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Berichte

Im Kopf des Meisters

Barrie Koskys „Die Meistersinger von Nürnberg“ bei den Bayreuther Festspielen

In dem Film „Being John Malkovich“ von 1999 entdeckt ein erfolgloser Puppenspieler, dass man von einem Schacht im siebeneinhalbten Stock eines New Yorker Bürohauses aus direkt in den Kopf des (sich selbst spielenden) John Malkovich rutschen kann. Eine Viertelstunde lang dauert dieser Bewusstseins-Trip, den der Puppenspieler dann bald kommerziell zu nutzen beginnt. Bis John Malkovich davon Wind bekommt und die Rutsche selbst ausprobiert. Sein Trip besteht nun darin, dass er um sich herum nur Malkoviche sieht, nichts als „Malkovich“ hört und alles, was er liest, immer nur sein Nachname ist…

Barrie Koskys Wagner-Trip beginnt schon zur Ouvertüre: Ein projizierter Text erläutert vorab in erheiternder Ausführlichkeit, was wir gleich sehen werden – einen August-Tag 1875 im Hause Wahnfried. Zu Besuch bei einem aufgekratzten Richard und einer migränegebeugten Cosima sind Hermann Levi und Franz Liszt. Letzterer begibt sich gleich an den Flügel, auf dessen Pult die Meistersinger-Ouvertüre liegt. Wagner setzt sich zu ihm, zeigt dem Schwiegervater wie’s geht, und vierhändig wird weitermusiziert. Und nach und nach rutschen wir in den Kopf des Hausherrn, und Wagner rutscht mit, denn der sieht sich plötzlich überall: Richard Wagners verschiedener Statur entsteigen dem Flügel, einer davon wird zu Stolzing, ein anderer zu David und zusammen mit Liszt, den Wagner sich als Pogner imaginiert, und Cosima als Eva kann das Meistersinger-Spiel beginnen. Wagner selbst übernimmt die Rolle des Hans Sachs und so spielt sich im Wahnfried-Saal ein turbulent-komödiantischer, vom Regisseur mit brillantem Timing auf Betriebstemperatur gehaltener erster Aufzug ab.

Erster Aufzug: Villa Wahnfried. Foto: Bayreuther Festspiele/Enrico Nawrath

Erster Aufzug: Villa Wahnfried. Foto: Bayreuther Festspiele/Enrico Nawrath

Entscheidend für den weiteren Verlauf der Bayreuther Neuproduktion ist die Tatsache, dass Barrie Kosky in der ewigen Diskussion darüber, ob Wagner den Beckmesser nun als jüdische Karikatur konzipiert habe oder nicht, klar Stellung bezieht: In Wagners Hirn legen sich die Figuren Hermann Levi und Beckmesser übereinander, was den lockeren Tonfall zunehmend bitter eintrübt. Schon beim eröffnenden Hausgottesdienst – „Da zu dir der Heiland kam“ tönt prächtig, aber leider aus dem Off der Festspielchor – wird der jüdische Dirigent und Hausfreund genötigt mitzumachen, wird buchstäblich auf die Knie gezwungen. Am Ende des ersten Aufzugs fährt die Wahnfried-Bühne nach hinten weg (ingeniös konzipiert von Rebecca Ringst), und wir befinden uns plötzlich im Gerichtssaal der Nürnberger Prozesse.

Dieser zeitspringende Szenenwechsel hat für den zweiten Aufzug aber zunächst keine Konsequenzen. Die weiterhin in ihren Renaissance-Kostümen (von Klaus Bruns) steckenden Figuren spulen auf einer unbestimmten Rasenfläche die Handlung munter ab, bis zur Prügelfuge die Stimmung endgültig umkippt. Beckmesser/Levi wird von der entfesselten Menge geschlagen und bekommt einen jüdischen Karikaturschwellkopf aufgesetzt, der sich dann als Ballon immer weiter aufbläht… Wer gedacht hatte, im dritten Akt müsse sich Wagner nun im voll möblierten Nürnberger Gerichtssaal verantworten, sah sich getäuscht. Kosky belässt es zunächst bei der historischen Verfremdung zwischen den Gewändern aus dem 16. und dem Bühnenbild aus dem 20. Jahrhundert, um am Ende in die Gegenwart zu schalten. Wagner/Sachs hält seine Schlussansprache auf nunmehr vollständig geleerter Bühne ins Publikum, während von hinten ein aus den Chorsängern bestehendes, heutiges Symphonieorchester hereinfährt. Nun scheint Kosky selbst in Wagners Kopf geschlüpft zu sein: „Ehrt eure deutschen Kulturorchester, dann bannt ihr gute Geister!“, ruft der australische Jude den Deutschen gleichsam zu und erteilt ihnen unter der Bedingung Absolution, dass sie ihrer Verantwortung als Kulturnation gerecht werden. So endet diese anregende, aber nicht bahnbrechende, vor allem aber nicht konsequent zu Ende gedachte Inszenierung mit einer etwas lauen Pointe, der der Witz des ersten und die Schärfe vom Ende des zweiten Aufzugs abhanden gekommen ist.

Erster Aufzug mit Klaus Florian Vogt als Stolzing. Foto: Bayreuther Festspiele/Enrico Nawrath

Erster Aufzug mit Klaus Florian Vogt als Stolzing. Foto: Bayreuther Festspiele/Enrico Nawrath

Über diese Schwächen hinweg trägt Barrie Koskys Meisterschaft in der geistreichen Personenführung. Wie er es versteht, die Figuren in ihren Beziehungen zueinander lebendig zu machen, das ist große Inszenierungskunst, und einmal mehr zeigt sich, dass ein solch fordernder Regiestil dem Gesang nicht im Wege stehen muss, im Gegenteil: Je differenzierter das Gesten- und Mienenspiel Michael Volles in Bewegung ist, umso besser singt dieser. Sein Sachs-Porträt ist wahrscheinlich die überragende sängerische Leistung der letzten Bayreuth-Jahre, kulminierend in einem grandiosen, alle Persönlichkeitsfacetten stimmlich auffächernden Flieder-Monolog. Ihm steht Johannes Martin Kränzle als Beckmesser/Levi kaum nach. Seine Verkörperung eines Menschen, der mehr und mehr die Rolle annimmt, die ihm durch antisemitische Vorurteile aufgezwungen wird, ist darstellerisch beklemmend und vokal beeindruckend.

Die tenorale Meisterwürde gebührt zuvorderst Daniel Behle als David. Sein rhetorischer Schmelz ist Klaus Florian Vogt ein Stück weit voraus, auch wenn dessen Stolzing nach wie vor durch Textprägnanz und lyrische Klarheit besticht. Günther Groissböcks lisztiger Pogner führte ein treffliches Ensemble meistersingender Handwerker an, Wiebke Lehmkuhl gab der Magdalena klangsattes Profil, der Nachtwächter war am Premierenabend außerplanmäßig luxuriös mit Georg Zeppenfeld besetzt. Anne Schwanewilms wurde von Kritikerseite teilweise mit Häme und vom Publikum mit einigen Buhrufen bedacht. Die hätten eher jenen in der Festspielleitung gelten müssen, die dafür verantwortlich waren, dass die Partie der Eva schlicht mit einer unpassenden Stimme besetzt worden war. In Anbetracht dessen machte die Sopranistin ihre Sache ganz beachtlich.

Philippe Jordan hatte im Vorfeld mit der steilen These überrascht, Wagners „Meistersinger“ seien, auch unabhängig von der Musik, die beste deutsche Komödie, die je geschrieben worden sei. Nun, mit Jordans Humorverständnis müsste man sich wohl einmal gesondert auseinandersetzen, aber zumindest wurde bei seinem Bayreuther Debüt deutlich, dass der designierte Musikdirektor der Wiener Staatsoper ein akribischer Arbeiter am Detail ist und der Wagnerschen Partitur so etwas wie trockenen Witz zu entlocken vermag. Die eigentümlichen Kunstpausen, die er mitunter einstreute, wirkten manches Mal szenisch motiviert, manches Mal nicht. Mit zunehmender Routine dürfte sich die Koordination mit der Bühne sicher noch verbessert, die Instrumentenmischung plausibler ausbalanciert haben. Dem Festspielchor (Einstudierung: Eberhard Friedrich) zu lauschen, war wieder einmal eine ungetrübte Freude, die spielfreudig und stimmkompetent heraustretenden Lehrbuben machten ihre Sache exzellent.

So machten die Bayreuther Festspiele einmal nicht mit Eklats und Skandälchen Schlagzeilen, sondern mit einer gleichermaßen unterhaltsamen wie diskussionswürdigen, musikalisch hochkarätigen Premiere. Erfreulich außerdem, dass mit „Diskurs Bayreuth“ erstmals ein mehrtägiges Programm stattfand, das die Festspiele von nun an regelmäßig wissenschaftlich und mit Konzerten begleiten wird. Schon das am Vorabend der Meistersinger-Premiere anlässlich des 100. Geburtstages von Wieland Wagner ausgerichtete Sonderkonzert ließ aufhorchen. Dabei erklangen im Festspielhaus ausnahmsweise einmal nicht nur Werke Richard Wagners, sondern auch solche von Giuseppe Verdi und Alban Berg. Und sie bewegen sich doch…

Juan Martin Koch

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