Was vom „Tanzplan“ übrig bleibt
Hortensia Völckers und Madeline Ritter im Gespräch mit
Dorion Weickmann 2005 entschied die Kulturstiftung
des Bundes, 12,5 Millionen Euro in den Tanz zu investieren. Sie
gab damit den Startschuss zur Großinitiative
für den Tanz in Deutschland. Fünf Jahre lang sollte das
Projekt als Katalysator für die deutsche Tanzszene und als
wegweisendes Modell für eine nachhaltige Kulturpraxis sorgen.
Ziel war die umfassende und systematische Stärkung der Kunstsparte
Tanz. Das „Tanzplan“-Kuratorium wählte von den
aus ganz Deutschland eingereichten Konzepten neun „Tanzpläne“ vor
Ort aus: Berlin, Bremen, Dresden, Düsseldorf, Essen, Frankfurt
am Main, Hamburg, München und Potsdam. Inzwischen ist das
Projekt beendet. In der Abschlussdokumentation von „Tanzplan
Deutschland“ befragte Dorion Weickmann die Leiterin der Bundeskulturstiftung,
Hortensia Völckers, und die Projektleiterin, Madeline Ritter.
Wir drucken das Gespräch in „Oper & Tanz“ nach.
Dorion Weickmann: Wann kam der Tanz auf die Agenda der Bundeskulturstiftung?
Hortensia Völckers: Später als alle anderen Kunstsparten,
und das allein sagt etwas aus über die Kampfbereitschaft der
Szene auf dem politischen Parkett. Die Bildende Kunst hat die „documenta“,
das Schauspiel sein „Theatertreffen“, die Musik die „Donau-
eschinger Musiktage“ – alles kulturelle Leuchttürme,
die zu uns gehören. Aber im Tanz gab es nichts Vergleichbares.
Dieses Manko galt es auszugleichen, und zwar in einer konzertierten
Aktion von Kommunen, Ländern und der Kulturstiftung des Bundes. Madeline Ritter: Wobei ursprünglich eher an ein Festival gedacht
war, um die Strahlkraft des Tanzes zu bündeln. Zugleich schien
es notwendig, alle Bereiche – Ausbildung, Produktion, Präsentation
und Wissenschaft – in Bewegung zu bringen, und das lief eben
auf einen Strukturentwicklungsplan hinaus.
Weickmann: Welche Zielvorstellung
hatten Sie?
Ritter: Eine Kunstsparte anzuschauen
und dort eine Veränderung
in Gang zu setzen. Das funktioniert aber nur, wenn man die Beteiligten
zuerst danach fragt, was sie brauchen, und dann nach dem besten
Ansatz sucht.
Weickmann: Wie war die Ausgangslage?
Völckers: Das mussten wir
auch erst einmal klären. Wir
sind durchs Land gefahren und haben überall runde Tische mit
Ministern, Kulturreferenten, Choreografen und Tänzern einberufen.
Was ebenso neuartig wie politisch hochinteressant war, weil es
zunächst nach dem üblichen Muster lief: lauter Einzelinteressen
statt einer gemeinsamen Sache. Aber für die Kulturstiftung
muss es eine übergreifende Idee sein! Hier auf einen Nenner
zu kommen, war die entscheidende Weichenstellung noch vor der eigentlichen
Bewerbung. Die Akteure haben ihre Ziele selbst definiert und die
Zuschüsse von Stadt und Land sichergestellt, an die wiederum
unsere Förderzusagen gekoppelt waren. Am Ende haben wir die
neun Standorte ausgewählt, die das überzeugendste Konzept
hatten und den stimmigsten Eindruck hinterließen. Wobei wir
vielleicht nicht immer richtig entschieden haben.
Weickmann: Inwiefern?
Völckers: Mancherorts ließ die Kooperationsbereitschaft
zu wünschen übrig, mitunter war auch das Standortteam
nicht stark genug, um alle mitzunehmen. Trotzdem können fast
alle weitermachen, also lagen wir mit unserer Einschätzung
in der Regel richtig.
Ritter: Im Grunde lautete die Frage: Was bringen
Menschen zustande, die vorher nie zusammengearbeitet haben? Der
Intendant des Staatsballetts
und der freie Choreograf? In Berlin beispielsweise sahen sich zwei
Kunsthochschulen plötzlich in eine Zusammenarbeit mit der
freien Szene gezwungen, um etwas Neues, Zeitgenössisches und
vor allem Freies im Ausbildungsbereich zu schaffen. Was für
solche Institutionen allein schon eine Provokation ist! Entsprechend
war das „Hochschulübergreifende Zentrum Tanz“ mit
einem großen Fragezeichen versehen und wurde nur in Etappen
gefördert, um immer wieder zu prüfen: Gelingt ihnen das,
was sie sich vorgenommen haben? Es ist gelungen!
Weickmann: Ist die Zielmarke überall so glatt erreicht worden?
Völckers: Man muss leider feststellen, dass
die Tanzszene es nicht geschafft hat, sich national schlagkräftig zu organisieren
und eine entsprechende Repräsentanz auf Bundesebene einzufordern.
An der Stelle frage ich mich: Warum haben wir das nicht geschafft?
Haben wir nicht alle ausreichend mitgenommen? Unterscheiden sich
die Vorgehensweisen und Interessen der Fraktionen – hier
das Ballett, da die zeitgenössische Richtung, dort die verschiedenen
Ansätze innerhalb der Pädagogik – noch immer derart
eklatant? Die Ballettwelt jedenfalls hat häufig gefehlt oder
war, etwa beim Tanzkongress, kaum vertreten. Offensichtlich ist
sie noch nicht Teil dieser Bewegung geworden.
Weickmann: Wie lässt sich das ändern?
Völckers: Dafür braucht es Zeit und eine klarere Einbindung.
Darauf lag nicht der Fokus, und diese selektive Wahrnehmung ist
selbst schon Ausdruck der „Tanzkrankheit“. Die Hochschulen
wurden in einer großen und erfolgreichen Kraftanstrengung
mitgenommen. Dagegen blieben die Stadt- und Staatstheater außen
vor. Das ist problematisch.
Ritter: Tatsächlich hatten wir am Anfang alle eingeladen,
aber die Ideen sprudelten eher aus dem freien Bereich. Das Ziel
der Verankerung und Vernetzung vor Ort war wiederum nur mit Partnern
zu verwirklichen, die engagiert für eine gemeinsame Idee eintraten,
nach dem Motto: Egal ob fest oder frei, genau dieses Vorhaben möchten
wir umsetzen! In München beispielsweise haben das Staatsballett
und freie Träger hochmotiviert zusammengearbeitet, was auch
im Hinblick auf die Anschlussfinanzierung wichtig war.
Weickmann: Der „Tanzplan“ war von Anfang an auf fünf
Jahre befristet, sollte aber zugleich nachhaltig wirken. Ist das
nicht ein Widerspruch?
Völckers: Es war ein Vitalisierungsprogramm,
damit Menschen miteinander ko-
operieren – ein Anreiz, um zu signalisieren: Tut euch zusammen,
dann seid ihr stärker! Ein solches Zusammengehen sorgt für
Offenheit und Flexibilität, und beides haben wir nicht nur
im Tanz dringend nötig.
Ritter: Zeitliche Begrenzung erzeugt Druck und
Dynamik und bewirkt, dass das eigene Ziel und der Weg dorthin ständig überprüft
werden müssen. Wir haben versucht, eine gute „Staffelübergabe“ für
die Weiterarbeit zu organisieren. Gleichwohl sind nunmehr alle
aufgerufen, die Dinge emanzipiert in die eigene Hand zu nehmen.
Aus meiner Sicht halten solche Befristungen das Fördersystem
offen und lebendig.
Völckers: Aber die Offenheit
hat Vor- und Nachteile. Einerseits wären die Riesentanker der Stadt- und Staatstheater in einem
offenen System längst untergegangen. Andererseits war die
freie Szene vor dem „Tanzplan“ nicht ausreichend finanziert
und ist es jetzt genauso wenig. Das ist ein strukturelles Defizit,
auch wenn die Fördermittel leicht gestiegen sind.
Ritter: Das Problem ist, dass die meisten Förderer kaum wagen,
etwas auszuprobieren, weil sie fürchten, nie mehr aussteigen
zu können. Deswegen entstehen überall kleine Fördertöpfe
anstelle von Synergien. Genau hier hat der „Tanzplan“ angesetzt
und im Verbund mit Städten und Ländern keine Einzelprojekte,
sondern Strukturen gefördert. Das ließe sich auf lokaler
Ebene durchaus fortsetzen.
Weickmann: Hat sich die kulturpolitische Wahrnehmung des Tanzes
insgesamt durch den „Tanzplan“ verändert?
Völckers: Zumindest spricht eine Institution
wie die Kultusministerkonferenz jetzt von sich aus den Staatsminister
für Kultur und Medien
an und fragt nach der Zukunft des Tanzes. So etwas wäre vor
dem „Tanzplan“ undenkbar gewesen. Aber die Politik
reagiert auf Bedürfnisse, die bei ihr angemeldet werden, deshalb
muss sich die Szene jetzt selbstbewusst positionieren. Sonst läuft
das ins Leere.
Weickmann: Was war die spannendste
Erfahrung?
Ritter: Ich bin aus der Kunstproduktion in die
-förderung
gegangen und habe dabei gemerkt, dass man dort gleichermaßen
gestalten kann und nicht alles eine Frage des Geldes ist. Nicht
nur die Künstler müssen innovativ und risikofreudig sein,
sondern auch die Förderer.
Völckers: Für mich hat sich eher etwas Problematisches
herauskristallisiert, nämlich dass alle Projekte zu schnell
starten. Eigentlich müsste man länger am präzisen
Design der Aufgabe arbeiten, denn was am Anfang nicht richtig definiert
ist, bleibt eine Schwachstelle und macht sich zuletzt als Systemfehler
bemerkbar. Da müssen wir nachbessern. Ansonsten ist es genial
aufgegangen, darüber freue ich mich.
Weickmann: Mit dem Leuchtturm des „Tanzkongresses“ und
dem Fonds „Tanzpartner“, der Schulen und Theater zusammenbringt,
werden zwei Seitenstränge des „Tanzplans“ fortgesetzt.
Dazu kommt der Fonds „Tanz
erbe“. Wie entstand dieses neue Förderprofil?
Völckers: Als klar war, dass der Tanz mit
erkennbaren Mitteln weitergefördert werden soll, haben wir uns mit dem Stiftungsrat
auf zwei Schwerpunkte verständigt: die kulturelle Bildung
und das kulturelle Erbe. Wir wollen Bewusstsein schaffen für
den Tanz und seine Geschichte, weil das 20. Jahrhundert praktisch
komplett verschwunden ist. Deshalb ist der „Tanzerbe“-Fonds
für Rekonstruktion und Reinterpretation auch und gerade ein
Angebot an die festen Kompanien, ihr Repertoire entsprechend zu
erweitern.
Ritter: Eine Kunstform, deren Erbe nicht sichtbar
ist, bleibt unterbelichtet, auch was die kulturpolitische Wertschätzung angeht. Deshalb
lautet die Frage: Wie kann man die Erfahrung der Geschichte lebendig
machen? Und für den Fonds „Tanzpartner“ lässt
sich mit Jonathan Burrows sagen: „Es ist wesentlich vergnüglicher,
selbst zu tanzen, als anderen dabei zuzuschauen.“
Völckers: Tatsächlich ist Tanz in Schulen überaus
begehrt. Sobald Kinder und Eltern diese Erfahrung gemacht haben,
wollen sie nicht mehr aufhören. Trotzdem gibt es eine Art
Schwellenangst und zugleich fehlt die nötige Infrastruktur,
weil Tanzen nicht zum Kanon gehört. Hier schaffen wir eine
Grundlage, indem wir Schulen und Theater zur Zusammenarbeit einladen
und auf die Qualität der entstehenden Produkte setzen – und
darauf, dass man versteht: Es geht um Kunst! Der „Tanzkongress“ schließlich
ist schon jetzt eine Marke mit viel Potenzial: ein Diskussions-
und Präsentationsforum, das sehr gut angenommen wird.
Weickmann: Was kann die Tanzszene von der Kulturstiftung
des Bundes künftig erwarten?
Völckers: Wir sind die Osteopathen
des Systems. Das ist eine tolle Aufgabe!
Abdruck mit freundlicher Genehmigung aus: „Tanzplan Deutschland,
eine Bilanz“, Hg. Tanzplan Deutschland, mit Beiträgen
u.a. von Esther Boldt, Nele Hertling, Reinhild Hoffmann, Bernd
Neumann, Johannes Odenthal, Hortensia Völckers, Dorion Weickmann.
96 Seiten, 33 Farbabbildungen, Broschüre mit Schutzumschlag
ISBN 978-3-89487-716-3, 7 Euro. Henschel Verlag
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