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Hintergrund

Die Musik entsteht aus der Stille

Kinderchorleiter Yoshi Kinoshita im Gespräch mit Barbara Haack

Anfangs waren es zwölf Kinder. Als Yoshi Kinoshita 1989 den Kinderchor der Musikschule Wolfratshausen gründete, hatte er ein Kontingent von einer Stunde pro Woche. Heute sind es an die 200 Kinder, die in vier Altersgruppen singen, und der studierte Flötist, Sänger und Musiktherapeut hat in seiner Funktion als Chorleiter eine ganze Stelle inne. Zwischen 1989 und heute liegen viele Jahre der kontinuierlichen Arbeit mit Kindern, zahlreiche Konzerte und Projekte, Reisen, Probenwochen und erfolgreiche Teilnahmen an Chorwettbewerben. Im Zentrum seiner Arbeit stehen für Yoshi Kinoshita die Kinder und Jugendlichen. Wenn er von seiner Arbeit spricht, wird deutlich: Es geht längst nicht „nur“ um das musikalische Können, das Talent, die Leistung. Es geht vor allem darum, dass die Kinder durch das Singen Möglichkeiten erhalten, sich weiterzuentwickeln, musikalisch, aber auch menschlich. Dass sie lernen zu hören und zuzuhören, Sensibilität für andere zu entwickeln, „in Bezug“ zu gehen, wie Kinoshita es nennt. Über seine Art, mit den Kindern zu arbeiten, auf sie zuzugehen und sie in ihrer Entwicklung bestmöglich zu unterstützen, sprach Barbara Haack für „Oper & Tanz“ mit dem engagierten Chorleiter.

Oper & Tanz: Was ist musische Bildung für Sie?

Yoshi Kinoshita: In der Musik stehen das Erleben, das Erfahren und das In-Beziehung-Gehen im Mittelpunkt. Das sind zentrale Aspekte der Musischen Bildung mit Musik. Wir leben in einer Gesellschaft, in der das naturwissenschaftliche, analytische Denken dominiert. Analysieren bedeutet ja auch immer etwas voneinander trennen, um es zu untersuchen, und damit haben wir unglaubliche Fortschritte in den Wissenschaften erreicht. Das Musische betont im Gegensatz dazu das Verbindende. Es befasst sich mit der Sensibilität, die es uns ermöglicht, die Verbindungen zu dem, was uns umgibt, zu erfahren. Stellen Sie sich nur ein Orchester oder einen Chor vor. Im gemeinsamen Musizieren entsteht im Idealfall ein Gesamtklang – eine Musik, in der jeder mit jedem verbunden ist.

O&T: Überall ist die Rede von musikalischer Bildung, es gibt zahllose Projekte und Angebote. Offenbar sehen Sie aber immer noch ein Manko, wenn es um die Bedeutung der musikalischen Bildung geht?

Yoshi Kinoshita. Foto: Bernd Haas

Yoshi Kinoshita. Foto: Bernd Haas

Kinoshita: Ja, ich sehe immer wieder etwas, das ich „Vermaterialisierung“ nenne. Die Kinder sollen Singen lernen, damit sie besser in Mathematik werden oder damit sich das Sprachvermögen verbessert. Ich sehe aber eine andere Ebene, eine Wertigkeit, die eben nicht monetär messbar ist.

O&T: Lässt sich denn diese Ebene in Worte fassen?

Kinoshita: Das ist nicht so leicht. Wir leben in einer Gesellschaft, in der es immer darum geht, besser oder schlechter zu sein als andere. Das erlebe ich häufig auch in der Musik. Im Betrieb der Musikhochschule zum Beispiel spüre ich oft die Angst, Fehler zu machen, anstatt dass man sich freut einen Fehler zu erkennen. Ich erlebe auch bei meinen Kindern im Chor, dass sie Angst haben Fehler zu machen. Mir ist es ein Anliegen, dass sie merken, dass es darum nicht geht. Aber die Angst vor dem Fehler, die Angst „schlechter“ zu sein, sitzt in unserer Gesellschaft sehr tief.

O&T: Wie kann denn musikalische Bildung, wie kann Ihre Arbeit mit Kindern da gegensteuern?

Kinoshita: Singen mit Kindern ist nicht per se gut. Dieses Besser-Schlechter-Denken verschwindet nicht einfach, wenn ich mit Kindern singe. Denken Sie an die Situation bei einem Wettbewerb, bei dem es Punkte gibt. Ich finde es schwierig, die Musik auf messbare Kriterien herunterzubrechen, und fände es spannend, Kriterien zu beschreiben und anzuwenden, die nicht in Punkten messbar sind. Zum Beispiel: Wie schafft es ein Chor, miteinander in Bezug zu gehen? Mit der Musik haben wir ein Medium, das uns dabei hilft.

O&T: Gelingt es Ihnen, dies den Kindern zu vermitteln?

Kinoshita: Das versuche ich. Es hat mit einer besonderen Stimmung zu tun. Das entsteht nicht sofort. Man muss seine Sensoren schon dahin ausstrecken. Für mich ist es – neben dem Wunsch, intonationssicher zu sein – ein Ziel, dass die Kinder spüren, hören und fühlen können, wenn es einen Moment gibt, in dem Musik entstanden ist. Ein solcher Moment entsteht, wenn wir uns auf einer Beziehungsebene aufeinander einlassen, wenn wir mit den Gedanken nicht irgendwo anders sind, wenn wir nicht denken: Ich kann das nicht oder die Melodie oder die Intonation waren falsch. Diese Beziehungsebene ist erst einmal unabhängig von den technischen Fragen. Aber natürlich kann eine reine musikalische Stimmung das unterstützen. Deshalb ist die Technik auch nicht unwichtig. Aber sie darf nicht abgekoppelt existieren.

O&T: Wie schaffen Sie es, solche Momente Sich-Aufeinander-Einlassens in der Probe oder im Konzert herzustellen?

Kinoshita: Ich mache regelmäßig eine Stille-Übung mit dem Chor. Ich lenke die Aufmerksamkeit auf bestimmte Punkte, auf mich oder auf den Klang oder auf die Stille im Raum oder auf das, was im Raum oder außerhalb des Raumes, in dem wir proben, passiert. Das mache ich in jeder Stunde, und die Kinder kennen das. Sie kennen auch den Unterschied: Ob wirklich eine gemeinsame Stille entsteht oder ob es einen Störfaktor gibt. Manchmal entsteht das auch in der Musik. Dieses In-Beziehung-Gehen in der Musik, an dem ich arbeite, entsteht aus dieser Stille.

Haltung ist dabei auch eine wichtige Sache. Die Kinder sollen sich aufrecht setzen, die Füße auf dem Boden haben, ruhig atmen, aber nicht fest sein. Die höchste Kunst ist, wenn man sich total entspannt fühlt und gleichzeitig konzentriert ist. Dann öffnet sich die Wahrnehmung. Das ist eine gute Voraussetzung, um sich aufeinander einzulassen und miteinander Musik zu machen. Es entsteht dabei eine dichte Atmosphäre, die gleichzeitig ganz durchlässig ist.

O&T: Hat das auch etwas damit zu tun, dass Sie den Kindern etwas zutrauen, was ihnen sonst nicht zugetraut wird?

Kinoshita: Ich glaube, dass wir die Jugendlichen ganz oft in ihrer Kompetenz unterschätzen – in dem, was sie verstehen, was sie ausdrücken und in welcher Form sie Verantwortung übernehmen können. Das wird in unserer Gesellschaft sehr vernachlässigt, weil wir ein so verschultes Bildungssystem haben.

O&T: Erlernen sie diese Verantwortung im Chor?

Kinoshita: Das versuche ich. Natürlich bin ich der Boss. Aber die Kinder, die teilweise schon lange dabei sind, entwickeln mit der Zeit ein Gewicht, eine Bedeutung und auch eine unglaubliche Kraft. Die Gruppe der Grundschulkinder kann ich noch fast alleine führen. Sie sitzen auf dem Karren, und ich ziehe den Karren. Wenn sie aber mit 14 oder 15 Jahren an Persönlichkeitsgewicht zugenommen haben und immer noch auf diesem Wagen sitzen, habe ich allein keine Chance.

O&T: Wie können Sie als Chorleiter da einhaken? Wo und wie finden Sie den Punkt, den Kindern beizubringen, diese Kraft zu nutzen und Verantwortung zu übernehmen?

Kinoshita: Ich mache ihnen klar, dass ich es alleine nicht kann. Ich stelle mich hin und sage: Ich kann euch jetzt nicht mehr ziehen. Ihr müsst vom Wagen heruntersteigen und schieben oder vorne mitziehen. Außerdem gebe ich ihnen Aufgaben. Dann muss ich natürlich auch zugestehen, dass sie mitentscheiden.

O&T: Mitentscheiden, was gesungen wird?

Kinoshita: Ja. Außerdem fördere ich im Chor die Hierarchie unter den Kindern unterschiedlichen Alters. Das hat möglicherweise auch mit meinem japanischen Erbe zu tun, weil das in Japan sehr stark ist. Die Kinder, die neu in den Chor kommen, lernen, sich an die Struktur, an die Atmosphäre, an das Miteinander, das die Großen vorleben, anzupassen. Damit gebe ich den Älteren Verantwortung für die Jüngeren.

Kinderchor Wolfratshausen in Brixen. Foto: Gregor Miklik

Kinderchor Wolfratshausen in Brixen. Foto: Gregor Miklik

Wenn ich eine Probenwoche habe, dann überlasse ich den Jugendlichen oft die Stimmprobe. Dann lasse ich den Raum frei; sie arbeiten alleine und anschließend zeigen sie mir, was sie gemacht haben. Oft ist es so, dass sie einen anderen Fokus gesetzt haben als ich und dass dann auf einmal etwas besser geworden ist, etwas, an dem ich vorher nicht gearbeitet habe. Dann merken die Kinder, was möglich ist.

O&T: Ihre Skepsis in Bezug auf das Wettbewerbsdenken leuchtet mir ein. Auf der anderen Seite steht das Ziel, gut zu sein, auch als Chor gut zu sein, also Qualität anzustreben.

Kinoshita: Daran zu arbeiten, dass etwas wirklich „gut“ ist, ist etwas ganz anderes, als die Intention: Ich will besser sein.

O&T: Die Qualität beim Singen ist Ihnen wichtig. Gleichzeitig gibt es bei Ihnen keine Aufnahmeprüfung, kein Auswahlverfahren. Jeder darf mitmachen. Wie kann denn diese Qualität trotzdem entstehen?

Kinoshita: Ich habe viele Kinder, die den Ton nicht halten können. Diese Schwierigkeiten sind selten organisch. Oft liegt der Grund darin, dass sie es als Kleinkinder einfach nicht gelernt haben. Das Singen später zu lernen ist schwieriger. Das macht aber nichts. Einer meiner Grundsätze lautet: Freude kommt vor dem Können. Aber natürlich kann durch das Können auch eine Freude entstehen. Für mich ist wichtig, dass die Kinder im Chor lernen, was sie können und was sie nicht können. Und dass sie lernen, was die anderen können und nicht können; dies zu akzeptieren und damit umzugehen. Eine Sängerin, die größere Schwierigkeiten hat, steht neben der sichersten, die eine schöne, klare und präsente Stimme hat. Dieses Kind lernt, sich im Wesentlichen an der anderen zu orientieren.

„Wir dürfen die Deutungshoheit nicht den Leuten überlassen, die nur mit dem Rechenschieber umgehen. Wir müssen unsere eigenen Wertmassstäbe entwickeln.“

O&T: Wie arbeiten Sie denn stimmlich mit den Kindern?

Kinoshita: Wenn die Kinder in die erste Chorstufe kommen, singen sie teilweise kreuz und quer durcheinander. Ich fange nicht zu früh an, den Kindern das Gefühl zu geben, dass sie einen falschen Ton singen. Da sind wir wieder beim Thema „Falsch – Richtig“ und „Besser – Schlechter“. Natürlich ist mein Ziel ganz klar, dass sie eine Melodie sauber nachsingen können. Aber wenn sie kommen, kann es sein, dass sie zwar Lust und Freude haben, sich stimmlich auszudrücken, aber keine „gehirnliche“ Struktur, mit der sie das, was sie hören, auf die Stimme übertragen können. Trotzdem haben sie Spaß, und das lasse ich erst einmal so. Diese Freude fördert auch wiederum die Stimme. Das ist also eine Stimmbildung ohne reinen Fokus auf den richtigen Ton.

Am Anfang kann es also sein, dass es total durcheinander geht. Das kann an einem Aufmerksamkeitsdefizit liegen oder daran, dass die Randschwingungen in der Stimme nicht funktionieren. Ich höre aber bald, welche Kinder richtig sauber singen können. Dann bitte ich solch ein Kind, den anderen vorzusingen. Die Kinder müssen lernen, sich gegenseitig und sich selbst zuzuhören, um dann mit Übung zu einem gemeinsamen Ton zu finden. Das Dreieck zwischen Gehör, Gehirn und Stimme muss sich immer besser entwickeln. Je besser das funktioniert, desto mehr habe ich Kinder, die in jeder Lage sauber singen können und auch gut hinhören.

O&T: Es hört sich so an, als ob Ihr Erfolg in der Kinderchorarbeit nicht nur mit der musikalischen Qualität zu tun hat, sondern auch sehr viel mit Psychologie. Kann man diesen Umgang mit den Kindern lernen?

Kinoshita: Ich denke schon. Ich unterrichte Kinderchorleitung an der Hochschule für Musik und Theater in München. Ich reflektiere sehr viel mit den Studierenden, was passiert. Wichtig ist zu lernen, dass die Reaktion der Kinder immer ein gewisser Spiegel ist für das, was man selber ausstrahlt. Ich finde, dass die pädagogische Ausbildung bei uns im Vergleich mit den therapeutischen Berufen viel zu wenig Selbstreflektion enthält. Wir können nicht alle Heilige werden, aber wir müssen lernen, unsere Themen zu erkennen und damit umzugehen.

O&T: Zurück zum Beginn unseres Gesprächs: Was muss konkret passieren, damit die musikalische Bildung die Wertigkeit bekommt, die ihr zusteht?

Kinoshita: Ich finde es wirklich schwierig, diese Wertigkeit an die richtige Stelle zu rücken. Wir haben einen großen Reichtum des kulturellen Lebens hier in Deutschland. Gleichzeitig erleben wir ein auf Leistung, auf Effizienz, auf Messbarkeit ausgerichtetes Verständnis unseres Miteinanders. Ich frage mich: Müssen wir in diesen musischen Bereichen auf eine bestimmte Art und Weise politischer werden? Müssen wir nicht dagegen kämpfen, dass wir mit einem Federstrich rausgestrichen werden können, weil wir nicht in diesem Sinne effizient sind, nicht in diesem Sinne Leistung oder Geld bringen? Müssen wir nicht dagegen kämpfen, dass wir abgedrängt werden, und müssen wir nicht stattdessen den Bereich klar definieren, der außerhalb davon verortet ist und eben einen eigenen Wert hat?

Ich erlebe etwas, das ich eine selektive Empathiefähigkeit nenne. Wir erkennen nicht, dass wir alle in einem Boot sitzen, sondern beschränken uns in unserer Empathie auf bestimmte Gruppen, unsere Familie, unsere Landsleute... Das ist auch schon eine politische Aussage. Aber genau solche Dinge können durch gemeinsames Singen verändert werden. Deshalb muss die musische Bildung unser menschliches Dasein mitprägen, damit wir als Gesellschaft gesund sind.

O&T: Aber für diese Qualität wiederum einen „messbaren“ Maßstab zu finden, ist schwierig.

Kinoshita: Ja, das ist richtig, aber ich habe das Gefühl, dass wir uns darum kümmern müssen. Wir dürfen diese Deutungshoheit nicht den Leuten überlassen, die nur mit dem Rechenschieber umgehen. Wir müssen unsere eigenen Wertmaßstäbe entwickeln und diese Werte beschreiben.

O&T: Politisch sein heißt dann auch: nicht aufzuhören, dafür zu kämpfen, auch dann nicht, wenn Gegenwind kommt. Denn es wird viele Menschen geben, die sagen: Das lässt sich eben nicht messen, deshalb ist es Unsinn.

Kinoshita: Genau um diese politische Dimension geht es mir. Wir müssen selbst genau wissen, wovon wir reden und das dann wirklich vertreten. Auf diese Art und Weise politisch zu sein ist sicher eine wichtige Aufgabe für die Zukunft.

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