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Berichte

Das Erinnern Bewahren

Mieczyslaw Weinbergs »Die Passagierin« an der Dresdner Staatsoper

Ein weiteres Mal bestätigt sich nach der postumen szenischen Uraufführung in Bregenz 2010 die innere Kraft, der musikalische Tiefgang und das ethische Potenzial der letzten Oper des Schostakowitsch-Protegés Mieczyslaw Weinberg (1919-1996) nach dem Roman der bei der Premiere anwesenden Autorin Zofia Posmysz: Zeitgeschichte mit humanistischem Format und ein Ja zum Leben noch in den allertiefsten Abgründen. Zum Spielzeitende holt die Semperoper aus Frankfurt die Produktion von „Die Passagierin“ in der durch ihre Sensibilität beeindruckenden Inszenierung Anselm Webers.

Fünfzehn Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs, 1960, gerät das Vertrauen zwischen Walter, einem deutschen Diplomaten, und seiner Ehefrau Lisa auf der Schiffsreise zu dessen neuer Position in Brasilien in eine harte Zerreißprobe. Lisa enthüllt ihm ihre bisher verheimlichte Vergangenheit als KZ-Aufseherin, als sie in der „Passagierin“ die in Auschwitz unter ihrer Kontrolle gestanden habende Marta wiederzuerkennen glaubt. Das Paar rauft sich zusammen, obwohl Walter um den Verlust seiner Position im Falle der Veröffentlichung von Lisas Vorleben fürchtet. Bei einem Kapitänsball durchdringen sich die Zeitebenen von Nachkriegsamüsement und KZ-Wirklichkeit…

Barbara Dobrzanska als Marta. Foto: Jochen Quast

Barbara Dobrzanska als Marta. Foto: Jochen Quast

Das zwischen den Sprachen der verschiedenen Figuren springende Textbuch von Alexander Medwedew formuliert wie der Roman und das vorausgegangene Hörspiel von Zofia Posmysz keine Anklage, sondern den Versuch einer Bewährungsfindung. So kommt es zur Gegenüberstellung der lange verdrängten Vergangenheit der sich selbst zerfleischenden „Täterin“ Lisa und des im tiefsten Leid sogar nach dem Mord an ihrem Geliebten Tadeusz gefassten „Opfers“ Marta. Abgründe zwischen Aufsichtspersonal und KZ-Häftlingen, die keine Dankbarkeit für deren im Verborgenen erteilte Erleichterungen zeigen wollen, verbreitern sich unüberwindbar. Am Ende steht der Appell: „Wenn eines Tages eure Stimmen verhallt sind, dann gehen wir zugrunde.“ Es geht um die Bewahrung des Erinnerns an die vernichteten Individuen, nicht ausschließlich um die Maschinerie der Vernichtung. Es geht auch um die Frage nach der Möglichkeit eines Lebens mit Bewusstheit für die Katastrophen der Vergangenheit und danach, ob eine ethische Bewältigung und Reinigung stattfinden kann und darf.
Lisa gewinnt erst am Ende Gewissheit über die Identität der Passagierin, als diese sich beim Ball von der Kapelle eben den Walzer wünscht, den Tadeusz den NS-Schergen verweigerte und dafür getötet wurde.

Weinbergs Musik hat für Lisas Szenen eine bewegt freitonale, arios-deklamatorische Struktur. Überwiegend melodisch-kantabel artikuliert sich die „Lagermadonna“ Marta. So wird sie von Lisa genannt, als sie Tadeusz und Marta ein letztes Rendezvous gewähren will. Barbara Dobrzanska vom Theater Karlsruhe trägt als Marta neben menschlicher Reife und sagenhaft gut gestützter Vokalisierung auch menschliche Versehrtheit in der Stimme. Die Lisa von Christina Bock zeigt unzerbrechliche Fülle und Klarheit von Diktion wie Gestaltungskraft. Im drastischen Kontrast dazu stehen die dumpf-derben Einwürfe der Aufseher und der sich immer wieder vor allem in slawischen Volksmusikidiomen artikulierenden Chöre der KZ-Häftlinge.
Gemessen an der dramaturgischen Wertigkeit der Lagergruppen ist der Chorpart nicht sonderlich umfangreich. Chordirektor Jörn Hinnerk Andresen und Anselm Weber haben gemeinsam das Kollektiv mit einer auch in längerer zurückhaltender Ruhe immer spürbaren Präsenz unterfüttert. Die Regie begibt sich vor allem mit dem Chor der Semperoper auf labiles Terrain. Wo kippt die Balance zwischen allzu glättend respektvoller Stilisierung und einer eher realistisch-deutlichen Darstellung, die den Ausnahmezustand des Lagerlebens mit stetiger Grausamkeit und Todesbedrohung nicht verkleinert?

Anselm Weber hat keine Angst vor Bildmächtigkeit, gliedert das Spielgeschehen sinnfällig und überlässt es trotzdem der Kraft seiner Zuschauer, sich die Drastik des Lageralltags zu imaginieren. Die Schiffschale von Katja Haß ist simultan auch KZ-Halle, in der Reisegesellschaft und Lagerinsassen eins werden, indem sie Bettina Walters zeitaffin stilisierte Kostüme wenden oder ablegen. Die aufgerüttelte Beklemmung wächst mit jeder Szene: Der Zeitkollaps zwischen Schiff und Lager wirbelt wie ein sich blitzartig verflüchtigender Alptraum.

Spiel und der musikalische Gestus von Christoph Gedschold, der „Die Passagierin“ bereits 2013 in Karlsruhe dirigierte, steigern vorbildlich die Synthese von Musik und Szene. Hier zeigt sich, worin Gedscholds beachtliche Stärken liegen. So genau liest er die Partituren, dass er bei der Realisierung immer dem individuellen Klang der jeweiligen Orchester trauen und diesen nutzen kann. Deshalb gelingt es ihm auch im schönheitsstarken Potenzial der Staatskapelle Dresden, durch Präzision des Rhythmus‘, der Proportionierung von Farben und die absolute musikalische Kongruenz zur Szene in jeder Sekunde den fahlen Hintergrund und Überbau von Weinbergs Oper packend zu vermitteln.

So beindruckend sind die beiden zentralen Frauen, dass sowohl der messerscharf charakterisierende Jürgen Müller (Lisas Ehemann Walter), der lyrisch-sympathische Markus Butter (Tadeusz) und die vielen hervorragenden kleineren Soli zwangsläufig abfallen. Das muss in dieser Oper so sein, die für den heutigen Stand der Bewusstmachung und Aufarbeitung der NS-Diktatur eines der wichtigsten musikalischen Bühnenwerke des 20. Jahrhunderts ist.

Roland H. Dippel

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