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Berichte

Kapitalistische Widersacher

Deutsche Erstaufführung von Reynaldo Hahns »Der Kaufmann von Venedig« in Bielefeld

„Man wird wieder den ‚Salonmusiker‘ zitieren, man wird mir meine Operetten und meine ‚süßen‘ Lieder vorwerfen“ – Reynaldo Hahn war sich darüber im Klaren, dass sein „Kaufmann von Venedig“ kein Erfolg werden konnte. Zu tief steckte er in der Schublade des leichten, kleinformatigen Genres, mit dem er im Paris der Belle Époque Karriere gemacht hatte. Und so verschwand die Oper auf den tragikomischen Shakespeare-Stoff – seine sechste! – nach der Uraufführung 1935 in der Versenkung.

Bjørn Waag als Shylock, Melanie Kreuter als Die Maske und Opernchor. Foto: Bettina Stöß

Bjørn Waag als Shylock, Melanie Kreuter als Die Maske und Opernchor. Foto: Bettina Stöß

Fast kein Wunder, dass ausgerechnet das Stadttheater Bielefeld sie daraus hervorholte. Dieses kleine, hochaktive Dreispartenhaus wagt seit Jahrzehnten unkonventionelle Spielpläne und hat schon so manches vergessene Werk wiederbelebt. An der Schreker-Renaissance war man lebhaft beteiligt; scheinbar Unspielbares wie Viktor Ullmanns „Sturz des Antichrist“ war nur hier zu sehen. Die längst fällige Deutsche Erstaufführung von Hahns „Le Marchand de Venise“ zeigt in Klaus Hemmerles quicklebendiger und klug aktualisierender Regie, wie ein als eklektisch und unzeitgemäß Gescholtener gerade durch die Vereinigung heterogener Elemente theaterwirksame Vielschichtigkeit erreichen kann.

Ziemlich genau folgt Miguel ZamacoÏs‘ Libretto Shakespeares Komödie, und doch scheint sie wie auf die Persönlichkeit des Komponisten zugeschnitten: Von unerklärlicher Schwermut ist der erfolgreiche Kaufmann Antonio befallen – kann es daran liegen, dass er „falsch“ liebt, nämlich den Emporkömmling Bassanio, der um die reiche Waise Portia wirbt? Um seine Werbung zu unterstützen, muss Antonio Geld aufnehmen, ausgerechnet von Shylock, dem verhassten Juden. Der kann aufgrund der „verbotenen“ Liebe Bedingungen stellen: Erhält er das Geld nicht pünktlich zurück, darf er sich ein Pfund Fleisch aus dem Körper des nicht minder verhassten Christen schneiden – „nahe am Herzen“.

Das Außenseitertum beider Kontrahenten schien Hahn als zwei Seelen in seiner Brust zu vereinen. Das Fremdsein des katholisch erzogenen Sohns einer Venezolanerin und eines deutschen Juden in der Pariser Gesellschaft wurde durch seine Homosexualität noch verstärkt. Selbst die rätselhaften Schwermutsanfälle teilte er mit der Figur des Antonio. Und so interessierte ihn das Paradox: an Shakespeare die Vereinigung der „Poesie mit der Beleidigung“, der „Tränen mit dem Lachen“, an Mozart, dessen „Don Giovanni“ ihn überhaupt zu seiner Oper inspirierte, der Kontrast von Leichtigkeit und Dämonie. So kann Hahn seinem Shylock zwei „Hassarien“ von avancierter Expressivität schreiben – Bjørn Waag singt sie so schmerzhaft intensiv, als wäre ihm selbst das Antonio zugedachte Messer ins Herz gestoßen. Dass an der rachsüchtig-raffgierigen Figur des Shylock irgendetwas antisemitisch gemeint sein könnte, wie Shakespeare oft unterstellt, ist bei dieser ergreifenden Darstellung undenkbar. Zumal Hemmerle nicht das „Jüdische“ der Figur hervorhebt, sondern die beiden Widersacher als verschiedene Vertreter des venezianischen Frühkapitalismus vorstellt: Der Jude nimmt Zinsen, der gute Christ kann sich leisten, auf sie zu verzichten.

Nienke Otten als Jessica und Frank Dolphin Wong als Bassanio. Foto:  Bettina Stöß

Nienke Otten als Jessica und Frank Dolphin Wong als Bassanio. Foto: Bettina Stöß

Auch Hahn enthält sich jeder diskriminierenden Charakterisierung: nicht die kleinste „jüdische“ Floskel, keine übermäßige Terz, kein melismatisches Lamento findet sich in seiner Musik. Stattdessen stilistisch weitgefasste, rhythmisch spritzige Leichtigkeit, spöttisch-laszive Saxophontöne über flirrenden Streichern. „Glückliche Paare“ der feinen venezianischen Gesellschaft singen in süßestem Puccini-Belcanto: Sarah Kuffner als lebenskluge Portia, Nienke Otten als Shylocks abtrünnige Tochter Jessica und deren Liebhaber Lorenzo (Lianghua Gong mit strahlkräftig-schlankem Tenor). Trotz schmelzendem Bariton nimmt man Frank Dolphin Wong als Bassiano den Verführer nicht ganz ab, dem sowohl Portia als auch Antonio (mit melancholischem Charme: Moon Soo Park) erliegen. Fast ausnahmslos werden diese anspruchsvollen und durchweg tadellos bewältigten Gesangspartien aus dem Hausensemble bestritten. Und ebenso plastisch-präzise trifft die Bielefelder Philharmonie unter Pawel Poplawski die rasch wechselnden Tonlagen.

Wie hier alles der belebenden Wirkung des Geldes unterliegt, unterstreicht Hemmerle mit schönen Details, etwa wenn Lorenzo im Liebesduett an Jessicas mitgebrachten Taschen zerrt, bis die glückliche Braut buchstäblich bar jeden Vermögens vor ihm steht. Ambivalenzen betont auch Andreas Wilkens zweistöckige Bühne, ein klares Oben und Unten, in dem die bunte Leuchtreklame „Venice“ in eine touristische, auch karnevaleske Gegenwart entführt. Auftrittsfläche auch für den großartigen Bielefelder Opernchor (Einstudierung: Hagen Enke), der immer wieder zur Tanztruppe mutiert (Choreografie: Dirk Kazmierczak). Äußerst wandlungsfähig schlüpft er in die Rollen venezianischer Masken zu terzenselig geträllerten Barcarolen, gibt seine besten Tenöre für marokkanische Haremsdamen her, die unter bunten Schleiern ein kräftiges „Wallawalla“ hervorstoßen dürfen, während die kräftigsten Bassisten eine Flamenco-Pantomime hinlegen. In Portias Palast dagegen werden Cocktails von Damen serviert, die in strengen Fräcken wie Herren aussehen – ein Bild heutiger Eman(n)zipation?

Hahn legte schon die Grundlage zum komischen Verwirrspiel der Geschlechter, das Hemmerle noch burlesk steigert, in den drastisch-fantasievollen Kostümen von Yvonne Forster. Diese führen von der bunten Renaissance in eine stylisch graue Gegenwart, ohne jemals aufgesetzt zu wirken. Hemmerle lässt das Stück in einer Andeutung des Holocaust enden: Weißer Rauch quillt neben einem auf eine Brandmauer gekritzelten Judenstern aus Fabrikschloten, während das Glück einer „Paradiesnacht“ unter den Chemiewolken des venezianischen Industriehafens Mestre besungen wird. Der Komponist flüchtete 1940 vor den Nazis aus Paris nach Südfrankreich. Wie die Rezeption seiner Werke zu Politik verdichteten Vorurteilen zum Opfer fiel, zeigt seine Oper.

Isabel Herzfeld

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