Berichte
Halb gotische, halb ultra-moderne Kunst
Wieder eine Tournemire-Uraufführung am Theater Ulm
Es gibt sie noch, die Trüffelschweine unter den Intendanten, die für eine Sache brennen, sich vertiefen und nicht lockerlassen. Kay Metzger, Intendant des Theaters Ulm, ist so einer. Mit der Oper „Le petit pauvre d’Assise“ von Charles Tournemire hat Metzger nun schon das zweite szenische Werk des französischen Komponisten ausgegraben und uraufgeführt.
In der Spielzeit 2022/23 hatte man das 1926 vollendete Opus „La Légende de Tristan“ auf die Bühne gebracht, nun war Tournemires wiederum von Michael Weiger hergerichtete und edierte Franziskus-Oper an der Reihe. Der SWR hat wieder mitgeschnitten, und passend zur Premiere konnte Metzger berichten, dass Tournemires Tristan-Oper bald auf CD erscheinen wird. Eine Großtat! Die Oper über den Heiligen Franziskus ist das 1939 vollendete letzte Werk des 1870 geborenen Komponisten. Kaum vier Wochen nach Vollendung der Partitur ist Tournemire unter mysteriösen Umständen im Atlantik ertrunken, so dass selbst mit dessen Schaffen Vertrauten wie Olivier Messiaen, der im Übrigen nicht – wie vielfach kolportiert – ein offizieller Schüler Tournemires war, das Werk völlig unbekannt geblieben ist.
Ein Schlüsselkomponist
Tournemire kann mit Fug und Recht als Schlüsselkomponist zwischen den Generationen von César Franck und Messiaen angesehen werden. Im Grunde genommen ist er einer der entscheidenden Links zwischen dem spätromantischen Melos des „Pater seraphicus“ Franck und der stilistischen Singularität eines Messiaen mit seinem von der katholischen Theologie durchdrungenen Œuvre. Bei Tournemire findet sich beides, wiewohl der ebenso erzkatholische wie eigensinnige Geist stets völlig unbeirrt von den Strömungen der Zeit seinen eigenen Weg gegangen ist. Die stilistische Einzigartigkeit der Musik Tournemires wird in seiner Franziskus-Oper deutlich. Mal besteht die gigantische Partitur aus nichts anderem als monodisch verdichteten Melodiegirlanden (sogenannte „Guirlandes alleluiatiques“ hat Tournemire zum Beispiel oft in „L’Orgue Mystique“ verwendet), mal hört man süffigste Klänge à la Messiaen. In ihrer besonderen stilistischen Ausprägung ist Tournemires Musik jedoch ein Unikum.

Tournemire, „Le petit pauvre d’Assise“ mit Jean-Baptist Mouret, Michael Burow-Geier, David Pichlmaier, Markus Francke und der Statisterie des Theaters Ulm. Foto: Jochen Quast.
Musikalisch erfährt der Ulmer Premierenabend eine enorme Steigerung. Zu Beginn hört man das Orchester der Stadt Ulm noch deutlich mit der an dieser Stelle selbst für Tournemires Verhältnisse arg sperrig wirkenden Partitur kämpfen. Der Komponist macht es Ensemble und Orchester nicht leicht. Doch der sehr engagiert dirigierende Ulmer GMD Felix Bender reißt „sein“ Orchester förmlich mit und bindet auch das Ensemble auf der Bühne vorbildlich ein. Er verdichtet die Musik selbst an den Stellen zu Momenten höchster Intensität und Stringenz, an denen Tournemire die Partitur bis auf völlig nackte Melodielinien ausdünnt, was wiederum mit Kay Metzgers symbolhafter, aber mehr und mehr packender Inszenierung kongruent geht.
Symbolhaftes Drama
Metzger zeichnet den Weg des arroganten Schnösels aus reichem Hause zum Stigmatisierten in durchaus schlüssiger Weise nach, obwohl die frömmelnde Romanvorlage des Mystikers und Rosenkreuzers Joseph Péladan Stationen aus Franziskus’ Leben zwar episodenhaft schildert, im Grunde genommen aber keinen wirklich dramatischen Plot bietet. Metzger findet aber immer wieder sinnige und am Ende sogar zutiefst ergreifende Bilder, die den Wandel von irdischem Bling-Bling, das etwas schrill in knalligem Pink in Szene gesetzt wird, zu überhöhender himmlischer Verklärung in treffender Weise illustrieren und verdichten. Das Empfangen der Wundmale Christi – der dramatischste Moment der Oper – ist so eine Szene, ebenso der Einfall, den schon entrückten Franziskus seine letzten Sätze aus dem Off singen zu lassen, oder die Szene, in der Franziskus allen weltlichen Plunder samt jeglicher ihm aufgepfropfter Erwartungen wie Jesus die Händler im Tempel barsch zurückweist. Dazu lächelt auch Papst Franziskus von einem Bild an der stilisierten Portiunkula-Kapelle, der Sterbekapelle des Heiligen von Assisi. Es ist eine rührende Szene, auch weil Papst Franziskus der Uraufführung von Tournemires Franziskus-Oper noch wenige Wochen vor seinem Tod den Segen erteilt hat.
Mit seiner inszenatorischen Handschrift bleibt Metzger sich zudem treu: schon die Sagengestalt des Tristan in Tournemires gleichnamiger Oper hatte er aus ihrer ursprünglichen zeitlichen Verortung herausgelöst und in die Neuzeit verpflanzt. Bei Franziskus wird aus dem Mittelalter ein zeitloses, aller zu konkreten Verortung weitgehend enthobenes Kontinuum, was sich auch im symbolhaft reduzierten Bühnenbild (Ausstattung: Heiko Mönnich) zeigt. In Metzgers Inszenierung wird Franziskus allerdings am Ende von seinen Weggefährten im Stich gelassen, nur seine Gefährtin Klara bleibt bis zum Schluss an seiner Seite – doch ist das nur die halbe Wahrheit. Mit dem Orden der Franziskaner hat er schließlich eine Bewegung in die Welt gesetzt, die seinen Idealen der Armut, des Mitgefühls und der Hingabe an andere bis heute verpflichtet ist.
Erfreulich: die vokale Seite
Sängerisch ist der Premierenabend überaus erfreulich. Der von Nikolaus Henseler einstudierte Chor, aus dem auch einige kleinere Rollen besetzt sind, hat nicht viel zu tun, macht seine Sache aber vorbildlich. Sehr charakteristisch sind hier die schrill gekleideten und extrovertiert agierenden Musen besetzt und auch das archaische Magnificat der Mönche bei Klaras Berufung ist ebenso gewichtig wie profund. Samuel Levine als Franziskus macht seine Sache großartig. Er verkörpert den Franziskus in all seinen zum Teil widersprüchlichen, aber eben auch zutiefst menschlichen Facetten ausgesprochen vielschichtig, mit bestechender Präsenz, darstellerisch wie stimmlich schlichtweg herausragend. Ein Ereignis und zweifellos der stärkste Sänger des Abends!
Auch Maryna Zubko als seine Gefährtin Klara macht mit ihrem berückenden Sopran eine außergewöhnlich gute Figur und zeigt darstellerisches Gewicht. Ferner tragen die mit Milcho Borovinov als Guidoy, Cornelius Burger als Bernadone, Dae-Hee Shin als Favarone und Markus Francke als Bernard exzellent besetzten Nebenrollen und alle anderen Mitglieder des Ensembles zum Gelingen dieser alles in allem denkwürdigen Aufführung bei. Man kann es nicht anders sagen: Was da gerade in Ulm passiert, ist musikhistorisch betrachtet eine Sensation.
Immaterielle Einbildungskraft
„Die immaterielle Einbildungskraft seiner Rhythmen, die Überfülle seiner Klänge, die wechselnden Schimmer seiner chamäleonhaften Modi, die Edelsteine seiner Mixturen und besonders der glückliche und anmutige Einfallsreichtum seiner alleluiatischen Melodien, die die Materie mit der Flüchtigkeit der verklärten Leiber zu durchdringen scheinen, machen daraus eine wunderbare halb gotische, halb ultra-moderne Kunst von betörendster Schöpferkraft.“
Dies sagte Messiaen, der am Ende seines Schaffens ja ebenfalls eine Franziskus-Oper komponiert hat, über Tournemires Zyklus „L’Orgue Mystique“, der zwischen 1927 und 1932 entstand. Auf Tournemires „Le petit pauvre d’Assise“ trifft das zweifelsohne ebenfalls zu.
Guido Krawinkel |