Berichte
Spielräume der Interpretation
Igor Strawinskys „Le Sacre du Printemps“ in Choreografien von Pina Bausch in München und Annett Göhre in Ulm
Am Ende wird Alba Pérez González – vom Zufallsgenerator oder einer KI? – per projizierter Namensnennung in den Opfertod geschickt. Jede und jeden des Ulmer Ensembles hätte es treffen können. Man reißt der Tänzerin das Gewand vom Körper und beschmiert sie mit blauer Farbe. Die Bühnenrückwand fährt vor. Steinplatten brechen heraus. Die Mauer zerfällt. Die Geopferte wird an einem Gurt um die Hüften hochgezogen.

„Das Frühlingsopfer“ in der Choreographie von Pina Bausch mit dem Bayerischen Staatsballett München. Foto: Serghei Gherciu
Die Herausforderung, nur zehn Akteure zur Verfügung zu haben, meistert Annett Göhre als choreografierende Tanzspartenleiterin in Ulm schlüssig – dank einem klugen Quäntchen Eigenwilligkeit. In ihrer fundierten „Sacre“-Kreation nimmt sie das Publikum mit in die Pflicht nachzudenken – über Opferrituale an sich und die eigene Bereitschaft, für die Allgemeinheit etwas zu opfern.
Zeitgleich zu Göhres Umsetzung von Strawinskys „Le Sacre du printemps“ führte das Bayerische Staatsballett Pina Bauschs wuchtiges, 1975 uraufgeführtes Gruppenstück für 32 Tänzerinnen und Tänzer „Das Frühlingsopfer“ auf. In ihrer Gegensätzlichkeit handelt es sich um zwei auf völlig unterschiedliche Weise fesselnde Interpretationen. Während der Ballettfestwoche in München ist der 35-Minüter der finale Höhepunkt des Dreiteilers „Wings of Memory“ mit zwei weiteren vorangestellten Stücken. In Ulm entschied man sich bewusst gegen diese übliche Präsentationsform, indem ein Prolog mit Musik von Ottorino Respighi Göhres Produktion zum pausenlosen Einstünder ergänzt.
Göhres choreografisches Vorspiel über Vereinsamung, Verluste, Sich-Verlieren oder Verloren-Sein führt an die Idee eines Rituals heran. Die lose Gemeinschaft der Menschen muss eine Aufgabe bewältigen. Hierfür haben sie ihre Individualität aufzugeben und sich einer nicht genauer definierten äußeren Obrigkeit unterzuordnen.
Anders bei Pina Bausch: Mit ihrem knöcheltief in Torf getanzten „Frühlingsopfer“, das inhaltlich nahe an der ursprünglich heidnischen Geschichte eines Opferritus dranbleibt und Frauen und Männer oft in Gruppen aufeinander prallen lässt, hat sie vor fünfzig Jahren ein unheimlich komplexes, brutal-berührendes Signaturstück geschaffen, das bis heute seinesgleichen sucht. Sogar einen improvisierten Moment von Chaos beinhaltet das Stück. Keiner, der einmal auf der Bühne ist, verlässt diese vor Schluss wieder. 32 sich total verausgabende Interpreten kreuzen sich auf kompliziert geführten Wegen. Ein solcher dynamischer Flow aus tänzerischer Urgewalt und menschlicher Energie kann niemanden im Publikum kalt lassen.
Das Unabwendbare beginnt bei Bausch harmlos. Ein Mädchen liegt bäuchlings auf der Erde. Unter ihr ist ein rotes Tuch ausgebreitet. Weitere Frauen rennen herbei. Der von Scheinwerfern gesäumte Raum wird zur Arena eines unbarmherzigen Rituals. Aus dem Verbund vor maskuliner Energie schier berstender Männer löst sich früh ein Tänzer, der durch abruptes Zupacken den Tod einer der Frauen bestimmt.
Das Auswahlverfahren vollzieht sich in gewaltigen emotionalen Schüben, was bisweilen heftig anzusehen ist: Weiche Armbewegungen schlagen um in geballte Fäuste, die wie Messer in die Magengruben fahren.

„Le sacre du printemps“, in der Choreographie von Annett Göhre mit der Tanztheatercompagnie des Theaters Ulm. Foto: Sylvain Guillot
Tänzerisch ist das eine Wucht. Auf völlig ungeschönte Weise wird gezeigt, was innerlich mit Menschen geschieht, die einerseits Angst ausgesetzt sind und sich andererseits gezwungen sehen, eine solche selbst auf andere ausüben zu müssen. Erschreckend aktuell erscheint die darin thematisierte Suche nach einem möglichen Opfer und dem erbarmungslosen Vorgehen dabei.
Am Ende lässt Laurretta Summerscales als „Auserwählte“ am Premierenabend Weltschmerz, Todesfurcht, plötzliches Ausgestoßen-Sein und Anflüge von Irrsinn durch ihren Körper pulsieren. Das ist nicht nur herzzerreißend, sondern Tanztheater pur.
Göhres Zugriff zielt dagegen weniger auf Archaik als auf einen gesellschaftskritischen Ansatz. Ihre Choreografie scheint sich durch eine Geometrie klarer Raumwege und Bewegungslinien der treibenden Dynamik von Strawinskys Musik manchmal fast zu widersetzen. Emotionale Hektik, unkontrolliertes Chaos oder wildes Durcheinander will sie in ihrem tänzerischen Fluss gar nicht erst aufkommen lassen. Der Schubs aus der Komfortzone erfolgt für das Publikum schon im Foyer: „Stimmen Sie ab! Was sind sie persönlich bereit, für die Allgemeinheit zu opfern?“, lautet die Aufforderung. Fünf mögliche Optionen wie beispielsweise „Erfolg/Karriere“ stehen zur Wahl. Anders als bei Bausch agieren die Interpreten in Ulm viel weniger bloß aus dem Bauch heraus. Sie scheinen sogar motorisch bestimmten Regeln zu folgen, die einzuhalten oder nur verhalten aufzubrechen es über weite Strecken gilt. Was sich in Ulm in die Netzhaut brennt, ist das Schlussbild als mahnender Appell zur Selbstlosigkeit.
Vesna Mlakar |