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Berichte

Romantische Kantilenen und schrille Tonmalerei

Uraufführung von Ludger Vollmers »Tschick« in Hagen

Der Mann hat ein Händchen für filmreife Stoffe: Mit seinen Opern „Gegen die Wand“ und „Lola rennt“ hat sich der Komponist Ludger Vollmer als Spezialist für filmisch gedachte Genres etabliert. Und auch die erst im Januar 2017 in Freiburg uraufgeführte Oper „Crusades“ bestätigte Vollmers Hang zu aktuellen, temporeichen, brisanten und nicht zuletzt publikumswirksamen Stoffen. Die Oper „Tschick“, frisch uraufgeführt am Theater Hagen, ist sein neuester Coup. Schon die Verkaufszahlen des Romans waren sensationell, auch als Theaterstück hat „Tschick“ lange Zeit die Statistiken angeführt, und die Filmversion von Wolfgang Herrndorfs Jugendroman hat ebenfalls ein beachtenswertes Publikum gefunden. Die Oper ist da nurmehr ein weiteres Glied in der medialen Verwertungskette dieser Erfolgsgeschichte.

Ob diese ein ähnlich durchschlagender Erfolg wird, darf zumindest bezweifelt werden. Das liegt schon in der Natur der Gattung, aber auch das zweifelsohne gefällige und überaus eingängige Opus Vollmers bietet Anlass zum Zweifeln. Grundsätzlich hüllt er das Libretto in ein durchaus gefälliges Klanggewand. Sein Stil ist stets polyglott, stilistisch ungeheuer vielseitig und musikalisch sehr anpassungsfähig. Romantisch angehauchte Kantilenen findet man hier genauso wie schrille Tonmalerei, humorvoll Parodistisches und mal mehr, mal weniger subversive Provokationen. Nur selten jedoch vermag die Musik die Atmosphäre in einer derart kongenialen Art und Weise zu verdichten, dass jener Theaterzauber entsteht, der das Genre Oper letztendlich auszeichnet. Das in „Tschick“ zu hörende handwerkliche Können Vollmers und seine aus der Konzeption des Werkes sprechende Erfahrung sind unbestritten, wirklich überspringen tut der Funke indes eher selten.

Karl Huml als Tschick, Sophia Leimbach, Dorothee Ueter und Diatra Zulaika als Krankenschwestern. Foto: Klaus Lefebvre

Karl Huml als Tschick, Sophia Leimbach, Dorothee Ueter und Diatra Zulaika als Krankenschwestern. Foto: Klaus Lefebvre

Ohnehin ist es eigentlich ein Ding der Unmöglichkeit, einen Text wie „Tschick“ von Wolfgang Herrndorf auf eine Opernbühne zu bringen. Hier tobt das pralle Leben in all seinen Facetten, es findet sich ein grelles Panoptikum der menschlichen Schrulligkeiten und gesellschaftlichen Tabus, der gescheiterten Existenzen und des erträumten Aufbruchs in eine ungewisse Zukunft. Herrndorf hat den Nerv einer ganzen Generation mit einer außergewöhnlichen Mischung aus Witz und Tiefsinnigkeit getroffen und zwischen zwei Buchdeckel gepresst. Das dramaturgische Tempo ist rasend schnell, die Probleme, die es mit den Mitteln der Oper zu lösen gilt, sind geradezu erdrückend.

Am Theater Hagen versucht man sich zumindest daran. Das rasante Tempo des Buches hat man für die Opernbühne adaptiert: Im Libretto von Tiina Hartmann wird der Text gestrafft und der dramaturgische Bogen komprimiert. Das hat durchaus etwas Zeitgeistiges, was dem Buch entspricht: schnelle Schnitte, rasante Bildwechsel, temporeiche Action. In gut zwei Stunden Spieldauer werden 29 Szenen abgearbeitet. Manche dauern wirklich nur wenige Sekunden. Reflektierende Momente, in denen oft der Chor als übergeordnete gesellschaftliche Instanz ins Spiel kommt, gibt es nur selten. Und wenn es sie gibt, dann sind sie genauso wie alle Szenen ratzfatz vorbei.

Chor und Extrachor des Theaters Hagen, die unter anderem als Schweinehorde über die Bühne robben müssen, sowie die Sängerinnen der Solistenklasse des Kinder- und Jugendchores am Hagener Theater machen ihre Sache ausgezeichnet.

Das ist auch das wesentliche Manko dieser eigentlich überaus unterhaltsamen und kurzweiligen Oper. Schon der Filmversion von Fatih Akin wurde vorgeworfen, Herrndorfs Text nur allzu brav zu bebildern. Komponist Vollmer und Librettistin Hartmann tappen leider in die gleiche Falle. Denn obwohl das Libretto den Text sprachlich gekonnt verdichtet, das dramaturgische Grundproblem einer genuin operngerechten Realisierung des temporeichen Originaltextes löst es nicht. Zu sehr will man das dramaturgische Tempo des Romans auf Opernformat trimmen, zu wenig besinnt man sich dabei jedoch auf die besonderen Eigenheiten dieser Gattung. Hier wird künstlerisch nichts verdichtet, sondern nur möglichst detailgetreu abgebildet. Immerhin findet Roman Hovenbitzer, der Regisseur des Abends, wie so oft originelle Lösungen für die vielfältigen szenischen Herausforderungen dieses Stoffes und dirigiert das temporeiche Bühnengeschehen mit geübter Hand. So ist etwa die Verfolgungsjagd des Autos der beiden Protagonisten mit einem Schweinelaster und der daraus resultierende Crash gekonnt inszeniert. Viel wird auch mit Projektionen im Comic-Stil gearbeitet, mit Lichteffekten und szenischen Andeutungen.

Auf der Fahrt ins Ungewisse: Andrew Finden (Maik), Karl Huml (Tschick). Foto: Klaus Lefebvre

Auf der Fahrt ins Ungewisse: Andrew Finden (Maik), Karl Huml (Tschick). Foto: Klaus Lefebvre

Das angesichts der zuweilen phonstarken Musik gelegentlich verstärkte Ensemble löst alle Aufgaben absolut bravourös, schauspielerisch wie sängerisch. Allen voran die überragenden Hauptdarsteller Andrew Finden als Maik und Karl Huml als Tschick. Ihre Rollen verkörpern beide trotz ihres gewiss nicht mehr jugendlichen Alters mit der nötigen Mischung aus einer Portion Coolness und darstellerischer Erfahrung. Kristine Larissa Funkhauser hinterlässt als rotzfreche Isa einen großartigen Eindruck, ebenso wie die zahlreichen gut besetzten Nebenrollen (vor allem Heikki Kilpeläinen in mehreren Rollen). Auch Chor und Extrachor des Theaters Hagen, die unter anderem als Schweinehorde über die Bühne robben müssen, sowie die Sängerinnen der Solistenklasse des Kinder- und Jugendchores am Hagener Theater machen ihre Sache ausgezeichnet. Das Philharmonische Orchester Hagen erweist sich unter der Leitung von Florian Ludwig, der stets alle Fäden sicher in der Hand hält, als überaus versatiler Klangkörper, der das ganze musikalische Spektrum von Vollmers Partitur von seichten Pop-Anklängen bis hin zu knackig-modernistischen Attacken gekonnt zu bedienen weiß. Die Reaktion des Premierenpublikums in Hagen war freundlich begeistert, aber nicht überschäumend.

Guido Krawinkel

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