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„What the hell is going on here?!“

Auf ein Wort mit Tobias Kratzer und Omer Meir Wellber

Im Gespräch mit Stefan Moser und Rainer Nonnenmann

Der Regisseur Tobias Kratzer und der Dirigent Omer Meir Wellber werden ab 1. August 2025 Intendant der Staatsoper Hamburg beziehungsweise Generalmusikdirektor der Staatsoper Hamburg und des Philharmonischen Staatsorchesters Hamburg. Sie treten die Nachfolgen von Georges Delnon beziehungsweise Kent Nagano an. Die Position von John Neumeier als Intendant des Hamburg Ballett hatte Demis Volpi bereits 2024 übernommen. Kratzer wurde 1980 in Landshut geboren, hat Kunstgeschichte, Philosophie und Wissenschaftstheorie in München und Bern sowie Opern- und Schauspiel-Regie an der Theaterakademie August Everding studiert. Er inszenierte an international bedeutenden Häusern und wurde mehrfach als bester Regisseur ausgezeichnet: 2018 mit dem Theaterpreis DER FAUST und 2020 und 2024 mit dem OPER!-award. In der Kritikerumfrage der Zeitschrift OPERNWELT wurde er zum „Regisseur des Jahres 2020“ gewählt; seine Inszenierung von „Tannhäuser“ bei den Bayreuther Festspielen 2019 und „Die Passagierin“ an der Bayerischen Staatsoper jeweils zur „Inszenierung des Jahres“. Omer Meir Wellber wurde 1981 in Be’er Sheva/Israel geboren. Er studierte dort und in Jerusalem Komposition und Dirigieren, war Assistent von Daniel Barenboim an der Staatsoper Berlin und an der Mailänder Scala. Anschließend wirkte er als Erster Gastdirigent der Semperoper Dresden und Chief Conductor des BBC Philharmonic. Er gastiert weltweit bei renommierten Opernhäusern und Orchestern. Die vergangenen Jahre war er Musikdirektor an der Volksoper Wien und bis Dezember 2024 Music Director des Teatro Massimo in Palermo.

Oper & Tanz: Herr Kratzer, Sie haben lange freischaffend als Regisseur gearbeitet. Das war eine künstlerisch erfüllende und erfolgreiche Zeit. Warum binden Sie sich jetzt als Intendant an die Hamburgische Staatsoper?

Tobias Kratzer: Als ich die Anfrage der Findungskommission bekam, war ich überrascht, weil ich tatsächlich in Hamburg noch nie inszeniert hatte und das Haus aus der Innensicht noch nicht kannte. Das Interesse und Vertrauen, das mir entgegengebracht wurde, fand ich aber so positiv, dass ich mich einen Sommer lang mit der Geschichte und dem Profil des Hauses beschäftigt habe, mich also gefragt habe, was ist die DNA des Hauses, wohin kann man es führen? Ich habe dann ein Konzeptpapier ausgearbeitet und präsentiert, was auf so positiven Widerhall stieß, dass direkt mit mir als Kandidat weiterverhandelt wurde. Ich habe als freier Regisseur unter 36 Intendant:innen gearbeitet und mir dabei immer auch abgeschaut, was hier und da gut läuft oder was man besser machen kann.

Tobias Kratzer und Omer Meir Wellber. Foto: Stern/Anne Hamburger

Tobias Kratzer und Omer Meir Wellber. Foto: Stern/Anne Hamburger

Ich fand es immer spannend, wenn regieführende Intendanten auf der Höhe ihrer Möglichkeiten ein Haus übernehmen und das nicht erst als ein Abklingbecken verwenden, wenn sie künstlerisch bereits ausgezehrt sind. Für mich ist das nun genau dieser gute Moment. Nach den Abgängen von Jossi Wieler in Stuttgart und Barrie Kosky in Berlin wird kein Haus der Deutschen Opernkonferenz – dem Zusammenschluss der größten deutschen Häuser – von einem Künstlerintendanten oder einer Künstlerintendantin mehr geleitet, weder als Dirigent:in noch als Regisseur:in. Ich habe gar nichts gegen Manager:innen oder Dramaturg:innen, aber ich sah mich da auch für die ganze Branche in einer gewissen Verantwortung, um wieder ein bisschen mehr Diversität herzustellen. Und ich habe das Gefühl, dass es für ein Haus ein gesunder Wechsel ist, wenn Intendanzen wirklich künstlerisch in das Haus hinein prägend wirken und dann wieder Intendanzen folgen, die ein bisschen mehr von außen beobachten und neu justieren.

O&T: Herr Wellber, Sie gastieren international bei verschiedenen Orchestern und Opernhäuser. Warum binden Sie sich jetzt als GMD an Hamburg?

Omer Meir Wellber: Binden ist ein schönes Wort, das genau beschreibt, wonach ich suche. Ich bin jetzt 43 Jahre alt und arbeite seit über zwanzig Jahren als Dirigent mit verschiedenen Orchestern, mit denen ich immer wieder weitgehend von vorne anfangen muss. Bei der BBC, in Palermo und an der Volksoper Wien habe ich gute Erfahrungen gemacht, wie es ist, sich an ein Orchester oder Haus zu binden, um kontinuierlich zusammen zu arbeiten. Es ist immer auch der Versuch, mit den Musikern eine musikalische Freundschaft zu etablieren. Das braucht Zeit, Commitment oder nennen Sie es Bindung. Genau das schwebt mir natürlich auch für meine Zusammenarbeit mit dem Philharmonischen Staatsorchester in Hamburg vor.

O&T: Welchen Kurs möchten Sie beide in Hamburg einschlagen? In den Presseerklärungen zu Ihrer Berufung ist von „überraschender Rekombination“ und „gemeinsamem Ensemblegeist“ die Rede. Was heißt das konkret?

Kratzer: Das betrifft programmatisch die Auswahl der Stücke. Es wird zum Beispiel einen Abend „Frauenliebe und -sterben“ geben, der in einer Art Trip­le-Feature Schumanns Liederzyklus „Frauenliebe und -leben“ kombiniert mit Bartóks „Herzog Blaubarts Burg“ und Zemlinskys „Eine Florentinische Tragödie“, so dass sich die drei Werke inhaltlich gegenseitig beleuchten. Der Text von Schumanns Liedern kann heutigen Zuschauern und noch mehr Zuschauerinnen als schwierig aufstoßen, wenn er im Liederabend unkommentiert bleibt und nicht, wie wir das versuchen, szenisch als Rollenprosa neu gerahmt und erschlossen wird. Es geht nicht darum, bestehende Werke zu dekonstruieren, sondern aus Bestehendem etwas Neues zu kreieren. Ich habe beispielsweise auch den Schauspielregisseur Christopher Rüping gebeten, zusammen mit unserem neuen GMD einen Abend zu machen, der aus unbekannten Musiken von Mozart etwas Neues montiert. Das meine ich mit „überraschender Rekombination“. Auch so kann man das Repertoire erweitern. Es müssen nicht immer die vierzig meist gespielten Opern oder Neuentdeckungen integraler Werke sein. Und was den „Ensemblegeist“ betrifft, so haben wir in Hamburg ein Ensemble von 24 Sängerinnen und Sängern, von denen ich gar nicht so viele ausgetauscht habe, weil ich den Eindruck hatte, das ist schon ein tolles Ensemble, das man sehr spannend weiterentwickeln kann. Da ich mit allen künstlerisch arbeiten werde, möchte ich einen Spirit entwickeln, wie man von der kleinsten Bewegung und Mikrostruktur einer Probe bis zum großen Denken über das gesamte Haus miteinander umgeht.

O&T: Beide haben Sie die besondere Verbindung von Tradition und Avantgarde in Hamburg herausgestellt. Wie bringen Sie beides in Konzert und Oper zusammen?

Omer Meir Wellber. Foto: Hilde Van Mas

Omer Meir Wellber. Foto: Hilde Van Mas

Wellber: „Neue Musik“ war zu Beginn des 20. Jahrhunderts ein sehr wichtiger Aufbruch. Ihre Radikalität stellt uns bis heute vor die herausfordernde Frage, was Avantgarde heute überhaupt sein kann. Vielleicht findet sie künftig stärker im Denken statt – weniger als bloßer Widerstand gegen Bestehendes. Von Arnold Schönberg über Pierre Boulez bis zu anderen prägenden Stimmen hat die Avantgarde nicht nur unvergessliche Werke hervorgebracht, sondern auch ein Spannungsverhältnis zum Publikum erzeugt. Das geschah allerdings nicht ohne Risiko: Die Konfrontation war so heftig, dass die sogenannte klassische Musik viele Menschen – und damit auch einen Teil ihrer gesellschaftlichen Relevanz – verloren hat. Eine zentrale Idee unserer Konzertprogramme in Hamburg ist nun, neue Kontexte zu schaffen. Denn auf den Kontext kommt es schlussendlich an, er kann die Freude, den Spaß an der Musik und die Liebe zu ihr zurückbringen, wenn wir uns in diesem Kontext selbst wiederfinden und damit auch zu der Musik einen Bezug entwickeln.

O&T: Wie stellen Sie sich das konkret vor?

Wellber: Wir haben für unsere zehn Sinfoniekonzerte zehn neue Stücke bei zehn Komponistinnen und Komponisten aus zehn verschiedenen Ländern in Auftrag gegeben – die natürlich kontextbezogen arbeiten. Das wird sehr aufregend, auch weil es nicht ohne Risiko ist. Aber das Konzerthaus darf kein Museum sein, wo wir genau wissen, was wir mit unserer Eintrittskarte gekauft haben. Gewohnheit oder auch Erwartbarkeit sind unsere größten Feinde. Deswegen haben wir uns dazu entschlossen, in vielen sehr bekannten Werken plötzlich neue Musik zu integrieren, etwa in Beethovens „Pasto­rale“ einen neuen vierten Satz. Dadurch entsteht eine ganz andere Musikerfahrung: nicht nur durch die neue Komposition selbst, sondern auch dadurch, dass das vermeintlich Bekannte in neuem Licht erscheint. Vielleicht werden wir dadurch die „Pastorale“ auf eine Art wahrnehmen, die wir noch nicht erlebt haben.

Allen Komponistinnen und Komponisten habe ich vorgegeben, dass ihre Stücke die gleiche Anzahl an Takten und auch eine Verbindung zum jeweiligen bekannten Komponisten und Werk haben müssen. Das wird ein spannendes Experiment, wenn Hilary Hahn das Violinkonzert von Max Bruch mit einem völlig neuen ersten Satz beginnt, oder wenn es zu den alten Texten der Lieder von Mahler neue Musik von Ella Milch-Sheriff gibt oder neue Texte zu den alten Liedern, oder wir Prokofjews  „Peter und der Wolf“ mit neuem Text für Erwachsene im Tivoli-Theater aufführen.

Kratzer: Ich möchte, dass es jedes Jahr eine große Uraufführung gibt, schließlich gehört die neue Musik zur DNA des Hauses, man denke daran, welche maßgeblichen Werke hier schon uraufgeführt wurden: Lachenmanns „Mädchen mit den Schwefelhölzern“, Henzes „Prinz von Homburg“, Kagels „Staatstheater“, Wolfgang Rihms „Die Eroberung von Mexiko“. Daran möchte ich anschließen, auch bei Kinderopern. Es soll nicht bloß die „Zauberflöte“ für Kinder geben, sondern ich eröffne mit einer zeitgenössischen Kinderoper von Iris ter Schiphorst, weil Kinder sofort mitbekommen sollten, dass Komponist:innen noch leben und auch weiblich sein können. Auch „Stockhausen für Kinder“ wird es geben, damit neue Musik nicht in so einer nerdy Nische bleibt, sondern immer auch eine Art von Public Appeal hat und Spaß macht, auch Leuten, die sonst gar nicht auf die Idee gekommen wären, sich Stockhausen anzuhören.

O&T: Wie verhalten sich in Hamburg Ballett und Staatsoper zueinander?

Kratzer: Das Ballett ist komplett eigenständig und steht allein unter der Verantwortung von Demis Volpi, der letztes Jahr John Neumeier nach dessen 51-jähriger Amtszeit abgelöst hat. Wir werden uns selbstverständlich besprechen und gegebenenfalls gemeinsame Projekte entwickeln. Wir haben für meine erste Hamburger Spielzeit 2025/26 alle Jahresvorschauen wieder in einem gemeinsamen Programmbuch zusammengelegt, nachdem es zwischenzeitlich fünf verschiedene Broschüren für Oper, Ballett, Orchester, Jugendprogramm und Abonnements gab. Auch die bisherigen drei Websites wurden wieder auf einer Homepage zusammengebracht.

O&T: Herr Wellber, wie stark ist Ihre Affinität zum Tanz? Planen Sie gemeinsame Projekte mit dem Ballett Hamburg?

Kampagnenfoto zur Eröffnungspremiere der Saison am 27. September 2025 mit Robert Schumanns „Das Paradies und die Peri“ in der Inszenierung von Tobias Kratzer unter musikalischer Leitung von Omer Meir Wellber. Foto: Hilde Van Mas

Kampagnenfoto zur Eröffnungspremiere der Saison am 27. September 2025 mit Robert Schumanns „Das Paradies und die Peri“ in der Inszenierung von Tobias Kratzer unter musikalischer Leitung von Omer Meir Wellber. Foto: Hilde Van Mas

Wellber: Ja, absolut, Demis Volpi und ich haben viel miteinander gesprochen. Er kam ein Jahr vor uns nach Hamburg und hatte seine Spielzeit schon programmiert, deswegen gibt es in meiner ersten Spielzeit noch keine Zusammenarbeit. Doch in den darauf folgenden möchten wir immer etwas zusammen auf die Bühne bringen. Ich kenne die Ballette von John Neumeier und natürlich viel von dem Standardrepertoire. Da werden sich sicherlich schöne Möglichkeiten ergeben, mit dem Ballett zusammenzuarbeiten. Meine Verbindung zum Tanz ist stark – schon im Alter von fünfzehn oder sechzehn Jahren war ich Pianist für Tanzklassen, und seitdem hat mich Tanz nie losgelassen.

O&T: Wie begeistern Sie neues Publikum, jung oder alt, für neue und klassische Musik?

Wellber: Wir dürfen nicht vergessen, dass auch die alte Musik einmal neu war. Es geht mir um Dialoge zwischen fantastischen toten Komponisten der Vergangenheit und lebenden von heute. Und der Dialog entsteht, wenn wir dieselbe Sprache sprechen oder in einem gemeinsamen Raum sind. Deswegen habe ich etwa den Komponisten und Pianisten Stephen Hough aus den USA mit Beethovens drittem Klavierkonzert zusammengebracht, so dass er jetzt für sich selbst als Solist einen neuen zweiten Satz schreibt.

Schließlich hat auch Beethoven dieses Konzert für sich selbst als Pianist geschrieben. Das ist hoch intellektuell und zugleich ein großer Spaß. Ich finde es extrem wichtig, dass wir in der Elbphilharmonie Musik präsentieren, die genauso aufregend, modern und schön ist wie dieses Haus. Jede Spielzeit soll aufregend sein und zu einer Entdeckung werden. Die Menschen sollen ins Konzert und Theater kommen und denken, what the hell is going on here?!

O&T: Garantiert die Hansestadt Hamburg finanzielle Planungssicherheit für die nächsten Jahre?

Kratzer: Ja. Das mir zur Verfügung stehende Budget ist auskömmlich, aber nicht üppig. Es war mir wichtig, mit meinen Vertragskonditionen auch eine gewisse Sicherheit für das Haus herzustellen, damit man zumindest auf dem momentan bestehenden Level weiterarbeiten kann und auch eine 6. Premiere pro Saison und Uraufführungen möglich sind.

O&T: 2028 feiert die Hamburgische Staatsoper ihr 350-jähriges Bestehen als erste Bürgeroper in Deutschland. Welche Verpflichtung erwächst Ihnen daraus im Hinblick auf Tradition und Innovation.

Kratzer: Auf dieses Jubiläum vorausweisend programmieren wir für die Spielzeit 2027/28 Projekte, die mit den eigenschöpferischen Intendanten des Hauses zu tun haben. Es ist nämlich eine Eigenart des Hamburger Hauses, dass viele Intendanten und GMDs hier selbst komponiert haben. Wir beginnen mit einem Mahler-Projekt von Christoph Marthaler und wenden uns dann Rolf Liebermann zu.

O&T: Regie und Dirigat geraten nicht selten über Inszenierungen in Streit. Als regieführender Intendant werden Sie regelmäßig selbst inszenieren. Wie gedenken Sie beide solche Konflikte zu vermeiden und gegebenenfalls zu moderieren?

Kratzer: Durch Kommunikation, Kommunikation, Kommunikation! Das ist tautologisch, aber man kann nicht anders agieren. Also frühzeitig kommunizieren, was man vorhat und antizipieren, wo es gegebenenfalls haken könnte. Man wird nie alles vorwegnehmen können, weil das Spiel auf dem Platz entschieden wird und man immer wieder in Situationen kommt, bei denen man verschiedener Meinung ist, ästhetisch oder technisch, bei Tempofragen, längeren Umbaupausen oder gestalterischen Feinheiten. Es gibt auf allen Ebenen Möglichkeiten zu guter Zusammenarbeit, aber auch zu Missverständnis und Dissens. Was ich in solchen Situationen als Regisseur dann nicht mehr kann, ist den Intendanten als Schiedsrichter anrufen, weil ich das dann ja selber bin, so dass ich hier künftig wohl eher der anderen Seite mehr zugestehen sollte als durchzuregieren. Manchmal ist das bessere künstlerische Resultat aber auch das, wo man vorab gar nicht alles so präzise gemeinsam abgesprochen hat, weil dann im Ergebnis die produktive Spannung zwischen Musik und Szene fehlt.

Wellber: Ich suche keine Konflikte, weil das am Ende nichts bringt. Bei mir im Leben gilt generell – ich glaube das kann ich sagen –, etwas geht entweder einfach oder es geht nicht. Wenn ich voraussehe, dass mir etwas nicht unbedingt zusagt, dann lasse ich mich gar nicht erst auf das Projekt ein. Aber wenn wir als Regisseur und Operndirigent zusammengehen, dann auch richtig zusammen als Paar, dann gibt es eigentlich keine Kompromisse mehr, sondern gemeinsame Entscheidungen. Als Operndirigent suche ich den Dialog mit der Inszenierung. Die Bühne ist für mich eine große Inspiration. Wenn ich zur ersten Bühnenprobe komme, weiß ich noch nicht, wie das Tempo wird. Deshalb mache ich keine musikalischen Proben vor der Produktion, weil ich gar nicht wissen kann, ob es hier oder da auf der Bühne mehr Zeit braucht. Erst wenn ich die Idee des Regisseurs verstanden habe, beginne ich die musikalischen Proben, um meine Interpretation richtig zu entwickeln. Andersherum macht es keinen Sinn.

O&T: Und doch liegt auf Ihrem Pult mit der Partitur die Autorität, in der alle Taktarten, Tempi, Dynamik- und Ausdrucksangaben et cetera verzeichnet sind.

Wellber: Ja, absolut, aber ich kann durch meine Kenntnis der Inszenierung meine Interpretation dieser Musik entwickeln. Ich will nicht hundertmal dieselbe „Carmen“ dirigieren, sondern ich bin offen für neue Zugangs- und Darstellungsweisen.

O&T: Können Sie sich wie bei den Klassikern im Konzertprogramm auch Eingriffe in Opernpartituren vorstellen?

Wellber: Ich werde Mozart machen, etwa „Nozze di Figaro“. Da gibt es viele geheimnisvolle Rezitative und Verbindungen zwischen Text und Musik. Von den über drei Stunden, die diese Oper dauert, sind eine volle Stunde Rezitative. Diese werde ich frei entwickeln, damit experimentieren und improvisieren, natürlich Hand in Hand mit der Inszenierung, auf die ich damit genau reagieren kann. Darin liegt ein großes Potenzial. An der Wiener Volksoper habe ich Mozarts unvollendetes „Requiem“ mit dem „Kaiser von Atlantis“ von Viktor Ullmann durch Kombinationen zu einem neuen Stück verbunden. Der einzige Überlebende der Premiere dieser Oper im KZ Theresienstadt – Sänger und Orchester wurden alle nach Auschwitz geschickt – war der Sänger, der die Rolle des Todes gesungen hat. Und in unserer Produktion hat nun derselbe Sänger den Tod bei Ullmann und das „Tuba mirum“ bei Mozart gesungen. Die Rollen verbinden sich. Außerdem war es ein Projekt des Staatsballetts mit Andreas Heise als Choreograf, so dass auch Tanz und Sänger zusammenkamen. 

O&T: Inwieweit werden Sie auf die Personalvertretungen zugehen, um gemeinsame positive Synergieeffekte zu schaffen?

Kratzer: Es gibt in Hamburg traditionellerweise einen sehr aktiven Betriebsrat, mit dem wir vom ersten Tag an in Kontakt sind. Ich finde es sehr wichtig, dass man das Haus von der Kunst her denkt, aber immer so, dass es die Beschäftigten am Haus auch mitnimmt. Das betrifft ganz aktuell auch den geplanten Opernneubau. Hier geht es darum die Arbeitsbedingungen im neuen Haus allein schon durch mehr Platz zu verbessern. Ich bin in der Nutzeranalyse drin und sehe mich hier auch stark in der Verantwortung.

O&T: Dabei kommt Ihnen entgegen, dass Sie von Werkstätten und Bühnentechnik über Probensäle und Orchestergraben bis zu Chor und Solisten mit allen Arbeitsbereichen des Hauses im Gespräch sind.

Kratzer: Ja, es ist einer der großen Vorzüge der künstlerischen Intendanz, dass man die Gewerke von Bottom up kennt und enger in den künstlerischen Prozessen drin ist als wenn man das „nur“ aus dem Intendantenzimmer beobachtet. Im Moment bin ich ja noch „designierter Intendant“ und kenne die Probensituation in Hamburg noch nicht aus eigenem Erleben. Es gibt ja auch die Gefahr, dass man als Intendant vieles nicht mehr so ungefiltert mitkriegt wie als Gastregisseur, wo man als lustiger Onkel in die eingespielte oder dysfunktionale Kernfamilie kommt, Freud und Leid mitkriegt und dann wieder abreist. Jetzt ist man selber der „Familienvater“ und das wird sicher auch das Verhalten der Gewerke zu mir und umgekehrt irgendwie verändern, da mache ich mir nichts vor, ganz einfach weil man vom Beobachter zum beteiligten Beobachter wird.

O&T: Die Hamburger Staatsoper nennt sich das „erste Bürgertheater in Deutschland“. Sehen Sie sich in der Verantwortung, die Staatsoper für die Stadtgesellschaft und womöglich auch für andere künstlerische Akteure und freie Kollektive zu öffnen?

Kratzer: Das ist zentraler Kulturauftrag des Opernhauses und unsere Selbstverpflichtung. Aber das hat jetzt nicht nur mit der Historie zu tun. Es steht natürlich auch Intendant:innen ehemaliger Hoftheater gut an, ihre Häuser zu öffnen. Und so wird es ja auch an vielen Orten praktiziert. Die Staatsoper Hamburg ist aber kein Gastspielhaus für die freie Szene, wofür es andere Orte gibt, etwa Kampnagel.

Ich habe primär bis zu 150 Abende auf der großen Bühne und auch einige Produktionen in der Opera Stabile zu gestalten. Es werden zuweilen aber auch freie Theatergruppen bei Opernproduktionen mitwirken, um den Staatsopernbetrieb zu befruchten. Ich möchte das gesamte Publikum in allen Altersschichten ansprechen. Wir öffnen deswegen alle Generalproben kostenlos für Schüler:innen, Studierende und Auszubildende, damit jeder junge Mensch in Hamburg die Chance bekommt, unsere Neuproduktionen zu erleben. Wir gehen auch hinaus in den Stadtraum und in Schulen, etwa mit unserem Kinder- und Jugendchor „Alsterspatzen“. Gleichzeitig haben wir das Jugendprogramm „Jung“ unter dem neuen Namen „Click In“ mit anderen Ansprachen an Erwachsene und Senioren verschmolzen, um auf einem möglichst breiten Level verschiedene Communities anzusprechen und zu Workshops einzuladen.

O&T: Die Stadt Hamburg bekommt von einem Gönner für dreihundert Millionen ein neues Opernhaus an spektakulärem Ort unweit der Elbphilharmonie auf einem Hafenkai geschenkt. Wie sind Sie in diese Planungen einbezogen. Wie sollte ein Opernhaus des 21. Jahrhunderts beschaffen sein?

Kratzer: Wir sind mitten im Prozess, den Herr Kühne auch zeitlich forciert, was sehr gut ist, weil er bereits 87 ist und das neue Haus gerne noch eröffnen möchte, was wir ihm alle wünschen. Von Stadt und Stifter gibt es die klare Vorgabe, dass der Hauptsaal ein klassischer Guckkasten mit Orchestergraben auf dem aktuell höchsten Stand der Technik wird. Das ist Wille von Stifter und Träger. Deshalb fokussiere ich mich auf die zweite, mittelgroße Bühne, die multifunktional und vielfältiger bespielbar sein soll, etwa mit Raumkonzepten, Barockopern und Kammeropern, wofür die Opera Stabile mit maximal 120 Plätzen viel zu klein ist.

Wellber: Die Elbphilharmonie hatte in den letzten zehn Jahren einen unglaublich positiven Einfluss auf die ganze Stadt, auf Publikum, Image, Tourismus und das ganze Areal entlang der Elbe. Was vor achthundert Jahren der Dom in Mailand war, ist heute in Hamburg die Elbphilharmonie. Das neue Opernhaus wäre ein weiterer Schritt Hamburgs zu einem internationalen Zentrum der Kultur. Das ist extrem toll und fantastisch!

O&T: Vielen Dank Ihnen beiden für das Gespräch. Alles Gute für Ihre neuen Aufgaben in Hamburg.

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