Ich kam mir wie ein Instrument vor
Ein Gespräch mit der Nono-Sängerin Susanne Otto · Von
Corina Kolbe Luigi Nonos Musiktheaterwerk „Prometeo“, von ihm selbst
als „Tragödie des Hörens“ bezeichnet („Tragedia
dell‘ascolto“), wurde 1984 in Venedig uraufgeführt.
Das Libretto setzt sich aus Texten der Alten Griechen, Walter Benjamins
und Friedrich Hölderlins zusammen. Der Aufwand, der für
eine Aufführung nötig ist, lässt das Werk recht
selten auf die Bühnen (und wenn, dann nur auf die großen)
kommen. Wenn es eine Produktion gibt, so wie in diesem Jahr in
Salzburg, dann ist sie schnell ausverkauft: keine Selbstverständlichkeit
in einer Zeit, in der Konzerte Neuer Musik häufig genug sehr überschaubare
Besucherzahlen vermelden. Die Gesangspartien im „Prometeo“ sind
höchst anspruchsvoll. Susanne Otto, Altistin, war an fast
allen bisherigen Aufführungen beteiligt. Über ihre Erfahrungen
mit „Prometeo“ und anderen Werken Luigi Nonos sprach
Corina Kolbe mit der Sängerin.
Corina Kolbe: Als Altistin waren Sie seit der Premiere von „Prometeo“ 1984
an fast allen Aufführungen beteiligt. Wie kam es zu der Zusammenarbeit
mit Luigi Nono, der einige seiner Stücke speziell für
Ihre Stimme komponiert hat?
Susanne Otto: Während meines Studiums an der Musikhochschule
Freiburg haben wir unter der Leitung von Arturo Tamayo „Das
atmende Klarsein“ von Luigi Nono aufgeführt. Ich sang
damals im Chor mit. Bei dem Konzert habe ich den Komponisten zum
ersten Mal getroffen. Kurz danach suchte er eine tiefe Altstimme
für sein Stück „Diario polacco“. Im Studio
des Südwestfunks habe ich ihm dann lange, tiefe Töne
vorgesungen. Offensichtlich gefiel ihm meine Stimme, denn ich wurde
für eine Aufführung in Lissabon eingeplant. Darauf folgten
weitere Produktionen, darunter auch „Prometeo“.
Nonos Musik war mir damals noch ziemlich fremd. Manche Passagen
in „Das atmende Klarsein“ empfand ich als sehr schwierig,
etwa wenn wir sekundenlang hohe Töne pianissimo aushalten
mussten. Dass Nono später auch Stücke für meine
Stimme schrieb , beispielsweise „Risonanze erranti“,
war für mich eine besondere Erfahrung. Er wählte oft
ganz tiefe Lagen, die meiner Stimme sehr gut entsprechen.
Kolbe: Wann sind Sie in Ihrer Ausbildung zum ersten Mal mit zeitgenössischer
Musik in Berührung gekommen?
Otto: Meine damalige Gesangslehrerin an der Hochschule hatte
gemerkt, dass ich ein absolutes Gehör hatte, gut vom Blatt sang und
offen für verschiedene Stilrichtungen war. Damit kommt man
schnell in die Schublade für Neue Musik. Bis dahin hatte ich
mich eher mit älterer Musik beschäftigt. Meine Eltern
waren Mitglieder in einem Ensemble für Renaissancemusik. Das
hatte mich in meiner Jugend sehr geprägt. Zu uns nach Hause
kamen oft Freunde, mit denen wir mehrstimmig gesungen haben. Damals
wurde in den Familien viel mehr musiziert als heute. Ab und zu
sind wir auch in Konzerte mit Neuer Musik gegangen. Als Kind hat
mich das allerdings eher zum Lachen gereizt.
Kolbe: Was haben Ihnen die Kompositionen
von Nono vermittelt? Otto: Ich hatte zunächst kaum Vergleichsmöglichkeiten.
Die Art zu singen, die er erwartete, hatte nichts mit dem zu tun,
was ich an der Hochschule gelernt hatte. Dort wurden Sänger
dazu animiert, sich solistisch in den Vordergrund zu stellen und
Gefühle in einer für mich schon fast vordergründigen
Weise auszudrücken. Bei Nono war genau das Gegenteil gefragt.
Man sang ins Mikrofon, die Töne waren sehr pur. Ich musste
auch viel Pianissimo singen, also mit wenig Stimmmaterial. Als
Person trat ich dabei eher in den Hintergrund. Mich mit meinem
Gefühlsausdruck so extrem zurückzuhalten,
ist mir anfangs nicht leicht gefallen. Ich kam mir manchmal wie
ein Instrument vor.
Kolbe: Welche Erinnerungen haben
Sie an die „Prometeo“-Uraufführung
in Venedig?
Otto: Ich habe damals mehrere Wochen in der Stadt
verbracht, das hat mich stark beeindruckt. Venedig ist eine in
sich geschlossene,
märchenhaft-schöne, aber auch etwas morbide Welt. Die
Kirche San Lorenzo, in der nach der Uraufführung noch weitere
Aufführungen stattfanden, war sehr baufällig. Während
der Proben hat es da sogar hineingeregnet. Dabei wurden auch die
Stromleitungen zu den Mikrofonen und zur Live-Elektronik nass.
Einer der Techniker des Experimentalstudios bekam einen leichten
Schlag, als er an einen Notenständer fasste.
Die „Barca“, die Holzstruktur von Renzo Piano, war
mir erst auch nicht ganz geheuer. Wir mussten während der
Aufführung von einer Etage in die andere wandern. Dazu musste
man ziemlich schwindelfrei sein. Es war alles ein großes
Abenteuer! Diese Struktur wurde 1985 auch bei den Aufführungen
der überarbeiteten „Prometeo“-Fassung in einer
Fabrik in Mailand verwendet. Die Vielstimmigkeit der instrumentalen
und vokalen Chöre kam auf den unterschiedlichen räumlichen
Ebenen hervorragend zur Geltung.
Kolbe: Wie war die Zusammenarbeit
mit Claudio Abbado, mit dem Sie später auch während seiner Zeit als Chefdirigent der
Berliner Philharmoniker aufgetreten sind?
Otto: Ich habe Claudio Abbado als einen sehr
menschlichen und sympathischen Dirigenten erlebt. Sein zurückhaltendes Wesen empfinde ich
als äußerst angenehm. Ich kam recht jung in diese Kreise
hinein und war dementsprechend unerfahren und schüchtern.
Vor ihm hatte ich immer Respekt, aber keine Angst.
Kolbe: Sie waren inzwischen an
vielen weiteren Aufführungen
von „Prometeo“ mit Dirigenten wie Arturo Tamayo und
Ingo Metzmacher beteiligt. Wie hat sich Ihr Verhältnis zu
dem Stück im Laufe der Jahre gewandelt? Otto: „Prometeo“ ist mir immer vertrauter
geworden. Ich fühle mich jetzt in dem Stück zu Hause.
Ich habe das Gefühl, dass Nono mir die Alt-Solopartie in „Interludio
1“ auf den Leib komponiert hat. Das berührt mich jedes
Mal. Ich merke immer wieder, dass mich jemand genau da abgeholt
hat, wo ich stehe. Auch die höher gelegenen Pianissimo-Passagen,
die ich anfangs als schwierig empfand, sind mir mittlerweile in
Fleisch und Blut übergegangen. Einige Teile von „Prometeo“ klingen
für mich fast ein bisschen wie Alte Musik, etwa das letzte
Ensemblestück für Sänger in „Prometeo“,
in dem sich die Stimmen mischen oder sogar miteinander verschmelzen
sollen. Nono war ja sehr beeinflusst von Renaissancekomponisten
wie Gabrieli.
Kolbe: Wie positioniert sich ein
Sänger gegenüber der
Live-Elektronik in Nonos Kompositionen?
Otto: Ich musste mich erst daran gewöhnen, dass ich quasi
zum Zulieferer für die
Live-Elektronik werde. Normalerweise steht man als Sänger
auf der Bühne im Mittelpunkt. Hier kann es dagegen passieren,
dass die Technik in den Vordergrund tritt. Die Sänger geben
dann ihre individuelle Stimmfarbe dazu. Gerade bei dieser Art des
Singens vor dem Mikrofon spielt das persönliche Timbre eine
große Rolle. Manchmal verspüre ich den inneren Drang,
mich gegen die Dominanz der Elektronik aufzulehnen. In anderen
Momenten erlebe ich dagegen ein regelrechtes Glücksgefühl
und begreife mich als Teil eines großen Ganzen. Mit dieser
Musik macht man Erfahrungen, die weit entfernt von jeglicher Selbstbespiegelung
sind.
Kolbe: Anders als in früheren Kompositionen nimmt Nono in „Prometeo“ keinen
Bezug auf bestimmte zeithistorische Ereignisse. Das Stück
ist eher eine zeitenthobene, philosophische Innenschau. Bleibt
es gerade deshalb immer aktuell?
Otto: Als ich zur Vorbereitung
der „Prometeo“-Aufführungen
in Salzburg und Berlin wieder in die Noten schaute, habe ich darin
etwas tief Menschliches erkannt. Durch die Länge und formale
Struktur des Werkes kann man sein gewohntes Zeitgefühl verlieren.
Anders als in einer Oper oder Sinfonie entstehen hier keine Spannungsbögen,
es wird keine Geschichte erzählt. Nono versuchte nur selten,
uns seine Stücke zu erklären, damit wir sie besser interpretieren
könnten. „Hört!“, hat er uns immer gesagt. „Gebt
euch der Erfahrung des Hörens hin. Das ist das Allerwichtigste.“
Corina Kolbe |