Zur Startseite


 

 
Zur Startseite von Oper & Tanz
Aktuelles Heft
Archiv & Suche
Stellenmarkt
Oper & Tanz abonnieren
Ihr Kontakt zu Oper und Tanz
Kontakt aufnehmen
Impressum
Datenschutzerklärung

Website der VdO


Portrait

Ein Botschafter in die Welt

40 Jahre John Neumeier beim Hamburg Ballett · Von Dagmar Ellen Fischer

Er ist aktuell der dienstälteste Ballettdirektor der Welt: John Neumeier feierte in der vergangenen Spielzeit sein 40-jähriges Jubiläum mit dem „Hamburg Ballett“. Länger als er haben es laut tanzhistorischer Überlieferung nur vier Kollegen mit ein und derselben Compagnie ausgehalten: Marius Petipa (führte das Ballett des Mariinsky Theaters in St. Petersburg 49 Jahre), George Balanchine (leitete 48 Jahre das New York City Ballet), Maurice Béjart (führte das Ballet de XX. Siècle 48 Jahre, erst in Brüssel, dann in Lausanne) und August Bournonville (mit Unterbrechungen war er 42 Jahre Direktor des Königlich Dänischen Balletts in Kopenhagen). Neben ihrem Durchhaltevermögen haben die fünf Weiteres gemeinsam: den klassisch-akademischen Tanz als Basis, den sie stilistisch weiter entwickelten; ferner wirk(t)en alle in erster Linie als Choreografen für ihr jeweiliges Ensemble und hinterließen deutlich wahrnehmbare Spuren in der Tanzgeschichte.

Drei stabile Säulen

John Neumeier. Foto: Steven Haberland

John Neumeier. Foto: Steven Haberland

Erst mit John Neumeier taucht die Stadt Hamburg als ernst zu nehmende Größe auf der internationalen Landkarte des Balletts auf: 1973 berief Intendant August Everding den Nachwuchschoreografen an die Hamburgische Staatsoper, zuvor hatte Neumeier als jüngster Ballettdirektor Deutschlands ab 1969 in Frankfurt auf sich aufmerksam gemacht. Was nach 1973 passierte, kann im Rückblick als stetiger Aufbau eines „Imperiums“ gesehen werden – um den verstorbenen Autor, Ballettkritiker und Neumeier-Experten Horst Koegler zu zitieren –, und das fußt auf drei stabilen Säulen: dem choreografischen Œuvre, das inzwischen annähernd 160 Werke umfasst; einem Ballettzentrum mit Schule und Internat, das begehrten Tänzernachwuchs ausbildet; und der Stiftung John Neumeier, die eine weltweit einmalige Sammlung zur Ballettgeschichte beherbergt, mit Büchern, Filmen, Fotos, Kostümen und weiteren Schätzen, die in nicht allzu ferner Zukunft eine endgültige Heimat in einem (Hamburger) Museum bekommen sollten.

Vor zwei Jahren kam ein viertes Standbein hinzu: das Bundesjugendballett. Die Idee, eine Junior-Compagnie zu gründen, um Absolventen den bestmöglichen Übergang von der Ausbildung zum Engagement zu ermöglichen, hatte John Neumeier gut zwanzig Jahre lang verfolgt – allein, die Finanzierung ließ sich nicht bewerkstelligen. Erst im Herbst 2011, nachdem der Bund Gelder für das vierjährige Pilotprojekt zugesichert hatte, trat das achtköpfige Ensemble erstmals an die Öffentlichkeit. Zwei Spielzeiten und einige Erfahrungen später wechseln die acht Pioniere der ersten Generation nun in ein individuelles Bühnentänzerleben, die nächsten jungen Tänzer stehen bereit.

Verlängerung noch offen

Wenn es darum geht, seine Visionen Wirklichkeit werden zu lassen, ist John Neumeier ein realistischer Träumer; auch fantastischste Ideen verfolgt er mit solider Beharrlichkeit. Für die Öffentlichkeit ist er ein charismatischer Moderator, der mit der Etablierung von – immer ausverkauften – Ballett-Werkstätten als sonntägliche Matinee eine Erfolgsgeschichte schrieb: Hier lässt er sich zwei Stunden lang über die Schulter schauen und gewährt Einblicke in kreative Prozesse; hier liegt sowohl der Schlüssel zur Heranbildung verständiger Zuschauer als auch zur Bindung an das Hamburger Publikum – und damit nicht zuletzt zu einer Auslastung von 97 Prozent für das „Hamburg Ballett“. Das stärkt John Neumeiers Position als Chefchoreograf und Ballettintendant in der Hansestadt. Bei der dortigen Kulturbehörde gilt er als hartnäckiger Verhandlungspartner – was indes nicht erklärt, warum eine Verlängerung des 2015 auslaufenden Vertrags bisher noch nicht ergebnisorientiert verhandelt wurde. Das macht staunen, nicht nur unter dem Aspekt, dass die beiden anderen Leitungspositionen der Staatsoper bereits im Herbst des vergangenen Jahres bekanntgegeben wurden (ab 2015 wird Kent Nagano als Generalmusikdirektor übernehmen, Georges Delnon wird Intendant), sondern auch mit Blick auf den enormen Zuspruch des Publikums: John Neumeier ist ein Wirtschaftsfaktor.

Nijinsky-Gala mit der Ditten von Mahler. Foto: Holger Badekow

Nijinsky-Gala mit der Ditten von Mahler. Foto: Holger Badekow

Insbesondere in der Jubiläumsspielzeit sorgte die nicht geklärte Zukunft des „Hamburg Ballett“ für Irritation, denn einen passenderen Zeitpunkt als die Ehrung zum 40-Jährigen werden die Verantwortlichen der Stadt für eine Bekanntgabe nicht finden. Aber so blieb es am 7. Juni im Hamburger Rathaus bei feierlichen Würdigungen für den Ehrenbürger und seine Compagnie; Kultursenatorin Barbara Kisseler sagte in ihrer Laudatio: „John Neumeier hat mit dem „Hamburg Ballett“ diese Stadt verändert – genauso wie die Wahrnehmung Hamburgs in der Welt: Sie, lieber John Neumeier, haben Hamburg überhaupt erst zu einer so tanzbegeisterten Stadt gemacht, die heute von sich sagen kann, eine große Ballettmetropole zu sein. Gleichzeitig sind Sie mit Ihrer Compagnie unser größter Botschafter in der Welt…“

Tatsächlich gibt es mehrere Gründe, die John Neumeier einen Platz in der Ballettgeschichte sichern: die Wiederbelebung abendfüllender Handlungsballette mit einer nie zuvor erreichten Tiefe in der psychologischen Figurenzeichnung („Die Kameliendame“); das Kreieren einer tänzerischen Ebene zu einer Sinfonie („Dritte Sinfonie von Gustav Mahler“); das Etablieren sogenannter Themenabende, die mehrere Choreografien in einer thematischen Klammer bündeln („Meyerbeer/Schumann“); das Übersetzen von Literatur in Tanz nach einer neuen dramaturgischen Formel („Die kleine Meerjungfrau“); und das Choreografieren zu sakraler Musik, die bis dahin als untanzbar galt („Matthäus-Passion“).

Ballett-Tage zum Jubiläum

Von jedem dieser Genres gab es während der diesjährigen, auf drei Wochen verlängerten 39. Hamburger Ballett-Tage Beispielhaftes. Eröffnet wurden diese offiziell mit drei gekürzten bekannten Choreografien – aber es wurde fast eine neue Kreation daraus. „Eingedampft“ habe er seine Werke, so John Neumeier über die Zusammenführung der „Shakespeare Dances“: Die Essenz von „Wie es euch gefällt“ aus dem Jahr 1985, die Kernszenen aus „Hamlet“ (Premiere der Hamburger Fassung war 1997) sowie eine komprimierte Fassung von „VIVALDI oder Was ihr wollt“, das 1996 uraufgeführt wurde, emulgieren zu einem fantasievollen Kaleidoskop.
Die „Gala für Klavier, Stimme und Tanz“ lieferte die zweite Premiere des Festivals; der vierteilige Abend zeigte als finalen Höhepunkt ein neues Werk von John Neumeier, das im Mai dieses Jahres in Essen uraufgeführt worden war. Nach den „Kinderszenen“, den „Petruschka-Variationen“ und „Vaslaw“ folgte John Neumeiers jüngste Kreation „Um Mitternacht“, die nach der erneuten Beschäftigung mit den Rückert-Liedern von Gustav Mahler entstand.

Maria Zanotto, Silvia Azzoni und Konstantin Tselikov in „Shakespeare Dances – Wie es euch gefällt“. Foto: Holger Badekow

Maria Zanotto, Silvia Azzoni und Konstantin Tselikov in „Shakespeare Dances – Wie es euch gefällt“. Foto: Holger Badekow

Das „Hamburg Ballett“ zeigte 23 unterschiedliche Werke in 19 Vorstellungen mit 60 Tänzern in drei Wochen – hinter den rekordverdächtigen Ballett-Tagen wollte die „Nijinsky-Gala“ nicht zurückstehen: Sechs Stunden dauerte der kurzweilige Abend zum Finale der Jubiläumsspielzeit am 30. Juni. Und hielt eine Überraschung bereit: Bevor der sechste Satz der „Dritten Sinfonie von Gustav Mahler“ getanzt wurde, enterten schwarz gekleidete Menschen die Bühne – elf als „Vorläufer“ betitelte ehemalige Tänzer nahmen jene Positionen ein, die sie in diesem Werk einst hatten. Das Erkennen auf Seiten des Publikums, das tiefe Berührt-Sein vom Wiedersehen mit Tänzern im Ruhestand, die anlässlich des Jubiläums anreisten, war geradezu mit Händen zu greifen. Hélène Bouchet und Carsten Jung beendeten die Gala mit „Was mir die Liebe erzählt“ – und in den letzten Sekunden übernahm John Neumeier den Part seines Ersten Solisten, zur großen Überraschung des Publikums. Der Choreograf, das gesamte Ensemble, aber auch die Schatten der Vergangenheit, bauen eine tragfähige Brücke in die Zukunft.

Dagmar Ellen Fischer

startseite aktuelle ausgabe archiv/suche abo-service kontakt zurück top

© by Oper & Tanz 2000 ff. webgestaltung: ConBrio Verlagsgesellschaft & Martin Hufner