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Das Theater und seine Bilder

Von der Wirklichkeit auf die Bühne

An den deutschen Stadt- und Staatstheatern geht es weithin nicht mehr besonders gemütlich zu. Zum innovativen Zugewinn tragen neue, mitunter ungewohnte Raumsituationen bei, provozierende Bühneninstallationen, insbesondere auch das Beträufeln, erst recht die Beflutung und Bombardierung mit assoziativen Bildsequenzen per Video. All das sorgt in den Augen nicht weniger, vor allem älterer Theaterbesucher für „Behaglichkeitsverlust“.

Notärzte oder Totengräber?

Der amerikanische Maler und Objektkünstler Robert Rauschenberg war schon vor mehr als sechzig Jahren von der Idee durchdrungen, dass eine Wiedervereinigung der künstlerischen Bildwirklichkeit mit der Lebenswirklichkeit dadurch angestrebt werden könne, dass Teile oder Partikel der realen Welt mehr oder weniger unverändert in die Kunst hereingeholt werden. Die Idee, wesentlich von deutschen Künstlern wie Kurt Schwitters, Josef Albers und Joseph Beuys inspiriert, ist zum Konzept geworden, das wiederum in Deutschland und der Schweiz nachhaltig wirkt.
„Rein mit der Welt ins Theater“, forderte nun zum Jahresbeginn „Die Deutsche Bühne“ mit einer fetten Überschrift (2/2017, S. 45) und griff die (angebliche) „Behaglichkeit“ von Inszenierungen/Bühnengestaltung im deutschen Stadt- und Staatstheater an. Das war Anlass, zu dieser Forderung drei von verschiedenen Ansätzen ausgehende jüngere Bühnenbildner beziehungsweise Szenographen zu befragen, die jeweils auch an etlichen Uraufführungs-Produktionen mitwirkten und hinsichtlich der Therapiebedürftigkeit und -empfänglichkeit des Theaters zum Nachdenken veranlasst wurden.

„Der fliegende Holländer“ in der Raumbühne „Heterotopia“ in Halle mit dem Chor und Extrachor der Oper Halle (Raumbühne: Sebastian Hannak). Foto: Falk Wenzel

„Der fliegende Holländer“ in der Raumbühne „Heterotopia“ in Halle mit dem Chor und Extrachor der Oper Halle (Raumbühne: Sebastian Hannak). Foto: Falk Wenzel

Das, was an „klassisch“ konzipierter Bühnenausstattung aus den Theaterwerkstätten und dem Malersaal komme, wirke auf ihn „in aller Regel vollkommen hilflos und aus der Zeit gefallen, völlig egal, was es abbildet“, meint zum Beispiel Christoph Ernst. „Die Techniken und der traditionelle Umgang mit dem Material entsprechen einfach nicht mehr unserer Lebenswirklichkeit. Und das macht das Theater so unattraktiv für viele potenziell Interessierte.“ Im Gegenzug nehmen altbewährte Operngänger immer wieder erheblichen Anstoß an dem, was ihnen in den letzten Jahren an Bild-Assoziationen vorgesetzt wird, was sie als „deplatziert“ empfinden und was mitunter geeignet erscheint, erhebliche Aggressionen auszulösen.

Dies mag Sebastian Hannak im Hinterkopf gehabt haben, als er etwas behutsamer formulierte, das Theater müsse „einen Ausblick auf eine Welt geben, die über die bisher erlebte Welt hinausgeht und doch lesbar von dieser Welt ist“. Im Theater werden, so Hannaks Diagnose, „extreme Gefühlszustände verhandelt, denen wir als Zuschauer schonungslos ausgesetzt sind, Menschen in persönlicher oder gesellschaftlicher Schieflage. Diese Schieflagen versuche ich in ein Bild zu fassen, das assoziative Andockpunkte für die Zuschauer bietet, statt Teile der realen Welt abzubilden. Streng genommen ist es auch nicht möglich, die Welt unverändert auf die Bühne zu bringen, da das Bühnengeschehen immer ein Surrogat von Realität ist, in das der Zuschauer seine eigene Erfahrung von Realität einbringt.“ Daher seien, so resümiert Hannak, seine „Arbeiten auch kein Abbild, sondern Bild. Wenn man möchte, kann man das dann abstrakt nennen.“

Szene, Raum, Video

Eine in andere Richtung zielende Antwort auf die Frage nach dem Zusammenhang von theatralen Bildwirklichkeiten und Lebenswirklichkeit gibt Martin Kukulies: „Ein grundsätzliches Prinzip hat es für mich immer gegeben: Die Sänger, Schauspieler sind das Zentrum einer Theateraufführung – ich baue Räume für Szenen.“ Kukulies reklamiert für sich einen jeweils differenzierten, strikt werkbezogenen Ansatz: „Jedes Werk, jeder Komponist, jeder Autor ist anders. Wir leben mit etwa zweieinhalbtausend Jahren Theatergeschichte. Einen generellen Ansatz, eine Bildsprache, Ästhetik gibt es nicht – zumindest nicht bei mir, also auch nicht für den Einsatz von Videomaterial. Die verschiedenen Komponenten – Ort der Aufführung, Team, das Werk, das Jetzt – sind immer wieder viel zu unterschiedlich.“

„Ich bin ein autonomer Künstler und kein Dienstleister von einem Autor, dessen Drecksarbeit ich machen soll, weil er selbst nicht inszenieren kann.“

Für keinen der drei befragten Szenographen ist das „Hereinholen“ der gesellschaftlichen Wirklichkeit per Video-Einsatz einfach ein probates Mittel. „Video ist eine Ergänzung“, unterstreicht Kukulies. „In unserer Bilderüberflusskultur, dem täglichen Erdrutsch an Bildinformationen, den Digitalkameras, Smartphones wird eine Bildauswahl fürs Theater nicht leicht. Die Assoziationswelt nur allein in unseren Köpfen ist mit zusätzlichen Bildinformationen durch Videobilder schnell überfordert. Dazu kommt: Bis heute sind die meisten Theater mit unzureichenden Videoanlagen ausgestattet. Zu wenig lichtstarkes Equipment steht zur Verfügung.“

„La Reine“ (Hector Berlioz/Richard Wagner) in Mannheim mit Catherine Janke und Frank Richartz (Bühne, Kostüme: Martin Kukulies). Foto: Hans Jörg Michel

„La Reine“ (Hector Berlioz/Richard Wagner) in Mannheim mit Catherine Janke und Frank Richartz (Bühne, Kostüme: Martin Kukulies). Foto: Hans Jörg Michel

Christoph Ernst vertritt gegenüber der je besonderen Annäherung an die Werke aus zweieinhalbtausend Jahren Theatergeschichte einen radikal gegenwartsbezogenen Ansatz: „Theater ist ja wie Kino, TV und Journalismus ein Medium des Augenblicks und der Gegenwart. Es ist immer eine zeitnahe Reaktion auf das Leben, mit seinen Hoffnungen, Sehnsüchten und Ängsten, die uns gerade umtreiben, auch in der bewussten oder unbewussten Verweigerung, da-rauf zu reagieren. Alles ist darauf ausgerichtet, eine unmittelbare Aufmerksamkeit zu bekommen. In den gelungensten Fällen kommt es im Moment des Stattfindens zu einer kollektiven intensiven Berührung und Wahrnehmungsschärfung, die uns aus dem Alltag herausreißt, gerade weil sie so von unserer Lebenswirklichkeitserfahrung durchdrungen ist. Das kann inhaltlich, formal, ästhetisch kongruent oder disparat sein, es ist immer wieder eine Überraschung und nie ohne Kontext zum Jetzt.“ Für ihn, so Christoph Ernst, bedeute „sich mit seiner Ästhetik als Zeitgenosse zu verstehen, weniger abbildhaft die Welt ins Theater zu holen, sondern durch die Wahl von Materialien und ihre Form der Verarbeitung“. Er warnt vor der Erwartung, Videoeinblendungen wirkten als Wundermittel: „Viele Erfahrungen und Erkundungen in unserem Alltag finden heute über digitale Medien und die Präsentation von (Selbst-)Bildern statt, folglich wurde Video Teil des Repertoires an Mitteln, mit denen wir arbeiten. ‚Brisanz’ bekommt eine Veranstaltung damit überhaupt nicht.“

„Problematisch finde ich Video als Authentizität-Vehikel“, erläutert auch Hannak. „Interessant wird es dann, wenn Video der Theatererzählung als zusätzliche Dimension eine andere Tiefe beschert.“ Hannak sucht „Bilder, die den Inhalt transportieren, der mir wichtig scheint. Das Einbringen von etwas Fremden ist hierbei nicht als Abbild der Realität interessant. Theater wird immer dann interessant, wenn es Bildfindungen gibt, die über die Realität hinaus noch etwas Fremdes bieten und die der Zuschauer für sich entschlüsseln muss: Alle Darsteller können fliegen, alle sind Laborratten. Theater ist ja immer fremd, und die Übertragungsleistung der Zuschauer, im Fremden das Eigene zu erkennen, ist der mögliche Erkenntnisgewinn des Theatererlebnisses. Und in einer immersiven Raumsituation (Anm.: R., in die man eintauchen kann) ist das Theatererlebnis für den Zuschauer noch intensiver als beim puren Betrachten.“

Autonomie, Dienstleistung, Teamarbeit

„Ich bin ein autonomer Künstler und kein Dienstleister von einem Autor, dessen Drecksarbeit ich machen soll, weil er selbst nicht inszenieren kann“, verkündet Ersan Mondtag, ein weiterer der derzeit „angesagten“ Ausstatter der deutschen Theaterlandschaft. Martin Kukulies hält dem entgegen, dass der Austausch unter den Team-Mitgliedern das, „was ab einer Premiere zu erleben ist, schwer auseinanderdividieren lässt – was von wem im einzelnen war“. Aber in einem höchst individualistischen Berufsfeld „sind die Arbeitsweisen natürlich sehr unterschiedlich“. Christoph Ernst unterstreicht, dass er seit einigen Jahren das Privileg genieße, kontinuierlich mit drei Regisseur/-innen zusammen arbeiten zu können, „mit denen ich auf Augenhöhe selbständig und in einem intensiven Austausch meine Themen und Überlegungen weiterentwickeln kann“. Und Sebastian Hannak meint, weder sehe noch erlebe er seine „Arbeit als Dienstleistung. Eigene künstlerische Impulse zu setzen ist integraler Bestandteil der Arbeit. Darum ist es wichtig, mir im Vorfeld Gedanken und ein Bild zu machen, denn ohne eine eigene Idee oder Haltung zu dem Stück kann ich zu einer Teamarbeit nichts beitragen. Ich erlebe zudem in meiner Arbeit, als eigenständiger Partner gefragt zu sein.“

Frieder Reininghaus

Kurzporträts

Martin Kukulies arbeitete an mehr als 40 Häusern im deutschsprachigen Raum, stattete unter anderem 2011 die Uraufführung von Georg Friedrich Haas/Händl Klaus, „Bluthaus“ (Schwetzinger Festspiele) und 2017 die Uraufführung von Jan Dvoraks Berlioz/Wagner-Kreation „La Reine“ am Nationaltheater Mannheim aus; auch kontrovers diskutierte Inszenierungen an der Oper Bonn wie Bellinis „Norma“ (2012) oder 2015 „Les Contes d‘Hoffmann“ in Lübeck. Dort bereitet er gegenwärtig auch mit Sandra Leupold Salvatore Sciarrinos „Luci Mie Traditrici“ vor (Premiere: 16.3.2018).

Sebastian Hannak stattete unter anderem am Staatstheater Karlsruhe die Ballette „Momo“ (Choreograf: Tim Plegge; 2012) und „Anne Frank“ (Reginaldo Oliveira; 2016) aus, steuerte mit Martin Nimz 2014 in Karlsruhe die Rauminstallation für „Glasperlenspiel“ bei und 2016 die inzwischen preisgekrönte multifunktionale Raumbühne „Heterotopia“ des Theaters Halle (unter anderem „Der fliegende Holländer“, Jelineks „Wut“, Uraufführung Sarah Nemtsovs „Sacrifice“). Bereits 2005 entstand die Installation für die Uraufführung von Lucia Ronchetti, „Last Desire“ (Staatstheater Stuttgart).

Christoph Ernst war 2015 Ausstatter von Oscar Strasnoys „Geschichte“ (Staatsoper Berlin; Inszenierung: Isabel Ostermann) und von Kleists „Der Zerbrochene Krug“ (Konstanz; Michael von zur Mühlen), erarbeitete 2016 mit der Regisseurin Katka Schroth Borcherts „Draußen vor der Tür“ (Cottbus), mit Thirza Bruncken Wolfram Hölls „Drei sind wir“ (Schauspiel Leip-zig), die Uraufführung von Clemens J. Setz‘ „Die Stunde zwischen Frau und Gitarre“ (Werk X Wien) und 2017 die Kombination von Bartóks „Herzog Blaubarts Burg“ und Fassbinders „Bremer Freiheit“ (Halle).

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