920er-Jahren, noch im Zeichen einer eher naiven Annäherung an das Neue, das man ziemlich umstandslos dem künstlerischen Zeitgeschmack – zunächst Expressionismus, dann Neue Sachlichkeit – anverwandelte, so setzte sich nach dem Zweiten Weltkrieg immer stärker eine historistische Vorgehensweise durch, die sich freilich in der Regel auf die musikalische Schicht beschränkte und die szenische weitgehend dem Belieben der Regisseure überließ. Aufs Ganze gesehen erwies sich die Rückbesinnung auf die Historie, allen ,,Originalklang“-Missverständnissen zum Trotz, als treibende Kraft der Erneuerung, der die Gesamtbewegung erst ihre Intensität und Nachhaltigkeit verdankt. Auf keinem Felde der Musik und des Musiktheaters sind die Kenntnisse so schnell gewachsen, hat sich der Geschmack der Interpreten wie des Publikums so grundlegend dem Wissensstand entsprechend weiterentwickelt wie im Bereich der Alten Musik und der alten Oper, so dass eine Aufzeichnung aus den 1950er-Jahren für den heutigen Hörer eine geradezu archäologische Erfahrung darstellt – wohlgemerkt nicht im Hinblick auf das Werk, sondern auf seine damalige Interpretation.

Klang der Stimme

 
In München war in jüngerer Vergangenheit eine „Barock-Renaissance“ zu erleben. Hier „Giulio Cesare in Egitto“ von Georg Friedrich Händel in einer Inszenierung von Richard Jones aus dem Jahr 1994. Foto: Wilfried Hösl
 

In München war in jüngerer Vergangenheit eine „Barock-Renaissance“ zu erleben. Hier „Giulio Cesare in Egitto“ von Georg Friedrich Händel in einer Inszenierung von Richard Jones aus dem Jahr 1994. Foto: Wilfried Hösl

 

Richtete sich die Aufmerksamkeit zunächst vor allem auf den Klang des Orchesters, dessen ,,Originalton“ man durch den Nachbau alter Instrumente und die Wiedererprobung der dazugehörigen Spieltechniken möglichst nahezukommen suchte, so trat später der Klang der menschlichen Stimme immer stärker in den Fokus des Interesses; da deren physiologische Voraussetzungen, sieht man einmal ab vom Verschwinden der Kastratenstimme, im Laufe der Jahrhunderte im Wesentlichen unverändert geblieben waren, erwies sich die Rekonstruktion des einstigen Klangidioms als alleinige Frage der Gesangstechnik. Wie es scheint, hat sich die Erschließung, aber auch die interpretatorische Neudeutung weiter Bereiche der Oper des 17. und 18. Jahrhunderts in den vergangenen Jahrzehnten über die Stimmen vollzogen, man denke etwa an das musikdramatische Frühwerk Mozarts, das erst dann in seiner vollen opernhistorischen Perspektivik erfassbar geworden ist, als große Sänger sich seiner erstmals annahmen.

Herausragende Rolle des Balletts

Gleichwohl kann bis heute von einer systematischen Erschließung der alten Oper für die Gegenwart keinesfalls die Rede sein, zeigt sich doch die Bühnenpraxis allzu oft nicht auf der Höhe des aktuellen Forschungsstandes, so zum Beispiel im Hinblick auf das Ballett und seine herausragende Rolle als integraler Teil des Musiktheaters, in Sonderheit des französischen. Immer wieder entscheiden eingefahrene Gewohnheiten, künstlerische Moden und die Zufälligkeit von Gedenkjahren darüber, was gespielt wird. Als nach wie vor unterrepräsentiert innerhalb des internationalen Spielplans erweist sich die französische Oper, zumal die Opéra comique, wenngleich in den letzten Jahren vieles zum Besseren gewendet werden konnte; aber auch die italienische Oper des 18. Jahrhunderts wird nach wie vor höchst selektiv wahrgenommen, mit eindeutigem Übergewicht der Buffa gegenüber der Seria und Semiseria – abgesehen vom Sonderfall Händel. Alle übrigen nationalen musikdramatischen Traditionen, ausgenommen Purcell, gelangten bisher über ein marginales Zur-Kenntnis-Nehmen nicht hinaus. Begründete Hoffnungen auf Schließung bestehender Lücken richten sich einmal mehr auf die Gesangsinterpreten, die für ihre in den historischen Techniken zunehmend perfekter geschulten Stimmen neue künstlerische Herausforderungen suchen und das Repertoire der großen Gesangsvirtuosen vergangener Zeiten, vornehmlich der Kastraten, für sich wiederentdecken.

Begeistertes Publikum

Die Renaissance der Oper des 17. und 18. Jahrhunderts ist das Ergebnis einer umfassenden Suche nach dem „neuen Alten“, die von Beginn an auch versunkene Bereiche der Oper des 19. Jahrhunderts einbezog und inzwischen sogar schon auf die Oper des frühen 20. Jahrhunderts ausgreift. Der Fokus des Interesses freilich liegt eindeutig auf jenem musikdramatischen Korpus, für das sich die unpräzise, dafür griffige Bezeichnung „Barockoper“ eingebürgert hat. Vorangetrieben wird die Entwicklung von musikhistorisch gebildeten Interpreten, getragen wird sie vom anhaltenden Enthusiasmus eines breiten Publikums. Das Phänomen ist innerhalb der darstellenden Künste ohne Beispiel und etwa dem Sprechtheater gänzlich fremd, was nur den Schluss zulässt, dass in erster Linie die Musik, wiedergegeben durch eine historische oder – wie man inzwischen korrekterweise sagt – historisch informierte Aufführungspraxis, hier als Garantin des Erfolges fungiert, und in der Tat vollzog sich die Wiederentdeckung der alten Oper in ständiger Symbiose mit der „Alte Musik“-Bewegung, von deren Protagonisten (Dirigenten, Instrumentalisten, Sängern) sie stets die maßgeblichen Impulse empfing und nach wie vor empfängt. Demgegenüber ist der Rückgriff auf historische Theaterformen im Rahmen von Inszenierungen alter Opern über vereinzelte, wenngleich mitunter spektakulär erfolgreiche Versuche nicht hinausgekommen, birgt aber möglicherweise Potenzial für die Zukunft. Bislang war es gerade die produktive Spannung zwischen unterschiedlichen historischen und ästhetischen Konzepten – auf der einen Seite Offenheit im Szenischen, die Raum lässt für die Einbeziehung aktueller Bilder- und Körpersprachen, auf der anderen Seite die Intaktheit der Musik, die sich im Augenblick der Aufführung der Gestaltungsfreiheit des Interpreten öffnet –, auf der das Erfolgsrezept „alte Oper auf moderner Bühne“ beruhte.

Sieghart Döhring

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