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Berichte

Giovannis Totenfeier

Experimentelles Musiktheater an der Neuköllner Oper

In Zeiten eines Überangebots an konventionellen Opern- und Konzertproduktionen mit dem immer gleichen Repertoire rücken Institutionen und Ensembles, die vom üblichen Weg abweichen und ein anderes Repertoire, unkonventionelle Spielformen und neue Wege der Aufführungspraxis wagen, ins Blickfeld des Interesses. Die Neuköllner Oper und das Stegreiforchester sind zwei Berliner Ensembles, die das Opern- und Konzertleben jenseits des Mainstreams bereichern. Jetzt haben sie sich erstmals für die Produktion „Giovanni. Eine Passion“ zusammengetan.

Die Neuköllner Oper gibt es neben dem Terzett der Berliner Opernhäuser seit 1977. Sie ist eine freie Operntruppe mit fester Spielstätte im Ballsaal der Passage Neukölln. Längst ist die Neuköllner Oper eine Instanz für Musiktheater jenseits des Üblichen geworden. Das Stegreiforchester, ein Sinfonieorchester existiert erst seit 2015. Das Besondere an diesen inzwischen 30 jungen internationalen Musikerinnen und Musikern ist, dass sie sich selbst und einem neugierigen, offenen Publikum neue Wege zur klassischen Musik ebnen, indem sie das klassische Repertoire mit Folklore, Jazz, Klezmer, Blues und Rock anreichern und zu Neudeutungen des altbekannten Repertoires in performativen Aufführungen vermengen. Dabei tritt das Ensemble stets ohne Noten, ohne Dirigent und ohne Stühle auf, in oft ungewöhnlichen Räumen. Die dadurch gewonnene Freiheit, die Aufhebung von Bühne beziehungsweise Konzertpodium und Zuschauerraum, schafft Raum für Improvisation und szenische Bewegung. In „Giovanni. Eine Passion“ prägt dieses Spielverhalten die ganze Inszenierung.

„Frei nach Mozart“. Foto: Matthias Heyde

„Frei nach Mozart“. Foto: Matthias Heyde

Zu den Klängen einer Passionsmusik wird das Publikum durch ein Spalier aller Sänger und Musiker in einen schwarz ausgekleideten Saal geleitet, der mit frischer Erde bestreut ist. In der Mitte ein quadratisches Podest, auf dem ein Teil des Publikums Platz nehmen wird. An zwei gegenüberliegenden Wänden, Altar und Grab, Devotionalien, Kerzen, Totenblumen. Es ist eine spanisch anmutende Totenfeier, die Ulrike Schwab inszeniert hat, ein gruftig-sinnliches Ritual, das um den Mythos Don Juan kreist und – sehr frei – die Vertonung von Wolfgang Amadeus Mozart aufgreift.

Grundidee der Produktion von Bernhard Glocksin, dem Leiter der Neuköllner Oper, ist die fiktive Vorstellung, man käme einmal im Jahr zu Don Giovannis Totenfeier. Inbrünstig zelebrieren die 16 Instrumentalisten des Stegreiforchesters und 6 Sänger gemeinsam auf der Bühne diese Totenfeier, indem sie immer wieder neue Masken und Kostüme tragen, singen, tanzen, sprechen.

Man hat die Oper gekürzt, größtenteils neu arrangiert, uminstrumentiert, mit anderen Musiken des Komponisten angereichert, wie etwa Passagen aus seinem Requiem, aber auch mit Technoelementen, Groove und traditioneller Volksmusik. Eine besondere Rolle spielt der Flamenco. Jeder Orchestermusiker tritt quasi als Darsteller auf, hat auch zu sprechen und zu singen. Plötzlich singen fünf Darsteller den Don Giovanni oder die Donna Anna. So setzt man sich musizierend, singend, spielend mit Mozarts Partitur auseinender, schlüpft in immer neue Rollen, um den Mythos, den Archetyp Giovanni, zu erfahren und damit auch etwas Neues über sich selbst.

Szenisch ist diese Don-Giovanni-„Passion“ ein performatives Experiment zwischen Musik- und Sprechtheater: Es geht um Sinnsuche und Triebhaftigkeit, Leben und Tod, eine unkonventionelle Mischung aus Totenfeier und Karnevalstaumel, Prozession und Stierkampf, Brauchtum und Oper. Eine starke, immer wieder auch traditionelle Geschlechterrollen in Frage stellende Auseinandersetzung mit dem Assoziationsraum „Don Giovanni“, eine Gratwanderung zwischen Mitmachtheater und Happening, aber auch eine Reise durch verschiedenste Zeiten und Stile.

Die Instrumentalisten und Sänger, die mal in Männer-, mal in Frauenkleidern auftreten, wagen viel, gehen an ihre Grenzen, gelegentlich überschreiten sie ihre Möglichkeiten. Sie verausgaben sich jenseits von purem Schönklang und edler Gesangskultur, aber mit persönlicher Leidenschaft. Für das junge, unvoreingenommene und neugierige Publikum der Neuköllner Oper, das eher selten in die staatlichen Berliner Opernhäuser geht, ist diese respektlos-kreative, barrierelose Expedition in die Alchemie des Mythos‘ Don Juan und den Zauber der Mozartoper eine willkommene Annäherung an eine der Säulen des traditionellen Opernrepertoires. Der Beifall des begeisterten Premierenpublikums hat es bestätigt.

Dieter David Scholz

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