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Berichte

Wenig Respekt vor dem Drehbuch

Frank Castorfs „Ring“ in Bayreuth · Von Juan Martin Koch

In einem Artikel zu Alfred Hitchcocks 100. Geburtstag hat der Philosoph und Kinoanalytiker Slavoj Žižek die Frage gestellt, ob nicht der Ring in Wagners Tetralogie der größte MacGuffin aller Zeiten sei. Nach Hitchcock ist ein MacGuffin ein Gegenstand, der in einem Film Handlung auslöst und antreibt, für sich genommen aber keinerlei Bedeutung hat. Wenn Patrice Chéreau 1976 in Bayreuth über weite Strecken nichts anderes getan hat, als George Bernard Shaws brillante marxis-tische Analyse aus „The perfect Wagnerite“ auf die Bühne zu bringen (und damit nicht der Erste war), so hat Frank Castorf 2013 mit seiner Ring-Inszenierung nichts anderes getan, als diese Frage zu stellen. Nicht ohne freilich durch gezielte Vorabinformationen über das Bühnenbild und eine angebliche thematische Verklammerung einen weiteren MacGuffin heraufbeschworen zu haben: die Ölgewinnung, deren Bedeutung in Geschichte und Gegenwart dann auch im Programmheft pflichtschuldig abgehandelt wird.

Die Rheintöchter – mal anders: Mirella Hagen, Julia Rutigliano und Okka von der Damerau. Foto: Bayreuther Festspiele/Enrico Nawrath

Die Rheintöchter – mal anders: Mirella Hagen, Julia Rutigliano und Okka von der Damerau. Foto: Bayreuther Festspiele/Enrico Nawrath

Dass es Castorf nicht wirklich um den Rohstoff und darum geht, von diesem aus eine Geschichte wirtschaftlich begründeter Machtverhältnisse zu erzählen, zeigt schon das Vorspiel. Denn Alberich klaut keineswegs das „schwarze Rheingold“, sondern fischt nur eine raschelnd glitzernde Isolierdecke aus einem Swimmingpool. Der gehört zum „Golden Motel“, in dem drei Vertreterinnen des horizontalen Gewerbes sich mittels Absingen der Rheintöchter-Partien die gähnende Zeit vertreiben. Es ist das Personal eines schäbigen C-Movies (Anspielungen auf real existierende Filme inklusive), mit dem Castorf diese Tanke an der Route 66 bevölkert, und so ist es nur konsequent, dass er diesem beinahe permanent mit Kameras auf den Fersen ist. Die Live-Bilder werden an wechselnde Orte projiziert und zoomen so den Zuschauer an das gleichzeitig auf der Bühne Sichtbare heran oder geben Einblicke in verborgene Räume. Eine ganz neue Idee ist das nicht, aber mit dieser Beiläufigkeit bei gleichzeitiger Präzision der Bildachsen dürfte das in der Oper noch nicht gemacht worden sein.

Welchem Drehbuch dies alles folgt, interessiert Castorf weniger, aufreizend lax geht er mit Schlüsselszenen wie dem Ringfluch um oder schert sich keinen Deut darum, ob Alberich nun vom Motel-Bordell-Chef Wotan und dem schmierigen Italo-Reporter Loge wirklich gefesselt wurde oder nicht. Umso besser funktioniert dann so etwas wie die Verwandlungsszene in des Niblungs Campingwagen: Die angeblichen Live-Bilder sind zur Manipulation geworden. Was Castorf interessiert, ist die Prägnanz einer solchen kleinen, in sich geschlossenen Szene oder eines einzelnen Bildes, sie zu einem großen Ganzen zu fügen verweigert er.

Entsprechend unverbunden schließt sich die „Walküre“ an, nunmehr angesiedelt unter aserbaidschanischen Ölbohrtürmen Anfang des 20. Jahrhunderts. Im Vergleich zu der kurzweiligen, mitunter erfreulich komischen Bilderflut im „Rheingold“ lässt Castorf es jetzt äußerst gemächlich angehen, ob aus Gleichgültigkeit oder um dem Publikum eine 0815-Inszenierung unter die Nase zu reiben, ist nicht eindeutig auszumachen. Kleine Details und Irritationen machen in diesem Umfeld entsprechenden Effekt: Sieglinde passt sich mit schwarzem Kleid und rotem Kragen optisch dem Federvieh im Käfig an, als wolle sie sagen: „dieser Truthahn und dies Weib sind Hundings eigen“; dessen Manneskraft entschlummert trotz Sieglindes Verführung in dem Moment, als Siegmund vom Schwert singt; die geschwisterliche Erkennungsszene spielt sich möglicherweise vor Wotans geistigem Auge ab, wird aber ausgerechnet zu den „Winterstürmen“ prosaisch unterbrochen, als Wotans in eine Sahnetorte sich versenkende Geliebte ins Bild kommt. Sie hat entfernte Ähnlichkeit mit Erda, die im Rheingold einen glamourös-divenhaften, von Gattin Fricka entsprechend missbilligten Auftritt gehabt hatte. Sogar ein wenig ironisch-psychologischen Feinsinn serviert Castorf, wenn er Brünnhilde zu Wotans großer Erzählung im zweiten Akt teilnahmslos Nitroglycerin abfüllen lässt: Diese ollen Kamellen hat sie sich schon allzu oft anhören müssen… „Jetzt komm mal zum Punkt“, scheint sie mit ihrem „Was macht dir nun Sorge?“ sagen zu wollen.

Attila Jun als Hagen und der Festspielchor in der „Götterdämmerung“. Foto: Bayreuther Festspiele/Enrico Nawrath

Attila Jun als Hagen und der Festspielchor in der „Götterdämmerung“. Foto: Bayreuther Festspiele/Enrico Nawrath

Auf diesen Punkt lässt Castorf die nunmehr etwas beschwichtigten Wagnerianer auch weiterhin warten, knallt ihnen dafür aber mit dem „Siegfried“ die heftigste und wohl durchdachteste Zertrümmerung vor den Latz. Mimes Campingwagen made in Nibelheim steht nunmehr in einer kommunistischen Enklave in den USA. Aus den Steinen des Mount Rushmore sind – ein weiteres brillantes Bühnenbild von Aleksandar Denic – die Köpfe von Marx, Lenin, Stalin und Mao herausgemeißelt. Vielleicht hat sich Fafner hier hindurchgefressen, die Höhlengänge sind jedenfalls so etwas wie Wurmlöcher: Drüben landet der Held auf dem Berliner Alex (kurz vor der Wende?). Die Weltzeituhr mit ihren Planetenkreisen deutet an, dass hier – und damit wohl in Castorfs quer durch Epochen und Räume surfendem Ring insgesamt – möglicherweise eine Kugelgestalt der Zeit à la Bernd Alois Zimmermann wirksam ist. Siegfried ist das eher egal, schließlich gilt es – nach Exekution des Großstadtdrachens mittels markerschütternder Kalaschnikow-Salven – dem erotischen Geheimnis der attraktiven Revuepalast-Pfauengirls auf die Spur zu kommen. Das gelingt auch, entsprechend endet der zweite Aufzug mit munterer Waldvögelei.

Das bedeutet gleichzeitig, dass der Wälsungensohn eigentlich schon vergeben ist, als er die ihm vorbestimmte Brünnhilde wachküsst. Entsprechend desolat verläuft das vom wagnertreuen Publikum mit Entsetzen quittierte Finale: Das frisch verlobte Paar sitzt auf denselben Bierbänken, auf denen zu Beginn Wotan und Erda ihre deprimierende Spaghetti-Schlacht mit Blowjob als Nachspeise abgehalten hatten. Auch die zunehmend aufdringlichen Krokodile, die Castorf als naturidentische Ersatzstoffe für den fehlenden Drachen ausgesetzt hat, tragen wenig zur Erhabenheit der Stimmung bei. Filmisch fabelhaft gelungen ist diesmal die Begegnung mit dem Wanderer: Siegfried dominiert zunehmend das auf den Mount Rushmore projizierte Bild, während der zum Zuschauer degradierte Göttervater auf Originalgröße zusammenschrumpft.

Auch vom Helden ist in der „Götterdämmerung“ dann nur noch ein Häufchen Elend übrig. Wie ein Embryo krümmt Siegfried sich auf der Bank vor dem Mobile Home, das er nunmehr zusammen mit Brünnhilde bewohnt. Von der Dönerbude der Gibichungen kommt er endgültig als ein deformiertes Monstrum zurück. Erschlagen vom irokesenhaarigen Hagen, haucht er hinter einem Bretterzaun sein Leben aus. Zwischen den Latten schaut – großes Kino – seine blutige Hand mit dem Ring hervor.

Wer vom dritten Tag eine zusammenfassende Werk- und Weltdeutung erwartet hatte, bekam wiederum nur Bruchstücke angeboten, diesmal gewürzt mit Anspielungen auf die Bayreuther Regiegeschichte: ein Voodooritual der Nornen à la Schlingensief, der an Chéreaus Backsteinhafen erinnernde Hinterhof und schließlich die Bebilderung von Wieland Wagners Spruch aus den 1960ern: „Walhall ist Wall Street.“ Die Beiläufigkeit, mit der Castorf den Blick auf die zunächst noch verhüllte New Yorker Börse freigibt, deutet freilich an, dass er hier – wie im Fall der Leuchtschrift „Plaste und Elaste aus Schkopau“ – nur einen weiteren MacGuffin in die Welt setzt. Der wird dann nicht einmal in Brand gesetzt, ein Ölfass tut’s schließlich auch. Weil das Bild in seiner Blödheit schon wieder genial ist, sei noch nachgetragen, dass Brünnhilde bei ihrer Präsentation als Gunthers Zukünftige im Glitzerkleid mit Mantel ziemlich exakt so aussieht wie das brutzelnde Dönertier, das neben ihr auf einem Plakat zu sehen ist. Auf eine solche Feuerzauberanspielung muss man erst mal kommen.

Sollte es Castorf in den nächsten Jahren gelingen, die – mangelnder Probenzeit oder Desinteresse geschuldeten – Leerstellen noch mit Leben zu füllen und auch dann mit den Sängern schauspielerisch zu arbeiten, wenn sie nicht gerade von der Kamera eingefangen werden, könnte sich dieser Ring zu einem vergnüglich-hinterfotzigen Klassiker entwickeln. Von musikalischer Seite aus ist er schon jetzt als sängerisch beachtlich und orchestral denkwürdig einzustufen. Denn Kirill Petrenko treibt den Partituren, durchaus auf einer Linie mit Castorf, jedes vordergründige Pathos aus. Ausgehend von einem enorm durchsichtigen, von den immer wieder überraschend in den Vordergrund geholten Holzbläsern schillernd gefärbten Orches-terklang, macht er das symphonisch entwickelte Gewebe hörbar, statt Leitmotivtafeln in die Höhe zu halten. Das Blech wird nicht als Überwältigungsmaschinerie in Stellung gebracht, sondern als Träger dramatischer Charakterisierung.

Im ersten Siegfried-Akt ergibt das mitunter fast expressionistische Tiefenbohrungen. Schade, dass ausgerechnet hier (II. Ring-Zyklus) der Gesang nicht auf der Höhe ist. Lance Ryan, optisch und darstellerisch ein treffliches Siegfried-Ekelpaket, ist der Partie hörbar nicht (mehr) gewachsen, Burkhard Ulrich spielt den Mime phänomenal, keift aber über weite Strecken mehr, als er singt. Nimmt man noch Attila Juns recht undifferenziert orgelnden Hagen in der „Götterdämmerung“ hinzu, ist die Liste vokaler Enttäuschungen aber auch schon so gut wie beendet. Besondere Überzeugungskraft entwickeln Martin Winkler als Alberich, Nadine Weissmann, unter anderem als Erda, Claudia Mahnke (Fricka, Waltraute) und Norbert Ernst als Loge. Sängerisch werden sie vielleicht noch übertroffen von Günther Groissböck (Fasolt) und den auch im Ensemblegesang betörenden Rheintöchtern Julia Rutigliano, Okka von der Damerau und Mirella Hagen, wobei Letztere überdies dem Waldvogel ihr Verführungs-timbre leiht. Zu einer in Bayreuth in den vergangenen Jahren eher selten zu erlebenden sängerischen Sternstunde entwickelt sich der erste Walküren-Akt mit Franz-Josef Seligs gefährlichem Hunding, Johan Bothas geschmeidigem Siegfried und – den kompletten Ring überstrahlend – Anja Kampes schwärmerisch aufblühender Sieglinde. Erfreulich viele Sänger nehmen außerdem Petrenkos kammermusikalisches Angebot zu dynamischer Differenzierung und damit die Möglichkeit zur Textartikulation an – gerade auch Catherine Foster als Brünnhilde mit wunderbar lyrischen Passagen und beachtlichen Reserven in der exponierten Höhe. Wolfgang Koch schließlich entwickelt mit schlanker Klangfülle im „Rheingold“ ein seiner beeindruckenden Leinwandpräsenz entsprechendes vokales Format und hält dieses Niveau über weite Strecken auch in „Walküre“ und „Siegfried“. Dazu noch die fabelhaften Männerstimmen des Bayreuther Festspielchores: Bayreuth hat musikalisch in Sachen „Ring“ endlich wieder ein dem eigenen Anspruch gerecht werdendes Niveau entwickelt. Auch wenn Frank Castorf nach der Premiere mit unnötig ausgedehnter Bühnenpräsenz und Vogelzeigen ins aufgebracht buhende Publikum für einen überflüssigen Eklat sorgte, können die Diskussionen, die sein jegliche Wagner-Weihe verweigerndes Regie-Kaleidoskop auslöste, dem in vielerlei Hinsicht sanierungsbedürftigen Grünen Hügel nur gut tun.

Juan Martin Koch

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