Rezensionen
Die Operette als Vorreiterder sexuellen Befreiung undSelbstbestimmung
Zur Neuauflage von Kevin Clarkes „Glitter And Be Gay“ (2007/2025)
Kevin Clarke (Hrsg.): „Glitter And Be Gay Reloaded. Die authentische Operette und ihre schwulen Verehrer“, Männerschwarm Verlag 2025, 351 Seiten, 25 Euro
Im Jahre 2007 erschien die aufsehenerregende Erstausgabe des Buches (mit dem gleichen zweideutigen Bernstein-Song im Titel) „Glitter And Be Gay“ von Kevin Clarke. Der Titel war Motto und Programm zugleich. Das nach Angaben des Verlags Männerschwarm „weltweit erste Buch, das sich mit der homosexuellen Vorgeschichte des Operetten-Genres befasst“.
Wobei man zur gewagten Hypothese, Operette und Homosexualität hätten ursprünglich und grundsätzlich miteinander zu tun, kontroverser Meinung sein kann. Nach 18 Jahren liegt nun eine komplett überarbeitete, aktualisierte Ausgabe vor: „Glitter And Be Gay Reloaded: Die authentische Operette und ihre schwulen Verehrer“. Der neue Untertitel setzt bewusst einen neuen Akzent. Es ist ja auch viel passiert in den Jahren seit der Erstausgabe. Damals war es noch schwierig, Autoren zu finden, heute nicht mehr. Und viel passiert ist seitdem ja auch in der Operettenszene und Schwulenbewegung.

Kevin Clarke (Hrsg.): „Glitter And Be Gay Reloaded. Die authentische Operette und ihre schwulen Verehrer“
Es habe inzwischen eine queere Operetteninterpretation gegeben, dazu zählt Clarke „die zehn Jahre Intendanz von Barrie Kosky an der Komischen Oper Berlin“, aber auch das queerfeministische Oper*ettenkollektiv tutti d’amore und Produktionen wie „Magna Mater“, als Mash-up von Franz von Suppés „Die schöne Galathée“ und Paul Linckes „Lysistrata“.
Gegliedert ist das Buch in 18 thematisch grundsätzliche Artikel und 21 „Operettenmomente“, in denen Regisseure, Musikwissenschaftler, Journalisten, Dirigenten, Theaterkritiker, Theaterhistoriker, Filmkritiker und Moderatoren, aber auch Pfarrer, Uhrmacher und andere Autoren zu Wort kommen. Auf einige Artikel der Erstausgabe wurde verzichtet, neue kamen hinzu. Besonders lesenswert sind die Artikel „Fritzi Massary, die Diva Assoluta der erotisierten Operette“, „A New Moon Rising! Operette zwischen Queerness, Feminismus und Science-Fiction“ oder „Gaytopia: Die ganze Welt ist himmelblau pink. Queer-Reeding in der Operettenaufführungspraxis“.
Die Beiträge sind in Qualität und Machart sehr unterschiedlich. Breit und entsprechend reich an Perspektiven ist die Auswahl der Autoren unterschiedlicher Generationen, die unterschiedliche Erfahrungen machten und verschieden sozialisiert sind. Es gibt manche fragwürdigen Texte, aber auch solche, die zweifellos seriös und unanfechtbar daherkommen, wie etwa Hans-Dieter Rosers (Franz von Suppé-Spezialist) gelehrte Ausführungen über „Cross-Dressing in der Wiener Operette 1860–1936.“ Die bunte Mischung an Themen und Autoren bringt mit sich, dass die Dramaturgie der Texte eher assoziativ als systematisch erscheint und sich nicht zu einer Kulturgeschichte der Operette rundet.
Dem Fazit Clarkes kann man allerdings nur zustimmen: „dass ausgerechnet die vermeintlich altbackene und verstaubte Gattung Operette ein Vorreiter und früher Verfechter der sexuellen Befreiung und Selbstbestimmung im Kern viel moderner ist, als ihr heute gemeinhin zugetraut wird“. Das ist der vielleicht wichtigste Satz des 351 Seiten zählenden Buchs. Die unterschiedlichen Beiträge der etwa drei Dutzend Autoren beglaubigen ihn mit ihren Beiträgen, auch wenn manches Geschriebene und Behauptete zweifelhaft erscheint.
In der Einleitung schreibt Clarke: „Ich sehe das Buch als Start für möglichst viele, kontroverse, empowernde, leidenschaftliche, persönliche, weitere Auseinandersetzungen mit einem Genre, das solche vielfältigen Auseinandersetzungen verkraftet – und verdient.“ Dem kann man nur zustimmen, auch wenn man den explizit schwulen Blickwinkel des Buchs mit seinen diesbezüglichen Thesen nicht teilen muss. Man mag ihn annehmen oder ablehnen. Auf jeden Fall vermittelt diese Anthologie einen interessanten, aufschlussreichen, zuweilen skurrilen – aber lesenswerten – Blick auf die schillernde Gattung Operette, die besser ist als ihr Ruf.
Dieter David Scholz |