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Berichte

Der Wert der Gottesfürchtigkeit

Uraufführung von Giorgio Battistellis Oper »Lot« in Hannover

Am Anfang ziehen Abraham und Sara über die Szene und werden vom Kindgott, der Pappmenschen bastelt, ebenso gemaßregelt, wie ihnen die Geburt eines Sohnes prophezeit wird. Bei der Gelegenheit versucht der uralte Abraham, mit Gott die geplante Vernichtung von Sodom mit seinen sündigen Bewohnern zu verhandeln, denn sein „gerechter“ Neffe Lot lebt dort mit seiner Frau und zwei Töchtern. Die Vernichtung ist nicht aufzuhalten, aber Lots Familie soll gerettet werden. Das ist der Beginn der Doppeldeutigkeit von Lot aus dem Buch Genesis des Alten Testamentes. Gottgläubigkeit, Fundamentalismus, Fremdenhass und Inzest sind die unglaublich aktuellen Themen der nunmehr zwanzigsten Oper des italienischen Komponisten Giorgio Battistelli, die jetzt an der Staatsoper Hannover eine viel bejubelte Uraufführung feierte.

Der 1953 geborene Battistelli hat seine eigene Musiktheorie. Jeder Materialfetischismus – in der Nachfolge Theodor W. Adornos – erscheint ihm obsolet und er kämpft um eine Musik der „Erfahrung“, was auch immer das ist. Noch heute im Gedächtnis ist seine Oper „Experimentum Mundi“ (2005), in der er die Handwerker seines Geburtsortes Albano Laziale ihre tägliche Arbeit verrichten ließ; eine ungeheure Komplexität von Rhythmen, Räumen und Gerüchen war die Folge. „Lot“ nun ist eine Auftragsarbeit des Niedersächsischen Staatstheaters. Das Libretto von Jenny Erpenbeck folgt weitgehend der biblischen Erzählung und stellt als Fazit genauso wie die Inszenierung von Frank Hilbrich die Frage nach dem Wert der Gottesfürchtigkeit – die im brutalen Fundamentalismus endet – oder dem Beginn einer neuen Menschheit ohne Gott – die in der moralischen Verkommenheit endet.

Franz Mazura als Abraham und ein Statist. Foto: Jörg Landsberg

Franz Mazura als Abraham und ein Statist. Foto: Jörg Landsberg

Das ist eine Thematik, die man nicht aktualisieren muss, weil sie es von sich aus schon ist. Frank Hilbrich, dessen sensible Inszenierungen immer die Frage nach der Herkunft eines Verhaltens stellen, verzichtet auf alles, was heute in Inszenierungen oft reichlich überladen daherkommt: Kein Video und keine Projektionen erklären uns etwas, sondern ein deutlich ausgespielter Realismus zieht den Zuschauer wie im Sog mit. Bühnenbildner Volker Thiele und Kostümbildnerin Gabriele Rupprecht finden überzeugende Bilder und Stoffe, die unhistorisch sind, aber auch historisch-archaisch gedeutet werden können. Hilbrich setzt heftige Akzente: der fremdenhassende Mob (mit dem der Chor mit differenziert gezeichneten Personen einen temperamentvoll realistischen Eindruck macht), der die Engel nicht hereinlassen will, Lots zerstörerischer Fundamentalismus, wenn er seine Töchter dem Mob anbietet, um das „heilige“ Gastrecht erhalten zu können, die Gewalt der Engel, die die Töchter brutal zwingen, mitzugehen, die Verrohung Lots, wenn er sich im ausgeschütteten Müll – den Gott im ersten Bild zusammengesammelt hat – an seinen Töchtern vergreift. Verlassen von Gott, entscheidet er sich, Teufel zu sein. Doch während das Libretto am Ende ihn und seine Nachkommen als verdreckt, hungernd und sogar als „irrsinnig“ bezeichnet, zeigt Hilbrich eher eine Idylle: Die Kinder toben mit Schafen auf der Weide. So leuchtet hier die Utopie einer neuen Welt auf, was sich mit dem irrealen Glanz der Musik an dieser Stelle deckt.

Die Musik von Battistelli wirkt wie eine riesige Klangskulptur, von der Klänge wie gemeißelt sich fortbewegen. Da bleiben Puccinismen und ein regelrechtes Absahnen der Ästhetik historischer Operngeschichte nicht ganz aus. Italienische Cantabilitá innerhalb handwerklich allerdings perfekt und kurzweilig komponierter, schlagzeuglastiger Auf- und Abschwünge, die beim Niedersächsischen Staatsorchester unter der Leitung von Marc Rohde bestens aufgehoben waren. Die Aufführung zeigte einmal mehr, dass es die moderne Oper nicht gibt, sondern dass sich in der Gattung wie in allen anderen Gattungen auch eine manchmal unübersehbare Vielzahl von Ansätzen breitmacht. Ovationen für die Aufführung, in der Dorothea Maria Marx als erste, Stella Motina als zweite Tochter, Khatuna Mikaberidze als Mutter, Sung-Keun Park und Amar Muchhala als Engel und Brian Davis als Lot überragende sängerische Akzente der unerhört schweren Partien setzten. Dies gilt auch für die emeritierte Renate Behle als Sara und den 93-jährigen (!) Franz Mazura als Abraham.

Ute Schalz-Laurenze

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